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Forschungsbericht

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Die Perspektive der Opfer<br />

Das fehlende familiäre soziale Bezugssystem ging oft Hand in Hand mit Äußerungen<br />

über eine Identitätskrise. Ein Opfer einer Entführung sagte zum Beispiel: „Wichtig ist,<br />

dass man ab und zu darauf achtet, wer man ist. Man vergisst das wegen der<br />

fehlenden Interaktion mit den Freunden und der Familie.“ Dieser Mann erzählte auch,<br />

wie wichtig es für ihn war, dass er ein Foto von sich selbst mit mehreren Freunden<br />

und Familienangehörigen bekam. Dies gab ihm ein gutes Gefühl, da es ihn daran<br />

erinnerte, „wer er war.“ Ebenso stellte sich heraus, dass es wichtig war, einen Spiegel<br />

zu besitzen. Bei Belagerungen ist diese Gefahr für die eigene soziale Identität im<br />

Allgemeinen von geringerer Bedeutung. Das heißt, die Polizei ist normalerweise vor<br />

Ort und die soziale Identität der Opfer wird oft durch das vertraute Privat- bzw.<br />

Arbeitsumfeld bestätigt. Die Opfer von Belagerungssituationen hatten auch in vielen<br />

Fällen die Möglichkeit, sich durch die Berichterstattung der Medien über die Belagerung<br />

zu informieren. Außerdem erwähnten alle Belagerungsopfer, dass ihre Geiselnehmer<br />

versuchten, mit den Medien Kontakt aufzunehmen, um die Berichterstattung<br />

über die Geiselnahme zu beeinflussen.<br />

Des Weiteren scheinen die Opfer von Entführungen die meiste Zeit über die<br />

Entstehung neuer Routineabläufe zu sprechen, im Durchschnitt etwa sechsmal pro<br />

Befragung. Dies variierte von morgendlichen Ritualen bis hin zum Führen eines<br />

Tagebuches. Ein Entführungsopfer drückte es folgendermaßen aus: „Ich war in der<br />

Lage, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Dies gab mir Frieden. Auf diese Weise<br />

konnte ich alles Mögliche erzählen und mich von bestimmten Gefühlen befreien.“<br />

Außerdem stellte sich heraus, dass die Opfer umso mehr über die Entstehung neuer<br />

Routineabläufe berichteten, je mehr sie das Gefühl der Isolation (r = 0,51) hatten und<br />

je mehr sie negative Gefühle gegenüber dem Geiselnehmer (r = 0,70) empfanden.<br />

Schließlich stellten wir auch fast alle Elemente der Phasen fest, die von Opfern<br />

durchlaufen werden und über die bereits Kentsmith (1982) berichtet hatte. Dies betraf<br />

z. B. Äußerungen über Langeweile, über das Zurückerinnern an verschiedenste<br />

Dinge, über das Fantasieren und Nachdenken darüber, was man alles unternehmen<br />

wollte, wenn man wieder frei sein würde. Die Opfer berichten auch oft über ihr<br />

Bewusstsein, dass sie sterben könnten (auch über ihre Gespräche mit Gott) und über<br />

körperliches Unbehagen, verursacht durch Nahrungs- und Flüssigkeitsmangel,<br />

Durchfall und Parasiten.<br />

4.2 Die Beziehung zum Täter<br />

Aus Tabelle 4.3 ist auch ersichtlich, dass alle Opfer über die positiven und negativen<br />

Aspekte von Kontakten mit dem Täter sprechen. Alle Opfer berichten z. B. über<br />

Aggressionen seitens des Täters; sie erwähnen aber auch regelmäßig positive<br />

Aspekte in Bezug auf diese Partei. Vor allem Entführungs- und Erpressungsopfer<br />

sprechen oft negativ über den Täter. Bemerkenswert ist, dass vor allem Opfer von<br />

Belagerungen normale soziale Interaktionen mit dem Geiselnehmer erwähnen. Dies<br />

lässt sich durch die Tatsache erklären, dass gerade in Belagerungssituationen das<br />

Opfer und der Täter intensive Kontakte haben. Es zeigte sich, dass sich diese soziale<br />

Interaktion bei Opfern von Entführungen und Opfern von Belagerungen etwas<br />

unterschied. Bei Entführungssituationen stellten wir fest, dass Opfer und Täter mehr<br />

tägliche soziale Interaktionen hatten, wohingegen die Interaktion zwischen Opfer und<br />

Täter bei Belagerungsfällen offensichtlich stärker auf den Versuch einer Lageinschätzung<br />

ausgerichtet war. Ein Entführungsopfer beschrieb die Interaktion mit dem<br />

Geiselnehmer folgendermaßen: „Ich lachte, ich redete über Frauen und trank mit den<br />

Burschen, und ich habe einigen das Schachspielen beigebracht. (...). Einmal habe ich<br />

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