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Schutzlos hinter Gittern Abschiebungshaft in Deutschland - Pro Asyl

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4<br />

E<strong>in</strong>leitung<br />

n<br />

Mit der <strong>Abschiebungshaft</strong> setzt der Staat die Ausreisepflicht<br />

zwangsweise durch. Betroffen s<strong>in</strong>d Migrant<strong>in</strong>nen<br />

und Migranten, die seit längerem oder sogar vielen Jahren<br />

<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> leben und das Aufenthaltsrecht verloren<br />

oder nie e<strong>in</strong>s besessen haben. In <strong>Abschiebungshaft</strong> werden<br />

aber auch neu e<strong>in</strong>reisende <strong>Asyl</strong>suchende genommen die<br />

be reits bei ihrer E<strong>in</strong>reise von der Bundespolizei aufgegriffen<br />

werden. Obwohl die Betroffenen regelmäßig ke<strong>in</strong>e Straftat<br />

begangen haben, wird fundamental <strong>in</strong> ihre Freiheitsrechte<br />

e<strong>in</strong>gegriffen. PRO ASYL und das Diakonische Werk <strong>in</strong> Hessen<br />

und Nassau haben e<strong>in</strong>e bundesweite Recherche <strong>in</strong>itiiert mit<br />

dem Ziel, die Situation <strong>in</strong> deutschen <strong>Abschiebungshaft</strong>anstalten<br />

vor Ort <strong>in</strong> Augensche<strong>in</strong> zu nehmen. Im zweiten Halbjahr<br />

2012 haben die Autor/<strong>in</strong>nen 13 <strong>Abschiebungshaft</strong>anstalten<br />

besucht. Trotz <strong>in</strong>tensiver Bemühungen wurde e<strong>in</strong> Besuch von<br />

bayerischen Haftanstalten nicht gestattet. Der Zeitmangel,<br />

mit dem der verwehrte E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die bayerische Haftpraxis<br />

begründet wurde, ersche<strong>in</strong>t angesichts der rechtlich höchst<br />

umstrittenen Praxis <strong>in</strong> Bayern als vorgeschoben.<br />

Der vorliegende Bericht stellt den rechtlichen Rahmen der<br />

<strong>Abschiebungshaft</strong> dar (Kapitel I.) und dokumentiert die durch<br />

die Besuche identifizierten besonderen <strong>Pro</strong>blembereiche<br />

(Kapitel II.) sowie die jeweilige Situation <strong>in</strong> den besuchten<br />

Haftanstalten (III.).<br />

Das Themengebiet <strong>Abschiebungshaft</strong> bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

grundlegen Wandel. In kaum e<strong>in</strong>em Feld der Migrationspolitik<br />

hat sich – nach Jahrzehnten des lähmenden Stillstandes –<br />

so viel <strong>in</strong> so kurzer Zeit verändert. Während die Tendenz zur<br />

Inhaftierung von <strong>Asyl</strong>suchenden höchst besorgniserregend<br />

ist – s<strong>in</strong>d teilweise positive Entwicklungen zu beobachten:<br />

• Die obergerichtliche Rechtsprechung hat <strong>in</strong> den letzten<br />

drei Jahren zahlreiche Beschlüsse hervorgebracht, die<br />

das Verfahren zur Anordnung der <strong>Abschiebungshaft</strong> <strong>in</strong><br />

rechtsstaatliche Bahnen lenken. Dabei spielt der verfassungsrechtliche<br />

Anspruch auf rechtliches Gehör e<strong>in</strong>e<br />

zentrale Rolle. Der Druck der Gerichte, e<strong>in</strong> rechtsstaatliches<br />

Verfahren e<strong>in</strong>zuhalten, hat bereits jetzt zu e<strong>in</strong>er<br />

deutlichen Reduzierung von <strong>Abschiebungshaft</strong> geführt.<br />

Wird die Rechtsprechung konsequent umgesetzt, dürften<br />

die Haftzahlen nochmals zurückgehen. Die zurückgehenden<br />

Inhaftierungsfälle rechtfertigen kaum noch<br />

die hohen Kosten zur Aufrechterhaltung aller Haftanstalten.<br />

Die Landesregierung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> hat bereits angekündigt,<br />

dass sie prüfe, ob zu e<strong>in</strong>er Reduzierung der Kosten<br />

e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same E<strong>in</strong>richtung mit Brandenburg und<br />

dem Bund geschaffen werden kann. 2<br />

„Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist e<strong>in</strong><br />

besonders hohes Rechtsgut, <strong>in</strong> das nur aus wichtigen<br />

Gründen e<strong>in</strong>gegriffen werden darf.“ Bundesverfassungsgericht 1<br />

