Vortrag Prof. Dr. Rauschenbach (PDF, 59 KB) - Familienfreundliche ...
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Thomas <strong>Rauschenbach</strong><br />
Familie als Bildungsort – Bildungsorte für Familien.<br />
Herausforderungen für eine moderne Familienbildung 1<br />
(Es gilt das gesprochene Wort)<br />
Es gärt und rumort in Sachen Familie in unserem Land. Das ist unübersehbar. So viel öffentliche<br />
Aufgeregtheit, so viel Kontroverse, so viel Diskussion in den Medien gab es meines<br />
Wissens um die Institution Familie und ihr Beiwerk in Deutschland noch nie – um Erziehung<br />
und Kinder, um geborene und nicht-geborene Kinder (also die drohende „kinderlose“ Gesellschaft),<br />
um Elternschaft und Elternkompetenz, um Generationen und Generationengerechtigkeit<br />
und vieles mehr. Das weiche Thema Familie ist salonfähig geworden, ist zu einem<br />
Schlüssel-, ja gar zu einem Zukunftsthema der großen Politik aufgestiegen. Und das nicht<br />
nur zufällig, keineswegs als geschickter Schachzug eines guten Medien- und Politik-<br />
Marketings, sondern als Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Verständigungs- und Orientierungsbedarfs,<br />
einer notwendigen Neujustierung in Sachen Familie.<br />
Allerdings geht es dabei bisweilen wild durcheinander, vieles wird in einen Topf geworfen,<br />
anderes bizarr herausgegriffen und anschließend dramatisch überbewertet, einfache Lösungen<br />
werden ebenso propagiert wie Scheinlösungen, da die damit einhergehenden Nebenwirkungen<br />
und Kollateralschäden nicht beachtet werden. Es fällt bisweilen schwer, den Ü-<br />
berblick zu behalten, die richtigen und wichtigen Fragen von den schmückenden Beiwerken<br />
zu trennen, das undurchdringbare Gewirr von gefühlter Wirklichkeit im „Dunkel des gelebten<br />
Augenblicks“, den eigenen subjektiven Erfahrungen und Eindrücke wahrzunehmen und im<br />
Lichte gemessener Wirklichkeit neu zu bewerten.<br />
Es scheint aber dennoch zwei Lager zu geben: Werfen sich die einen bei dem kleinsten artikulierten<br />
Zweifel unbeirrbar schützend vor die gesellschaftliche Urkeimzelle Familie, um sie<br />
pflichtbewusst gegen alle mentalen und realen Bedrohungen von außen zu verteidigen, in<br />
dem sie an die unbestreitbare Bedeutung und den gar nicht hoch genug einzuschätzenden<br />
Wert der Familie für Individuum und Gesellschaft erinnern, weisen die anderen mit empirisch<br />
belastenden Befunden und kaum bestreitbaren Fakten nach, dass es um die Familienwirklichkeit<br />
nicht mehr zum besten steht. Stichworte wie sinkende Geburtenjahrgänge, rückläufige<br />
Anteile an Zwei-Generationen-Haushalten, eine nach wie vor zurückgehende Zahl von<br />
Ersteheschließungen und steigende Scheidungszahlen bzw. fragiler gewordene Partner-<br />
1 <strong>Vortrag</strong> auf der Abschlussveranstaltung „Aktionsprogramm Familie – Förderung der Familienbildung“<br />
der Landesstiftung Baden-Württemberg am 04.10.06 in Stuttgart.<br />
1
schaften sowie vielfach ökonomisch prekäre Ein-Eltern-Familien sind diesbezüglich untrügliche<br />
Indizien, die einen als interessierten Beobachter angesichts dieses Zustandes um die<br />
Zukunftsfähigkeit der Institution Familie bangen lassen müssen, einem zumindest intuitiv klar<br />
machen, dass es wohl nicht mehr länger hilft, beim Thema Familie sich einfach der Devise<br />
