Schutzlos hinter Gittern Abschiebungshaft in Deutschland - Pro Asyl
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6.3 Suizide <strong>in</strong> <strong>Abschiebungshaft</strong><br />
Viele Abschiebungshäftl<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d verzweifelt darüber, dass sie<br />
wie Straftäter e<strong>in</strong>gesperrt werden. Die bevorstehende Abschiebung<br />
löst Schamgefühle gegenüber ihrer Familie und den Angehörigen<br />
im Herkunftsland aus. <strong>Abschiebungshaft</strong> an sich fügt<br />
den betroffenen Personen auch ohne e<strong>in</strong>e entsprechende Ausgangssituation<br />
erhebliches psychisches und physisches Leid zu.<br />
Dies belegen die Ergebnisse e<strong>in</strong>er europaweiten Studie des Jesuiten<br />
Flüchtl<strong>in</strong>gsdienstes aus dem Jahr 2010: 61 Die negativen<br />
Effekte auf die körperliche und seelische Gesundheit treten bereits<br />
nach vergleichsweise kurzer Zeit e<strong>in</strong>. Auslöser s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere<br />
die pr<strong>in</strong>zipielle Unsicherheit über die Dauer der Inhaftierung,<br />
Isolation von der Außenwelt und die Stigmatisierung<br />
als verme<strong>in</strong>tliche Krim<strong>in</strong>elle. 62 Die Mischung aus enttäuschten<br />
Hoffnungen, Angst und Scham setzt Abschiebungsgefangene<br />
unter e<strong>in</strong>en immensen Psychostress. 63 Depressionen bis h<strong>in</strong> zur<br />
Suizidalität können die Folge se<strong>in</strong>.<br />
Die „Antirassistische Initiative Berl<strong>in</strong>“ dokumentiert seit Jahren<br />
Todesfälle, die im Zusammenhang mit Abschiebungen<br />
aus <strong>Deutschland</strong> stehen. Darunter s<strong>in</strong>d auch 62 Personen, die<br />
sich <strong>in</strong> den Jahren 1993 – 2010 <strong>in</strong> deutscher <strong>Abschiebungshaft</strong><br />
selbst töteten. 64 Die Dunkelziffer an Selbstmordversuchen <strong>in</strong><br />
Haft dürfte um e<strong>in</strong> Vielfaches höher se<strong>in</strong>.<br />
Suizide <strong>in</strong> <strong>Abschiebungshaft</strong> – e<strong>in</strong>ige Fälle der letzten Jahre:<br />
• Mustafa Alcali hat sich am 27.06.2007 <strong>in</strong> der Justizvollzugsanstalt<br />
Preungesheim/Frankfurt am Ma<strong>in</strong> <strong>in</strong> der <strong>Abschiebungshaft</strong><br />
das Leben genommen. Er erhängte sich<br />
an se<strong>in</strong>em T-Shirt. Der pensionierte Facharzt für Psychiatrie<br />
(Dr. He<strong>in</strong>rich W.) hatte auf der Grundlage e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen<br />
diagnostischen Gesprächs bestritten, dass Mustafa<br />
Alcali suizidal sei, sondern stellte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gutachten<br />
zur “Reisefähigkeit” dessen psychische Erkrankung generell<br />
<strong>in</strong> Abrede. Mit den Ärzten, die Mustafa Alcali <strong>in</strong><br />
Hanau wochenlang behandelt hatten, nahm der Psychiater<br />
ke<strong>in</strong>en Kontakt auf. Das Gutachten führte dazu, dass<br />
Mustafa Alcali am 22.06.2007 zur Vollstreckung der Abschiebung<br />
<strong>in</strong> die Justizvollzugsanstalt Frankfurt gebracht<br />
wurde. Dort nahm er sich am 27.06.2007 das Leben.<br />
• Am 7. März 2010 erhängte sich der 25-jährige georgische<br />
Abschiebungshäftl<strong>in</strong>g David M. im Zentralkrankenhaus<br />
für Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Hamburg. Anstaltspsychologen hatten<br />
mit dem Häftl<strong>in</strong>g, dem die Zurückschiebung nach Polen<br />
drohte, Gespräche geführt und e<strong>in</strong>e Suizidgefahr nicht<br />
