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Forschungsbericht

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Die Perspektive der Opfer<br />

zwischen Opfern und Geiselnehmern entwickeln kann. Für gewöhnlich gilt sie als<br />

irrationale Reaktion auf eine extreme Stress- und Abhängigkeitssituation, die zu einer<br />

Art Dankbarkeit gegenüber den Geiselnehmern führt, weil man am Leben gelassen<br />

wird (Turner, 1985). Einige Wissenschaftler betonen, das Stockholm-Syndrom sei<br />

das Ergebnis unbewusster Mechanismen der Identifikation mit dem Geiselnehmer,<br />

bisweilen auch buchstäblich der Versuch, sich in die Person zu transformieren, die<br />

die Bedrohung erzeugt, um so den Stress abzubauen (z. B. Tinklenberg, 1982).<br />

Andere ziehen eine Parallele zu der extremen Abhängigkeit in der frühen Kindheit<br />

und entsprechender Regression in diese frühen Stadien (z. B. Ochberg, 1980b). Es<br />

wurde auch vorgebracht, es gebe zwei wichtige Voraussetzungen für das Auftreten<br />

des Stockholm-Syndroms: Die Geiseln und ihre Kidnapper müssten einen wesentlichen<br />

Teil ihrer Zeit in gemeinsamer Anwesenheit verbringen und die Geiseln dürften<br />

körperlich nicht misshandelt werden (z. B. Call, 1999). Traditionell – und entsprechend<br />

seiner Etikettierung – wird die Entwicklung einer positiven Beziehung<br />

zwischen Geiseln und ihren Kidnappern als „Syndrom“ betrachtet. Dies suggeriert,<br />

dass einige abnorme psychische Abläufe vonstatten gehen und dass die Entwicklung<br />

von positiven Gefühlen einer Geisel gegenüber dem Geiselnehmer als eine Art<br />

„psychischer Defekt“ gesehen werden sollte. Wilson und Smith (1999; vgl. auch<br />

Wilson, 2003) argumentieren, dass – bis zu einem gewissen Grad – die Entwicklung<br />

einer positiven Bindung zwischen Geiseln und ihren Geiselnehmern auf verhältnismäßig<br />

normale soziale Prozesse zurückzuführen sei. Sie führen an, der Grund,<br />

weshalb wir dies für irrational halten, sei der, dass es nicht unseren Erwartungen<br />

entspreche. Normalerweise sind unsere Erwartungen in Bezug auf Verhaltensweisen<br />

in bestimmten Situationen in einem Skript festgelegt. Skripte sind Ablaufmuster, die<br />

uns lenken, damit wir uns in einer bestimmten Situation oder Umgebung angemessen<br />

verhalten (Donald & Canter, 1992). Im Normalfall basieren Skripte auf<br />

Erfahrungen, wie z. B. Skripte für „Treffen und Grüßen“ oder für „Essen in einem<br />

Restaurant“. Individuen haben üblicherweise kein auf Erfahrung basierendes Skript<br />

für Krisensituationen. Soweit solche Skripte existieren, beruhen sie oft auf unrealistischen<br />

Darstellungen in den Medien, etwa in Filmen oder TV-Serien. Die Folge ist,<br />

dass beim tatsächlichen Kontakt zwischen Geiseln und ihren Kidnappern die<br />

Erwartungen nicht mit der Realität übereinstimmen. Einerseits erscheinen Kidnapper<br />

gewöhnlich nicht als „Monster“ sondern verhalten sich vielmehr bis zu einem<br />

gewissen Grad menschlich. Viele Geiseln sehen ihren Kidnapper vielleicht auch als<br />

„Opfer der Situation“, vor allem dann, wenn sie die Motive der Geiselnehmer nicht<br />

verurteilen, und wenn sie glauben, ihre Gefangenschaft sei kein gegen sie persönlich<br />

gerichteter Akt. In ähnlicher Weise können die Geiselnehmer zu der Einsicht<br />

gelangen, dass ihre „Verhandlungsmasse“ keine Sache ist, sondern aus Fleisch und<br />

Blut besteht und z. B. positive Seiten und eine Familie hat, die sich Sorgen macht.<br />

Wilson und Smith (1999) bezeichnen den Prozess, der sich aus den interpersonellen<br />

Prozessen ergibt und schließlich zu normalisierterer sozialer Interaktion zwischen<br />

Geiseln und Geiselnehmern führt, als script breakdown („Drehbuchaufstellung“). Dies<br />

weist darauf hin, dass einige positive Gefühle zwischen Geiseln und ihren<br />

Kidnappern nahezu unvermeidlich sind. Da das Knüpfen von Verbindungen zu den<br />

Geiselnehmern zu den Überlebenschancen der Geiseln beiträgt, könnte auch aus<br />

instrumentalen Gründen darauf zurückgegriffen werden. Dies lässt Zweifel aufkommen,<br />

ob man in jedem Fall von einem Syndrom sprechen sollte. Indikatoren für<br />

die tatsächliche Existenz abnormen Verhaltens sind Geiseln, die ihr eigenes<br />

Normen- und Wertesystem aufgeben und eine authentische emotionale Bindung zu<br />

ihren Kidnappern entwickeln, deren Funktion nicht nur das Überleben ist<br />

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