„alles wird gut“ zu verschreiben oder aber wie Kinder im Wald einfach zu versuchen, die<br />
Angst machende Stille und die Düsterkeit des Dickichts durch Pfeifen zu überspielen. Die<br />
Lage ist komplizierter.<br />
Deshalb haben, wie man es auch dreht und wendet, im Grunde genommen beide Seiten<br />
recht, die praktizierenden „Familienschützer“ genauso wie die nüchternen und ernüchternden<br />
Familienbeobachter. Einerseits gibt es auch im 21. Jahrhundert keine ernsthafte Alternative<br />
zur Lebensform Familie, gibt es keine Lebens- und Versorgungsgemeinschaft jenseits von<br />
Partnerschaft und Elternschaft, die sich in modernen Gegenwartsgesellschaften abzeichnet<br />
oder gar in nennenswertem Umfang etabliert hätte. Familie ist und bleibt vorerst die einzige<br />
Beziehungskonstellation, in der es der Gattung Mensch einigermaßen erfolgreich gelungen<br />
ist, die komplizierten Prozesse des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, der Paarbildung<br />
und Fortpflanzung, der sozialen, emotionalen und materiell-dinglichen Selbstversorgung, der<br />
sozialen Sicherheit, Verlässlichkeit und der basalen Solidarität, der wechselseitigen Anteilnahme,<br />
der Anerkennung, der emotionalen Zuwendung und des Vertrauens im Regelfall zu<br />
bewältigen.<br />
Andererseits sind aber zugleich auch Auflösungserscheinungen, sind Erosionsschäden am<br />
Idealbild der Familie unverkennbar. Die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen<br />
öffentlich proklamierter und empirisch realisierter Familie, zwischen dem Familienwunschbild<br />
und der Familienwirklichkeit wird eher größer als kleiner. Nur stichwortartig einige<br />
Zahlen:<br />
• Lebten 1972 in der Bundesrepublik noch 55 Prozent der Bevölkerung in Haushalten mit<br />
mindestens einem Kind unter 18 Jahren, so war dies 32 Jahre später, also 2004, nur<br />
noch bei 40 Prozent der Bevölkerung der Fall. Oder:<br />
• Lag die Zahl der Scheidungen 1970 im Westen bei 76.500 pro Jahr, so stieg sie bis zum<br />
Jahr 2004 auf 213.700 in ganz Deutschland. Anders formuliert: Lag die Scheidungswahrscheinlichkeit<br />
für die West-Ehen, die 1960 geschlossen wurden, bei rund 14 Prozent, so<br />
erhöhte sie sich bei den 2004er-Ehen in West und Ost auf über 40 Prozent – deutlich<br />
mehr als jede dritte Ehe ist somit von Scheidung bedroht. Oder:<br />
• Wurden 1970 in der BRD und DDR zusammen noch über 1 Mio. Kinder pro Jahr geboren<br />
(1964 waren es sogar als Höchststand 1,36 Mio.), so lag die Zahl 2004 bundesweit nur<br />
noch bei etwas über 700.000. Demnach kamen 1970 noch 13,4 Geborene auf 1.000 Ein-<br />
2
wohner, während dieser Wert 2004 nur noch bei 8,6 lag. Und nach den Prognosen der<br />
amtlichen Statistik wird die Geburtenzahl in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter<br />
sinken bis auf eine Größenordnung von unter 600.000 pro Jahr.<br />
Diese wenigen Daten machen die prekäre Entwicklung deutlich sichtbar. Sie haben mit dazu<br />
beigetragen, dass sich in den letzten Jahren in Sachen Familie und Familienpolitik einen Paradigmenwechsel<br />
abzeichnet. Unter dem Strich heißt das: Die Wahrscheinlichkeit, in der<br />
stürmischen See des Alltagslebens im 21. Jahrhundert unter den sich erheblich veränderten<br />
Rahmenbedingungen unversehrt das Familienbild des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur zu<br />
