Forschungsbericht
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Einleitung<br />
holländischen Ziegelsteinfabrikanten und Millionärs. In Belgien gab es die<br />
berüchtigten Entführungsfälle des jungen Anthony De Clerck und Paul van den<br />
Boeynants. In solchen Lagen wird weltweit immer mehr die Verhandlung als ein<br />
wirksames Mittel zur friedlichen Lösung von Krisensituationen angesehen. Oft sind<br />
andere Möglichkeiten zur Lösung des Konfliktes, wie z. B. der taktische Zugriff, nicht<br />
wünschenswert oder nicht hinnehmbar, weil das Leben von Menschen auf dem Spiel<br />
steht. Die Forschung zeigt, dass es in rund einem Prozent der Fälle bei Verhandlungen<br />
Verwundete oder Tote gibt, während beim taktischen Zugriff dieses Risiko<br />
über 70 Prozent beträgt (Greenstone, 1995). Verhandlungen sind außerdem fast<br />
unvermeidlich, wenn der genaue Aufenthaltsort von Tätern und Opfern unbekannt<br />
bleibt, wie dies oft bei Entführungen und Erpressungen der Fall ist.<br />
In der Regel erfordern Krisenvorfälle einen hohen Aufwand an Personal und Material.<br />
Insbesondere bei Belagerungssituationen hat das Isolieren und Immobilisieren erste<br />
Priorität. Die Einsatzzentrale setzt zur Absperrung des Tatorts Personal ein, entsendet<br />
ein Verhandlungsteam und alarmiert Interventionskräfte; für die kriminalpolizeilichen<br />
Ermittlungen sind die erforderlichen Kapazitäten bereitzustellen. Nachdem<br />
die Einsatzzentrale die Krisenlage stabilisiert hat, wird man nach einer Lösung<br />
suchen, mit der man verhindern kann, dass die angekündigten Drohungen in die Tat<br />
umgesetzt werden. Erste Priorität ist auf jeden Fall stets „das Leben der Geiseln zu<br />
retten“. Im Idealfall bleiben alle Beteiligten unverletzt. Zweite Priorität hat die Festnahme<br />
der Täter. In diesem Zusammenhang verfolgt die Verhandlung drei Ziele: Zeit<br />
zu gewinnen, Informationen zu sammeln und das Verhalten der Täter zu beeinflussen.<br />
4.1 Der Faktor Zeit<br />
Aus Sicht der zuständigen Behörden kommt es in der Anfangsphase sicherlich darauf<br />
an, Zeit zu gewinnen, um die Sicherungsmaßnahmen und organisatorische Aufgaben<br />
durchzuführen. Das Zeitgewinnen bringt zudem eine Reihe weiterer Vorteile. Zu<br />
Beginn des Vorfalls ist nämlich die Anspannung bei allen Parteien oftmals so groß,<br />
dass sie Informationen nicht hinreichend verarbeiten können und sie daher oft<br />
weniger gut durchdachte Entscheidungen treffen (vgl. McMains & Mullins, 2001).<br />
Hinzu kommt, dass im Laufe der Zeit die Parteien im Allgemeinen ihre Erwartungen<br />
an ein realistischeres Maß anpassen, was zu einer Annäherung der Standpunkte der<br />
beteiligten Parteien führt. Außerdem kommen sich die Parteien auch persönlich<br />
näher, da sie dann bereits häufiger Kontakte hatten. Die klassische Forschung zeigt,<br />
dass bereits der bloße Kontakt zur positiveren Bewertung einer anderen Person führt<br />
(Kontakthypothese, Zajonc, 1968). Anfangs werden oft die Beziehungen zwischen<br />
dem Verhandlungsführer der Polizei und dem Täter verbessert, was zu konstruktiven<br />
Verhandlungen beiträgt. Außerdem kommt es in vielen Fällen zu einer Beziehung<br />
zwischen Opfer und Täter, was die Überlebenschancen des Opfers erhöht (vgl.<br />
Kapitel 4).<br />
Möglichst viel Zeit zu gewinnen steht jedoch augenscheinlich im Widerspruch zu<br />
zahlreichen anderen Dingen. Das heißt, Krisenfälle sind – was Opfer, Polizei und<br />
Täter anbelangt – von einem hohen Zeitdruck geprägt. Aus der Sicht der Opfer besteht<br />
ihr Hauptanliegen darin, dass ihr Leben möglichst schnell gerettet wird. Für die<br />
Polizei spielt auch der Personal- und Mitteleinsatz eine Rolle. Für viele Geiselnehmer<br />
stellt der Zeitdruck ebenfalls ein Problem dar, da sie normalerweise ihre Forderungen<br />
möglichst schnell erfüllt haben möchten und – gewiss bei Entführungen und<br />
Erpressungen – die Wahrscheinlichkeit ihrer Entdeckung mindern wollen. Hinzu<br />
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