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Forschungsbericht

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Die Perspektive der Opfer<br />

Beginn der Geiselnahme eine akute Stressreaktion festzustellen ist, passen sich die<br />

Opfer umso mehr der Situation an, je länger der Zustand andauert. Implizitere<br />

Anpassungsmechanismen wie zum Beispiel Verdrängen treten im Allgemeinen in<br />

den frühen Phasen von Krisensituationen auf. Bei längerer Dauer gehen die Opfer zu<br />

expliziteren und bewussteren Durchhaltestrategien über, um mit der neuen Lage<br />

fertig zu werden (Kentsmith, 1982; Tinklenberg, 1982). Diese Durchhaltemechanismen<br />

sind im Allgemeinen darauf ausgerichtet, Stress abzubauen und<br />

wieder eine gewisse Kontrolle zu erlangen. So fangen beispielsweise Opfer bei<br />

längerer Gefangenschaft damit an, ein Tagebuch zu führen, ausführliche Pläne für<br />

die Zukunft zu schmieden oder Informationen über ihre Lage zu sammeln (Strentz &<br />

Auerbach, 1988). Es kann auch dazu kommen, dass die Opfer dazu übergehen, den<br />

Geiselnehmern beim Erreichen ihrer Ziele zu helfen (Tinklenberg, 1982). Die oben<br />

genannten Prozesse können natürlich in einer mehr oder weniger schnellen Folge<br />

ablaufen, und eine Rückentwicklung zu einer früheren Phase ist ebenfalls möglich.<br />

Außerdem gehen wir davon aus, dass diese Prozesse vor allem in lang andauernden<br />

Situationen auftreten, in denen das Opfer halbpermanent der direkten Kontrolle des<br />

Täters unterliegt. Dies würde bedeuten, dass sie eher in Entführungsfällen als in<br />

Belagerungssituationen (von verhältnismäßig kurzer Dauer) oder in Erpressungssituationen<br />

(ohne direkte bzw. permanente Kontrolle durch den Täter) vorkommen.<br />

Einer der psychologischen Prozesse, der insbesondere mit der Gefangennahme<br />

zusammenhängt, weist auf die positive Bindung hin, die sich oft zwischen Opfern und<br />

ihren Kidnappern entwickelt. Dieser viel diskutierte Aspekt der Erfahrungen von<br />

Geiseln kann wichtige Einflüsse auf die Verhandlungsstrategien haben und wird deshalb<br />

später noch ausführlich erörtert.<br />

2. Die Bindung zwischen Opfer und Geiselnehmer<br />

Insbesondere bei Belagerungen und Entführungen sind die Opfer und ihre Bewacher<br />

zum Zusammensein verurteilt. Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Geiseln<br />

viel Zeit in Anwesenheit ihrer Bewacher verbringen, dann dürfte es wahrscheinlich in<br />

gewissem Maß Kontakte zwischen ihnen und ihren Kidnappern geben. Nach den<br />

ersten hektischen Momenten werden die Geiseln und ihre Kidnapper im Laufe der<br />

Zeit anfangen, miteinander zu agieren und zu kommunizieren. Dies kann man auch<br />

als logische Konsequenz des fundamentalen menschlichen Bedürfnisses auffassen,<br />

zu anderen Personen gehören zu wollen (Baumeister & Leary, 1995). Generell wird<br />

davon ausgegangen, dass dieses Zusammengehörigkeitsbedürfnis in der Evolution<br />

begründet liegt, weil es für das Überleben vorteilhaft ist (Ainsworth, 1989). Daher<br />

kann es in lebensbedrohenden Situationen wie Geiselnahmen besonders hervortreten.<br />

Die positive Bindung, die in der Folge entstehen kann, ist bekannt unter dem<br />

Begriff Hostage Identification Syndrome (Turner, 1985; vgl. auch Wilson, 2003) oder<br />

populärer auch als das Stockholm-Syndrom (Ochberg, 180a; Strentz, 1982). Es<br />

wurde nämlich erstmals im Rahmen einer längeren Belagerung nach einem<br />

fehlgeschlagenen Bankraub 1973 in Stockholm beobachtet. Während der Geiselnahme<br />

entwickelte sich eine starke Freundschaft zwischen den beiden Geiselnehmern<br />

und ihren Geiseln. Diese Gefühle waren offensichtlich so stark, dass eine<br />

Geisel sich in einen der Geiselnehmer verliebte und eine sexuelle Beziehung aufnahm,<br />

die sogar noch über die Belagerung hinaus andauerte. Die Geisel weigerte<br />

sich auch, vor Gericht gegen ihre Geiselnehmer auszusagen. Von da an wurde das<br />

Stockholm-Syndrom zum Synonym für die starke emotionale Bindung, die sich<br />

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