bewahren, sondern als gelebte Familie auch realisieren zu können, nimmt unverkennbar ab.<br />
Im Kern geht es deshalb aus meiner Sicht in Sachen Familie um zwei zentrale Herausforderungen:<br />
• Erstens gilt es die Kluft zwischen dem Familienideal und der Familienrealität nicht noch<br />
dadurch größer werden zu lassen, in dem man unbeirrt wie Sisyphos versucht, die empirische<br />
Familie wieder näher an dem Ideal anzupassen (das haben wir in Deutschland zu<br />
lange vergeblich versucht), sondern in dem man vielmehr genau umgekehrt ein neues,<br />
realistisches, nicht-resignatives Leitbild Familie im Lichte der veränderten Rahmenbedingungen<br />
und der heutigen Familienwirklichkeit zu entwickeln versucht und auf diese Wiese<br />
realitätsnäher und auch etwas wetterfester wird (da man auch an nicht-erfüllbaren Ansprüchen<br />
scheitern kann).<br />
• Zweitens muss die Frage beantwortet werden, wie es gelingen kann, Familie unter den<br />
gegenwärtig abverlangten Vorzeichen moderner Lebensführung lebbar zu machen, unter<br />
Kontextbedingungen also, die sich mit Stichworten wie Mobilität, Flexibilität, Globalisierung,<br />
Individualisierung, Entstandardisierung von Lebensformen, erodierende Milieus und<br />
wegfallende ideologische Gehäuse umschreiben lassen. Oder anders gefragt: Was können<br />
Staat und Gesellschaft dazu beitragen, Familie zukunftstauglich zu machen? Das wäre<br />
jedenfalls, davon bin ich überzeugt, der beste Weg, um zu vermeiden, dass das standhafte<br />
Festhalten an einem kontextfreien Familienideal nicht selbst zum Problem wird und<br />
so ungewollt zu einer Implosion, zu einem inneren Zerfall der Familie beiträgt.<br />
Wer etwas für Familien tun will, muss erstens verstärkt über das Image, über die impliziten<br />
Vorstellungen, Bilder und Idealisierungen von Familie nachdenken und diese kritisch auf den<br />
Prüfstand stellen, muss zweitens die veränderten Familienrealitäten – ob sie uns nun gefallen<br />
oder nicht – zur Kenntnis nehmen und die damit einhergehenden Zeichen der Zeit erkennen,<br />
muss drittens realisieren, dass Familien für Kinder Geländer der Lebensführung sind,<br />
dass Familien aber auch selbst Geländer der Lebensführung benötigen – und beides prekär<br />
3
geworden ist, muss viertens nüchtern die Logik und den Eigensinn der bisherigen deutschen<br />
Familienpolitik und die damit erzielten tastsächlichen Wirkungen, aber auch die damit einhergehenden<br />
nicht-intendierten Nebenwirkungen beachten (viel monetäre Unterstützung und<br />
wenig Infrastrukturförderung bei weitestgehender Nicht-Einmischung, was sich vorerst als<br />
eher suboptimale Strategie erweist) und muss schließlich fünftens im Blick behalten, dass<br />
die natürlichen Quellen der familieninternen, intergenerativen Weitergabe von Eltern an ihre<br />
Kinder, also der Tradierung von Familienkulturen, Familienwerten und der Fähigkeit, eine<br />
Familie bilden zu können, nach und nach zu versiegen beginnen, zumindest so schwach zu<br />
werden drohen, dass der Generationentransfer allein auf diese Weise der Überlieferung, des<br />
Zufälligen, des anheimgestellten Privaten kaum am Leben zu halten sein wird (das fängt an<br />
bei den Alltags- und Haushaltskompetenzen, reicht über die Erziehungsvorstellungen und<br />
