Schutzlos hinter Gittern Abschiebungshaft in Deutschland - Pro Asyl
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Da Erkrankungen weder wirksam diagnostiziert noch behandelt<br />
werden können, wenn Patient/<strong>in</strong>nen und Ärzt/<strong>in</strong>nen nicht<br />
mite<strong>in</strong>ander kommunizieren können, ist es unumgänglich,<br />
die gerade <strong>in</strong> diesem äußerst sensiblen Bereich notwendigen<br />
Dolmetscher/<strong>in</strong>nen zur Verfügung zu stellen.<br />
6.2 Umgang mit psychischen Erkrankungen<br />
In der e<strong>in</strong>schlägigen Fachliteratur wird geäußert, dass 50<br />
– 80 % der Flüchtl<strong>in</strong>ge traumatisiert s<strong>in</strong>d. Untersuchungen<br />
zur Ausbildung von Traumafolgestörungen nach Flucht, Folter<br />
und staatlicher Verfolgung gehen allgeme<strong>in</strong> von hohen<br />
PTBS-Prävalenzraten 49 aus. (Unter Lebenszeitprävalenz für<br />
PTBS versteht man die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit im Laufe des Lebens<br />
an e<strong>in</strong>er PTBS zu erkranken.) Nach Neria et al. 50 f<strong>in</strong>den<br />
sich bei Verfolgten und ehemals <strong>in</strong>haftierten Flüchtl<strong>in</strong>gen<br />
Raten von 50 – 70 %. Ähnlich hohe Zahlen berichten K<strong>in</strong>zie<br />
et al. 1990 51 und Ramsay et al. 1993 52 für politische Flüchtl<strong>in</strong>ge.<br />
Das Behandlungszentrum für Folteropfer Berl<strong>in</strong> gibt die<br />
Lebenszeitprävalenz der PTBS unter Flüchtl<strong>in</strong>gen mit 17 bis<br />
65 % an, abhängig von weiteren Stressfaktoren, die nach der<br />
Migration zutage treten, oder erneuten traumatischen Ereignissen<br />
nach der Flucht, die den Erholungs-, Verarbeitungsund<br />
Kompensationsprozess bee<strong>in</strong>trächtigen. 53<br />
Die Bundesländer haben im Rahmen der Großen Anfrage von<br />
Bündnis 90/Die Grünen im H<strong>in</strong>blick auf die Erkennung von<br />
besonders schutzbedürftigen Gruppen (<strong>in</strong>sbesondere Traumatisierte)<br />
wie folgt geantwortet:<br />
Erkennung von besonders schutzbedürftigen Gruppen<br />
(<strong>in</strong>sbesondere Traumatisierte): 54<br />
• Baden-Württemberg: Sämtliche Abschiebungshäftl<strong>in</strong>ge<br />
werden bei ihrer Aufnahme e<strong>in</strong>er ärztlichen Untersuchung<br />
unterzogen. Bei Auffälligkeiten werden die Personen<br />
erforderlichenfalls e<strong>in</strong>em Psychiater vorgestellt.<br />
• Bayern: Im Rahmen der Zugangsbehandlung der Hafte<strong>in</strong>richtung<br />
erfolgt auch e<strong>in</strong>e mediz<strong>in</strong>ische Untersuchung<br />
aller Abschiebungshäftl<strong>in</strong>ge.<br />
• Berl<strong>in</strong>: Zunächst können schutzbedürftige Personen<br />
bei der Aufnahme <strong>in</strong> den Gewahrsam durch Feststellung<br />
der Personalien erkannt werden. Weiterh<strong>in</strong> besteht die<br />
Möglichkeit, Angaben bei der freiwilligen E<strong>in</strong>gangsbefragung<br />
bzw. bei e<strong>in</strong>er Untersuchung durch den Polizeiärztlichen<br />
Dienst zu machen.<br />
• Brandenburg: In Brandenburg wird durch die Hafttauglichkeitsuntersuchung<br />
und das Erstgespräch bei Beg<strong>in</strong>n<br />
der Haft auf spezielle gesundheitliche Notwendigkeiten<br />
aufmerksam gemacht und ärztliche Betreuung im Rahmen<br />
des <strong>Asyl</strong>bLG angeboten.<br />
• Bremen: Durch das Aufnahmeverfahren im Abschiebungsgewahrsam<br />
ist sichergestellt, dass schutzbedürftige<br />
Personen ggf. erkannt und durch den Polizeiarzt<br />
untersucht werden. Erforderlichenfalls werden den Abschiebungshäftl<strong>in</strong>gen<br />