• Das EU-Recht 3 hat neue Maßstäbe gesetzt: Abschiebungshäftl<strong>in</strong>ge<br />

dürfen nicht länger mit Strafgefangenen<br />

zusammen <strong>in</strong>haftiert werden. Ob e<strong>in</strong>e Justizvollzugsanstalt<br />

überhaupt noch als <strong>Abschiebungshaft</strong> genutzt werden<br />

darf, ist unionsrechtlich mehr als fragwürdig – e<strong>in</strong>e<br />

Gerichtsentscheidung muss dies nun verb<strong>in</strong>dlich klären.<br />

Kommt es zu e<strong>in</strong>em Verbot, <strong>Abschiebungshaft</strong> <strong>in</strong> Justizvollzugsanstalten<br />

zu vollziehen, dann stellt sich für zehn<br />

Bundesländer die Frage, wie und wo sie <strong>Abschiebungshaft</strong><br />

durchführen werden.<br />

• Überproportional häufig werden <strong>Asyl</strong>suchende <strong>in</strong> <strong>Abschiebungshaft</strong><br />

genommen. Dies hängt mit dem sogenannten<br />

Dubl<strong>in</strong>-Verfahren zusammen, wonach die<br />

Zuständigkeit <strong>in</strong> der EU für <strong>Asyl</strong>verfahren geklärt wird.<br />

Mehrere Tausend <strong>Asyl</strong>suchende pro Jahr werden <strong>in</strong> andere<br />

EU-Länder abgeschoben – viele von ihnen geraten<br />

bereits bei ihrer E<strong>in</strong>reise nach <strong>Deutschland</strong> <strong>in</strong> <strong>Abschiebungshaft</strong>.<br />

In grenznahen Haftanstalten – wie <strong>in</strong> Rendsburg<br />

oder Eisenhüttenstadt – bef<strong>in</strong>den sich bis zu 90 % der<br />

Inhaftierten im Dubl<strong>in</strong>-Verfahren 4 . In anderen Gegenden<br />

s<strong>in</strong>d es nach Angaben von Beratungsstellen und Seelsorgern<br />

geschätzt regelmäßig 50 %. Diese Praxis steht<br />

rechtlich und aus humanitären Gründen stark <strong>in</strong> der Kritik.<br />

Wenn man diese Gruppe grundsätzlich nicht mehr <strong>in</strong> Ab -<br />

schiebungshaft nehmen würde, wären die <strong>Abschiebungshaft</strong>anstalten<br />

teilweise vollkommen unbesetzt.<br />

• H<strong>in</strong>zu kommt, dass das politische Bewusstse<strong>in</strong> um die Inhumanität<br />

der <strong>Abschiebungshaft</strong> gestiegen ist. In immer<br />

mehr Bundesländern wird diskutiert, ob <strong>Abschiebungshaft</strong><br />

noch als adäquates Mittel der Migrationspolitik angesehen<br />

werden kann. Sowohl die Koalition aus SPD, Grünen<br />

und SSW <strong>in</strong> Schleswig-Holste<strong>in</strong> als auch die rot-grüne<br />

Landesregierung <strong>in</strong> Niedersachsen haben erklärt, e<strong>in</strong>en<br />

Paradigmenwechsel <strong>in</strong> der Abschiebepolitik e<strong>in</strong>leiten zu<br />

wollen. „Wir halten Abschiebehaft grundsätzlich für e<strong>in</strong>e<br />

unangemessene Maßnahme und werden uns deshalb<br />

auf Bundesebene für die Abschaffung der Abschiebehaft<br />

e<strong>in</strong>setzen,“ 5 heißt es aus Kiel. „Ziel der rot-grünen<br />

Koalition ist es, Abschiebehaft überflüssig zu machen.<br />

Deshalb werden entsprechende Initiativen auf Bundesebene<br />

unterstützt" 6 , verlautet es aus Hannover.<br />

Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund stellt sich ganz grundlegend die<br />

Frage, wie man künftig mit dem Institut <strong>Abschiebungshaft</strong><br />

noch verfahren möchte. In dieser Umbruchsituation soll<br />

die vorliegende Dokumentation den Status Quo darstellen<br />

und die <strong>Pro</strong>blembereiche der <strong>Abschiebungshaft</strong> benennen.<br />

1. BVerfGE 10, 302, 322; 29, 312, 316.<br />

2. Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU, 2011 – 2016.<br />

3. Rückführungsrichtl<strong>in</strong>ie, RL 2008/115/EU.<br />

4. Laut Landesregierung Schleswig-Holste<strong>in</strong> waren im Jahr 2012 etwa 87% der Inhaftierten <strong>in</strong><br />

Rendsburg sog. Dubl<strong>in</strong> II Aufgriffsfälle der Bundespolizei.<br />

5. Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und SSW, 2012 – 2017.<br />

6. Koalitionsvertrag von SPD und Grünen, 2013 – 2018.

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