-praktiken und geht bis zu den eigenen Ansichten und Vorbilder hinsichtlich verlässlicher<br />
Partnerschaft und selbstverständlicher Elternschaft).<br />
Oder anders formuliert: Wer glaubt, die Familie vor allem dadurch zu schützen, dass man<br />
sich Kritik an ihrem Zustand verbietet, möglichst wenig in sie hineinwirkt, sie aber faktisch in<br />
einer Art Nicht-Einmischungs-Pakt dem freien Spiel der freien Kräfte aussetzt (und dabei die<br />
gewaltigen zentrifugalen Fliehkräfte übersieht, mit denen die Familie in ihren Außenbeziehungen<br />
konfrontiert wird), steht in der Gefahr, die Familie letztlich sich selbst zu überlassen,<br />
ihren Unterstützungsbedarf zu ignorieren und ungewollt zu ihrer inneren Zersetzung<br />
beizutragen. Eine moderne Familienbildung muss sich infolgedessen in diesen Koordinaten<br />
neu verorten, muss die richtigen Parameter finden, um den schmalen Grad zwischen Überforderung<br />
und Vernachlässigung von Familien, zwischen zu viel und zu wenig Hilfen für Familie<br />
auszuloten, um die richtige Dossierung und die richtigen Antworten auf die aufgeworfenen<br />
Fragen zu finden.<br />
Vor diesem Hintergrund will ich nachfolgend auf drei Facetten der vielschichtigen Thematik<br />
eingehen, zunächst auf die öffentliche Debatte und die politische Wende in Sachen Familie,<br />
Familienbildung und Familienerziehung, anschließend auf einige mit dem Aufwachsen von<br />
Kindern zusammenhängende Strukturprobleme in den Familien und schließlich auf die aktuelle<br />
Lage und die sich dabei abzeichnenden Entwicklungsbedarfe der institutionalisierten<br />
Familienbildung.<br />
Ich komme zu meinem ersten Teil:<br />
4
1. Familienbildung zwischen Öffentlichkeit, Politik<br />
und Fachlichkeit<br />
In der breiten Öffentlichkeit ist das Thema Familienbildung wohl erst seit dem Erfolg von<br />
„Super Nanny und Co.“ so richtig angekommen. Auf einmal wird über richtiges und falsches<br />
Erziehungsverhalten öffentlich diskutiert, wird die medienwirksame Zurschaustellung von ratlosen<br />
Eltern (und Lehrern) zum Anlass genommen, nicht nur in Fachorganen über die Notwendigkeit<br />
von Elterntrainings und -unterstützung nachzudenken, wird gefragt, ob solche<br />
Sendungen im Massenpublikumsformat eher schaden als helfen. So richtig verschwunden ist<br />
das Thema seit und nach PISA in der Öffentlichkeit nicht mehr. Nie waren Familienministerinnen<br />
als Familienministerinnen so gefragte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wie<br />
dies bei Renate Schmidt und Ursula von der Leyen unübersehbar der Fall ist. Auch wenn es<br />
verständlicherweise Phasen gab, in denen das Thema Familie durch andere Themen überlagert<br />
wurde, war es in den letzten Jahren eigentlich ständig greif- und reaktivierbar.<br />
Gerade in den letzten Wochen waren die Themen Familie, Familienbildung und Elternkompetenz<br />
wieder viel gefragte Themen der öffentlichen Erörterung:<br />
• So veröffentlichte vor wenigen Wochen die BILD-Zeitung eine fünfteilige Erziehungsserie,<br />
in der der ehemalige Direktor des Internates in Salem, Bernhard Bueb, Strenge, Achtung<br />
und vor allem Disziplin als wieder zu entdeckende Hilfestellungen für allenthalben erziehungsverunsicherte<br />
Eltern anbot – und dadurch sein Buch ganz nach oben in die Bestsellerlisten<br />
katapultierte;<br />
