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Roman, eine Erzählung, ein Theaterstück von Elfriede Jelinek gerät, wird er es beiseite<br />

legen oder lesen, und wenn es ihm gefällt, wird er mehr lesen von ihr, und er weiß schon, er<br />

wird Zeit brauchen und jeden Satz zwei Mal lesen müssen, nicht, weil die Sätze schwierig<br />

sind, sondern weil so viel in ihnen passiert. Elfriede Jelineks Prosa ist niemals nur Elfriede<br />

Jelineks Prosa. Sie fängt Wörter und Melodien ein, mit denen wir aufgewachsen sind, die<br />

uns so vertraut sind, die so sehr zu unserer Ausstattung gehören, dass wir sie nicht sehen.<br />

Melodien ist das falsche Wort. Es sind Tonfälle. Elfriede Jelinek hört sehr gut und ihre wache<br />

Intelligenz schärft dieses Gehör noch einmal. Niemand hat so früh die Plastiksprache der<br />

Jugendkultur vorgeführt wie Elfriede Jelinek und niemand hat sich so intensiv mit der<br />

falschen Gefühligkeit unserer Umgangssprache und der der großen deutschen Philosophie<br />

des zwanzigsten Jahrhunderts auseinandergesetzt wie Elfriede Jelinek.<br />

Elfriede Jelinek wird wahrgenommen als Kritikerin, als oppositionelle Intellektuelle, als<br />

Einklägerin politischer Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit. Das ist alles richtig.<br />

Das ist so richtig, dass sogar Elfriede Jelinek selbst immer wieder an diese Rolle glaubte. Sie<br />

war - oder ist sie es noch? - Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs. Das hatte<br />

einen kuriosen Charme als sie als Klimtsche Schönheit die Wiener Öffentlichkeit verwirrte.<br />

Sie wurde von der österreichischen Rechten angefeindet wie niemand sonst. Aber es ging<br />

dabei weniger um ihre politischen Auffassungen. Haider und seine Kameraden hassten und<br />

hassen die Frau. Sie hassen die Wachheit, die gespannte Aufmerksamkeit, mit der Elfriede<br />

Jelinek den Aufstieg der vulgär-charmierenden Niedertracht Haiders beobachtete. Sie<br />

würden Elfriede Jelinek weniger hassen, wenn sie ihnen nicht auch das Spiegelbild ihrer<br />

Mannsrolle entgegen hielte. Kein Quadratzentimeter dieser Spezies, der von Elfriede Jelinek<br />

nicht bis hinein ins Knochenmark seziert und der Öffentlichkeit vorgeführt wurde.<br />

Sie ist unerbittlich. Sie lässt sich nicht erweichen. Ihre großen, schön bewimperten Augen<br />

blicken das Schreckliche an und verfolgen jede seiner Bewegungen. Sie schließt ihre Augen,<br />

um sich in Erinnerung zu rufen, um sich vorzustellen, was sie gesehen hat. Sie lässt nicht<br />

nach. Ihr Griff lockert sich nicht. Sie verbeißt sich. Sie tut das, obwohl sie weiß, dass das<br />

selbst ihren Freundinnen oft zuviel wird, dass sie ihr mehr Lockerheit wünschen, etwas<br />

Entspannung, Lässigkeit. Aber nichts ist Elfriede Jelinek ferner als Lässigkeit. Sie hat Witz<br />

und sie lacht gerne, aber das Lässige liebt sie nicht.<br />

Elfriede Jelinek wurde am 20. Oktober 1946 in Mürzzuschlag in der Steiermark geboren.<br />

Man muss daran erinnern, um sie zu begreifen. Es gab keinen Nationalsozialismus mehr, als<br />

sie geboren wurde. Aber sie wuchs unter Nazis auf. Diese Generation erfuhr, als sie der<br />

Kindheit entwuchsen, dass ihre lieben Eltern, dass der Lieblingsonkel, dass die geliebte<br />

Tante begeisterte Anhänger der Idee gewesen waren, Juden, Nicht-Arier, alles "unwerte<br />

Leben" auszurotten, um Platz zu schaffen für die eigene Art. Es waren einem - dank der<br />

Reeducation - andere Ideale nahe gebracht worden, aber im intimen Familienleben, da, wo<br />

das Gemüt sich heranbildet, da galten bei der Mehrheit der Bevölkerung noch die<br />

Vorstellungen der Nazis. Sie umstanden einen mit elterlicher Autorität. Sie wiesen einen ins<br />

Leben ein. Sie sagten, was richtig war und was falsch. Sie taten es mit kräftigstem<br />

Selbstbewusstsein. Ihr Glaube an die eigene Urteilskraft schien ungebrochen. Sie<br />

signalisierten ihren Kindern, dass "man es zwar nicht sagen dürfe, aber was wahr ist, bleibt<br />

wahr", die Nazis immerhin Arbeitsplätze geschaffen und die Kriminalität abgeschafft hätten.<br />

Man versteht diese Generation nicht, wenn man ihren Konflikt mit den Eltern nur als<br />

Generationenkonflikt begreift. Es ging um etwas ganz anderes. Jeder Text von Elfriede<br />

Jelinek macht das deutlich. Es geht nicht um uns und die Nazis. Es geht um den Nazi in<br />

uns. Diese Generation hat die nationalsozialistischen Ideen der Eltern als einen Inkubus<br />

erfahren. Sie hatten die Eltern geliebt und mussten feststellen, dass die sie infiziert hatten<br />

mit dem NS-Virus und dass sie ihn durch die Liebe übertragen hatten. Es ist diese Erfahrung<br />

und nicht soziologische Schulung, die Elfriede Jelinek zu einer der kältesten<br />

Beobachterinnen des menschlichen Liebeslebens gemacht hat.<br />

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