ausgeschlossen. Er erhängte sich <strong>in</strong> der Video-überwachten<br />
Krankenzelle.<br />
• Nach achtwöchiger <strong>Abschiebungshaft</strong> erhängte sich am<br />
16. April 2010 die 34 Jahre alte <strong>in</strong>donesische Staatsbürger<strong>in</strong><br />
Yeni P., die mit Unterbrechungen seit 1994 <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><br />
lebte, <strong>in</strong> der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand <strong>in</strong><br />
Hamburg.<br />
• Am 28. Juni 2010 wurde Slawik C. im Kreishaus <strong>in</strong> W<strong>in</strong>sen<br />
festgenommen und <strong>in</strong> <strong>Abschiebungshaft</strong> nach Hannover-Langenhagen<br />
gebracht. Dort erhängt sich der 58<br />
Jahre alte Mann, der seit fast elf Jahren mit Ehefrau und<br />
Sohn <strong>in</strong> Jesteburg lebte, am 2. Juli. Die Inhaftierung erfolgte,<br />
als Slawik C. bei der Ausländerbehörde vorsprach,<br />
um se<strong>in</strong>e Duldung zu verlängern. Die Abschiebung sollte<br />
unter Inkaufnahme e<strong>in</strong>er Trennung von se<strong>in</strong>er Frau<br />
erfolgen, für die bis heute ke<strong>in</strong> Passpapier vorliegt. Slawik<br />
C. erhielt lediglich Beruhigungsmittel. Es fehlte e<strong>in</strong>e<br />
fachkundige mediz<strong>in</strong>ische Begleitung, welche die akute<br />
Suizidalität des Flüchtl<strong>in</strong>gs erkannt hätte. Zwei Tage vor<br />
se<strong>in</strong>em Suizid wurde er unter besondere Beobachtung<br />
gestellt und verletzte sich dort bereits selbst an den Armen<br />
und am Kopf, kehrte am folgenden Tag jedoch <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>e Zelle zurück. Es fehlte offenbar e<strong>in</strong>e fachkundige<br />
mediz<strong>in</strong>ische Betreuung, die die akute Selbstmordgefährdung<br />
des Flüchtl<strong>in</strong>gs erkannt und zu e<strong>in</strong>er Haftentlassung<br />
hätte führen können.<br />
Bei jedem neu bekannt werdenden Suizid <strong>in</strong> der <strong>Abschiebungshaft</strong><br />
gibt es lediglich Betroffenheitsbekundungen und<br />
Lippenbekenntnisse seitens der Verantwortlichen. Diesen steht<br />
ke<strong>in</strong>e adäquate Bereitschaft gegenüber, notwendige Reformen<br />
durchzuführen. Nach wie vor ist die <strong>Abschiebungshaft</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> ke<strong>in</strong>eswegs die ultima ratio zur Durchsetzung<br />
e<strong>in</strong>er bestehenden Ausreisepflicht. Sie wird noch immer zu<br />
schnell beantragt und oft nach oberflächlicher richterlicher<br />
Prüfung verhängt, ohne dass Alternativen überhaupt geprüft<br />
werden – mit tragischen Konsequenzen.<br />
Graffiti im ehemaligen Polizeigefängnis Klapperfeld <strong>in</strong> Frankfurt am Ma<strong>in</strong>,<br />
das von den 1980er-Jahren bis vermutlich 2003 als Abschiebungsgewahrsam<br />
genutzt wurde. Um den Erhalt des Klapperfelds als Geschichtsort bemüht<br />
sich die Initiative „Faites votre jeu!“.<br />
© PRO ASYL/ Angelika Calmez<br />
61. Jesuiten Flüchtl<strong>in</strong>gsdienst <strong>Deutschland</strong>, Quälendes Warten – Wie <strong>Abschiebungshaft</strong> Menschen<br />
krank macht, Berl<strong>in</strong> 2010.<br />
62. Jesuiten-Flüchtl<strong>in</strong>gsdienstes, Quälendes Warten,Wie <strong>Abschiebungshaft</strong> Menschen krank<br />
macht, 2010.<br />
63. Kai Weber, Suizid <strong>in</strong> <strong>Abschiebungshaft</strong>, Grundrechte-Report 2011, S. 61 ff.<br />
64. Antirassistische Initiative Berl<strong>in</strong>, Dokumentation „Bundesdeutsche Flüchtl<strong>in</strong>gspolitik und ihre<br />
tödlichen Folgen“.