• so erregt sich gegenwärtig die Nation auf dem glitschigen Boden einer merkwürdigen Melange<br />
aus Tatsachen, Beobachtungen, Meinungen und Behauptungen über das Für und<br />
Wider eines „Eva-Prinzips“, das ebenfalls mit alten Hausrezepten und einer Reaktivierung<br />
einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung die aktuellen Probleme der Zerrissenheit von<br />
Familien zu lösen verspricht (was der Autorin ganz nebenbei ebenfalls Top-Ten-<br />
Platzierungen und Medienwirbel beschert);<br />
• so folgert der Bielefelder Kollege Hurrelmann auf der Basis seiner Präsentation der jüngsten<br />
Shell-Studie und im Lichte der dortigen Befunde etwas vorschnell verpflichtende Erziehungskurse<br />
für Eltern, auch wenn auf den ersten Blick nicht so recht nachzuvollziehen<br />
ist, welche Ergebnisse der Studie ihn dazu veranlassen, derart weitreichende Eingriffe in<br />
die Familie vorzuschlagen (mal ganz abgesehen davon, dass der dafür notwendige explosionsartige<br />
Ausbau der Familienbildung in Deutschland einer Kulturrevolution gleichkäme);<br />
• und so feiert sich dieser Tage die große Koalition in ansonsten eher tristen Politikzeiten<br />
selbst im Lichte des beschlossenen Elterngeldes, von dem noch niemand so recht weiß,<br />
was es (a) unter dem Strich am Ende wirklich kostet, wie (b) die Vereinbarkeits- und die<br />
5
Betreuungsfrage danach, also nach 12 oder 14 Monaten Elterngeld praktisch gelöst werden<br />
soll und ob es uns (c) im Endeffekt dem Ziel steigender Geburtenzahlen wirklich näher<br />
bringt (da es am Kern der Geburtenproblematik, dem dramatischen Rückgang der<br />
Geburtenzahlen in der Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen, haarscharf vorbeischliddert,<br />
da in dieser Altersphase eine wachsende Zahl von jungen Frauen noch in der Ausbildung<br />
ist und deshalb von den einkommensabhängigen Segnungen des Elterngeldes nicht profitiert).<br />
Sie sehen also, Familienbildung-Online, Familienbildung im Teleformat oder in kurzweiliger<br />
Erbauungslektüre sowie in Geldform ist en vogue, hat Konjunktur. Hilft das der Fachwelt, der<br />
professionellen Familienbildung nun weiter, oder wird sie dadurch in ihren Bemühungen eher<br />
konterkariert? Was „Super Nanny und Co.” vor kurzem noch spielend alleine zu bewältigen<br />
schien, den öffentlichen Hunger auf „Familienbildung“ zu stillen, wurde somit durch neue<br />
Formate und Produkte publikumswirksam ergänzt. Sie werden sich wohl dennoch nicht wundern,<br />
wenn ich diese Art familiennaher Erziehungshilfe nicht vorbehaltlos als eine segensreiche,<br />
„moderne Familienbildung“ – so der Untertitel meines <strong>Vortrag</strong>s – bezeichnen würde,<br />
wenngleich für die Zukunftsfähigkeit der Familie nicht zu unterschätzen ist, dass wir über ihre<br />
Chancen und Grenzen, über ihre Potenziale, aber auch über die in ihr liegenden Risiken öffentlich<br />
diskutieren.<br />
In den letzten Jahren dämmert es so langsam in immer breiteren Kreisen, dass man der Institution<br />
Familie nicht dadurch hilft, dass man ihr permanent ihre herausragende Stellung für<br />
den Zusammenhalt der Gesellschaft und für das Aufwachsen von Kindern bescheinigt – und<br />
ansonsten darauf vertraut, dass alles gut geht. In Anlehnung an den legendären Satz Adenauers<br />