von e<strong>in</strong>er Sozialarbeiter<strong>in</strong> des Sozialen<br />
Dienstes Betreuungs- und Hilfsmaßnahmen zuteil.<br />
• Hamburg: E<strong>in</strong>e Betreuungsbedürftigkeit wird im Rahmen<br />
der mediz<strong>in</strong>ischen Zugangsuntersuchung und des<br />
Aufnahmegesprächs und der weiteren Gespräche erkannt.<br />
• Hessen: Es wird immer e<strong>in</strong> Zugangsgespräch durch den<br />
Sozialdienst geführt. Hiernach werden erkennbar erforderliche<br />
Maßnahmen unverzüglich angeordnet. Weiterh<strong>in</strong><br />
ist die mediz<strong>in</strong>ische Versorgung nach erfolgter ärztlicher<br />
Aufnahmeuntersuchung durch den mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Dienst gewährleistet.<br />
• Mecklenburg-Vorpommern: Es gibt e<strong>in</strong> Sofortgespräch<br />
bei E<strong>in</strong>treffen <strong>in</strong> der JVA. Es gibt e<strong>in</strong> Zugangsgespräch <strong>in</strong><br />
der JVA, dieses erfolgt <strong>in</strong>nerhalb der ersten zwei Stunden<br />
nach Zuführung. Das mediz<strong>in</strong>ische Aufnahmegespräch<br />
erfolgt so schnell wie möglich.<br />
• Niedersachsen: Es erfolgen Aufnahmegespräche und<br />
ärztliche Zugangsuntersuchungen als geeignete Maßnahmen<br />
zur Erkennung besonders schutzbedürftige<br />
Gruppen.<br />
• Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen: Durch das Aufnahmeverfahren<br />
mit <strong>in</strong>tensiven Gesprächen über die persönliche und gesundheitliche<br />
Situation des Abschiebungsgefangenen –<br />
bei Bedarf unter H<strong>in</strong>zuziehung von Dolmetschern – werden<br />
schutzbedürftige Personen erkannt.<br />
• Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz/Saarland: Identifizierung erfolgt durch<br />
die ärztliche Untersuchung zur Gewahrsamsfähigkeit<br />
vor der Inhaftierung sowie der erneuten ärztlichen E<strong>in</strong>gangsuntersuchung<br />
und des mit dem Sozialdienst geführten<br />
Erstgespräches unmittelbar nach der Aufnahme.<br />
• Sachsen: Erkenntnisse werden aus der mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Aufnahmeuntersuchung, der Suizidprophylaxe sowie<br />
dem Zugangsgespräch <strong>in</strong>sbesondere mit dem Sozialdienst<br />
gewonnen und entsprechende Maßnahmen e<strong>in</strong>geleitet.<br />
49. Als Traumafolgestörungen ist nicht nur PTBS zu nennen, sondern beispielsweise auch Sucht,<br />
Somatisierung oder Depression. Bei diesen Konstellationen ist die Traumatisierung noch schwerer<br />
zu erkennen und bedarf e<strong>in</strong>schlägiger, diagnostischer Erfahrung.<br />
50. Neria, Y.; Solomon, Z., G<strong>in</strong>zburg, K.; Dekel, R.; Ohry, A.: Posttraumatic residues of captivity<br />
2000.<br />
51. K<strong>in</strong>zle, The prevalence of posttraumatic stress disorder and its cl<strong>in</strong>ical significance among<br />
south-east Asian refugees.<br />
52. Ramsay et al. 1993 Psychiatric morbidity <strong>in</strong> survivors of organizes state violence <strong>in</strong>clud<strong>in</strong>g<br />
torture.<br />
53. Flatten, G.; Gast, U.; Hoffmann, A.; Liebermann, P.; Reddemann, L.; Siol, T.; Wöller, W.; Petzold,<br />
E.R. 2004: Posttraumatische Belastungsstörung: Leitl<strong>in</strong>ie und Quellentext. In diesem Standardwerk<br />
f<strong>in</strong>den sich auch weitere Untersuchungen zur Epidemiologie und Prävalenz von Traumafolgestörungen<br />
nach spezifischen Formen der Traumatisierung.<br />
54. Große Anfrage von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Situation <strong>in</strong> der <strong>Abschiebungshaft</strong>. Antwort<br />
der Bundesregierung vom 04.09.2012, Bundestagsdrucksache 17/7442., S. 96.