„Kinder bekommen die Leute sowieso“ aus den 1950er-Jahren könnte man etwas salopp<br />
formulieren, dass die politische Selbsttäuschung in Sachen Familie über Jahrzehnte<br />
darin bestand, anzunehmen, dass die westdeutsche soziale Nachkriegsordnung sich stillschweigend<br />
an der Prämisse „Familien gründen junge Paare sowieso“ ausrichten lässt und<br />
daher von alleine regelt.<br />
Dem ist aber längst nicht mehr so. Nachdem zunächst die Familienforschung darauf aufmerksam<br />
machte – ohne dass es anfänglich irgend jemand ernsthaft irritierte –, dass sowohl<br />
die Zahl der Geburten, der Eheschließungen und der Zwei-Generationen-Haushalte seit Jahren<br />
sinkt als auch die Stabilität von lebenslangen Partnerschaften stetig abnimmt, nachdem<br />
die Politik nur langsam darauf reagierte und so gut es eben ging, die Lage der Ehefrauen<br />
und Mütter rechtlich und – leidlich – auch materiell verbesserte, ist in jüngerer Zeit eine neue<br />
Dynamik in Sachen Familien- und Kinderpolitik auf allen föderalen Ebenen und in allen politi-<br />
6
schen Lagern in Deutschland zu beobachten, die versucht, auf die Krise der klassischen<br />
Familie zu reagieren.<br />
Die eben genannten Daten machen die prekäre Entwicklung rund um die Familie deutlich<br />
sichtbar, und haben dazu geführt, dass in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel in<br />
Sachen Familienpolitik eingeleitet wurde. Die Pluralisierung ihrer Formen wird inzwischen auf<br />
breiter Ebene anerkannt, oder richtiger: es wird ernüchtert zur Kenntnis genommen, dass die<br />
für ewig gehaltene Stabilität von Paaren in einer hinreichend großen Zahl brüchig geworden<br />
ist, und dass man Familienhaushalte konkret durch den Auf- und Ausbau familienfreundlicher<br />
Infrastrukturangebote – und eben nicht nur durch Geld – unterstützen muss, etwa durch den<br />
Auf- und Ausbau von Betreuungsangeboten im Kindergartenalter, aber auch für unter <strong>Dr</strong>eijährige,<br />
die Erweiterung des Angebots an Ganztagsplätzen im Kindergartenalter oder die<br />
Einführung von Ganztagsschulen bzw. ganztägigen Angeboten im Schulalter.<br />
Lokale Bündnisse, Netzwerke, Runde Tische oder Allianzen für Familien, Gespräche nicht<br />
nur mit den traditionell Verdächtigen, also den Kirchen, den Wohlfahrtsverbänden und den<br />
Familienorganisationen, sondern auch mit der Wirtschaft, Plädoyers und Anregungen für eine<br />
nachhaltige Familienpolitik und Berechnungen für einen betriebs- und volkswirtschaftlichen<br />
Nutzen von Familienfreundlichkeit sowie der gezielte Ausbau von Bildungs-, Betreuungs-<br />
und Erziehungsangeboten im Kindes- und Jugendalter – Stichworte sind diesbezüglich<br />
das Investitionsprogramm für Ganztagsschulen sowie das „Tagesbetreuungsausbaugesetz“,<br />
kurz TAG, aber aktuell auch das Elterngeld – sind nur die markantesten Punkte<br />
der jüngeren Zeit. Dies alles sind Aktivitäten auf Bundes-, Landes- oder lokaler Ebene, die<br />
dazu führen sollen, dass die konkrete Lage der Familien vor Ort, die Balance zwischen Familie<br />
und Beruf und das Unterstützungsangebot für Familien verbessert wird, dass die Herstellung<br />
von Familie, dass das „doing familiy“, wie es der 7. Familienbericht formuliert hat, auch<br />
unter strukturell familienwidrigen Bedingungen möglich bleibt und ermöglicht wird.<br />
Familie ist, so kann man bilanzieren, in Deutschland zu einem schwierigen, vielleicht auch<br />
riskanten Unternehmen geworden. In der Familie, in ihrer Diffusität und Allzuständigkeit<br />
spiegeln sich die Probleme moderner Lebensführung vermutlich noch stärker als in bestimmten<br />
spezialisierten gesellschaftlichen Teilbereichen wie etwa der Schule (die ja trotzdem e-<br />
benfalls mit veränderten Kontexten gewaltig zu kämpfen hat). Und daher steht die Frage im<br />
Raum: Was brauchen Erwachsene, Eltern, Familien an Unterstützung und Rahmung, damit<br />
Familie funktionieren, damit Familie gelebt werden kann, damit Familie – also Haushalte mit<br />
Kindern und nicht nur Paarbeziehungen – nicht nur zu einer denkbaren, sondern zu einer<br />
tatsächlich gewählten, attraktiven Lebensform des 21. Jahrhunderts wird?<br />
7
Ein Teil dieser Fragen beantwortet sich für mich, wenn wir nicht auf die Familie als solche,<br />
sondern auf die Familie als Ort des Aufwachens und als Zentralakteur für die Bildungs-,<br />
Betreuungs- und Erziehungsprozesse von Kindern schauen, wie wir das im 12. Kinder- und<br />
Jugendbericht auszubuchstabieren versucht haben.<br />
Damit komme ich zu meinem zweiten Abschnitt:<br />
2. Der Bildungsort Familie – Aufwachsen in der Familie<br />
Wenn wir über das Aufwachsen von Kindern reden, ist für mich immer wieder ein Phänomen<br />
erstaunlich: dass wir Familien völlig selbstverständlich als zentrale Erziehungsinstanz anerkennen,<br />
dass wir sie aber nicht in gleicher Weise als eine elementare Bildungsinstanz wahrnehmen,<br />
zumindest nicht unser politisches und fachliches Tun daran ausrichten. Obgleich<br />
die PISA-Befunde den elementaren Einfluss der Familie auf die erbrachten Leistungen der<br />
Jugendlichen mehr als deutlich gemacht hat, wurde anschließend mehr über die Reform des<br />
Schulwesens und – etwas überraschend – des Kindergartens debattiert (obgleich PISA dazu<br />
keinerlei Aussagen machte, machen konnte), während die Familie so gut wie nicht ins Blickfeld<br />
kam.<br />
Dabei geht es im Falle der Familie eben nicht nur um den Indikator für eine bestimmte soziale<br />
Schichtzugehörigkeit, sondern ganz elementar um die dort stattfindenden Bildungsprozesse.<br />
Gleichwohl war der „Bildungsort Familie“ bislang so gut wie kein Thema in der Forschung<br />
und der fachöffentlichen Debatte, obgleich die Bedeutung der Bildungswelt Familie auf die<br />
generell vorhandenen Möglichkeiten und Anreize, die Ressourcen und Kompetenzen, die<br />
Kindern „vor Ort“ im alltäglichen Familienleben zur Verfügung stehen, verweist. So hat fast<br />
allein der „Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen“ des Bundesfamilienministeriums gezielt<br />
auf die Bedeutung der Familie als eigenem Bildungsort hingewiesen: „Das in Familien<br />
vermittelte und angeeignete Humanvermögen stellt die wichtigste Voraussetzung und wirksamste<br />
Grundlage der lebenslangen Bildungsprozesse dar“.<br />
Zugespitzt formuliert: Familien sind als Orte des Bildungsgeschehens fast unverzichtbar, a-<br />
ber dennoch lange vernachlässigt worden, sowohl in der Forschung als auch in der Politik.<br />
Das hat sicherlich damit zu tun, dass Familien als Bildungsorte auch ein schwieriges, sperriges<br />
Thema sind, da wir so wenig über Prozesse der Bildung in den Familien selbst wissen<br />
(und es zugleich schwierig ist, darüber zu forschen). Nichtsdestotrotz gilt: In der Familie fängt<br />
für Kinder alles an; in ihr, so könnte man formulieren, ist fast alles möglich. Allein dies kenn-<br />
8
zeichnet die herausragende Bedeutung der Familie. Aber es gilt zugleich auch die andere<br />
Seite dieser Familienmedaille; und die lautet: Nichts ist sicher. Auch diese Fragilität kennzeichnet<br />
eben die Familie. Und deshalb macht es wenig Sinn – und hilft niemand weiter, weder<br />
den Erwachsenen noch den Kindern –, wenn man nur die eine Seite, also die unerschöpfliche<br />
Potenzialität der Familie betont, oder aber nur die andere Seite, ihre unkalkulierbaren<br />
Risiken in den Blick nimmt. Nur beides zusammen kennzeichnet die Familie einigermaßen<br />
sachgerecht, kennzeichnet sie, wenn man so will, als eine ebenso chancenreiche wie<br />
riskante Lebensform.<br />
Zugespitzt formuliert würde ich im Lichte dieser Überlegungen und mit dem 12. Kinder- und<br />
Jugendbericht sagen: Das moderne <strong>Dr</strong>ama der heutigen Familie besteht darin, dass Familie<br />
als Lebensform für Kinder und als Ort des Aufwachsens mehr oder minder deutlich von drei<br />
Defiziten umgeben wird: einem Betreuungs-, einem Erziehungs- und einem Bildungsdefizit.<br />
Ich will diese Defizite kurz umschreiben.<br />
(a) Zum Betreuungsdefizit: Das Betreuungsdefizit verweist zunächst einmal auf die Frage<br />
einer gelingenden Balance von Familie und Arbeitswelt und damit auch auf die Frage der<br />
Geschlechtergerechtigkeit, sprich: dass die familialen Reproduktionstätigkeiten nicht in der<br />
alleinigen Verantwortung der Frauen (ver)bleiben, sondern partnerschaftlich geregelt werden<br />
und bei Bedarf die Frage der elterlichen Erwerbstätigkeit trotz Kinder auch geschlechtergerecht<br />
ermöglicht wird. In dieser Hinsicht hat (West-)Deutschland einen zum Teil erheblichen<br />
Nachholbedarf: sowohl in der Beteiligung der Väter an der Betreuung in den eigenen vier<br />
Wänden als auch in einem ausreichenden Platzangebot in Kindertageseinrichtungen, und<br />
zwar im Kindergartenalter, in dem der Halbtagesplatz in Westdeutschland immer noch die<br />
Mehrheit bildet, ebenso wie bei der Betreuung der unter <strong>Dr</strong>eijährigen sowie der Kinder im<br />
Grundschulalter.<br />
Betreuung geht dabei aber, dies will ich ausdrücklich betonen, weit über die zeitweilige Zuständigkeitsverlagerung<br />
auf öffentliches Personal und auf ein damit verbundenes „Kinderhüten“<br />
hinaus. Betreuung umfasst auch persönliche Zuwendung, Bindung und Beziehungsaufbau,<br />
umfasst Versorgung, Ernährung, Pflege und Unterstützung, also all das, was zusammenfassend<br />
bisweilen mit dem englischen Begriff des „care“ umschrieben wird. Diese Form<br />
einer Beziehungsarbeit, eines Aufbaus von Vertrauen und Bindung ist ein zentrales Erfordernis,<br />
das Familie und öffentliche Partner gemeinsam leisten müssen und im Lichte der<br />
Vereinbarkeit von Beruf und Familie für viele zu einem Problem geworden ist.<br />
9
(b) Zum Erziehungsdefizit: Der Zugewinn an individuellen Gestaltungs- und Freiheitsgraden<br />
in der heutigen Gesellschaft im Sinne einer Multioptionsgesellschaft kann als Gewinn<br />
und als Problem gleichermaßen umschrieben werden. Mit der Vielfalt an Optionen, an Lebensstilen<br />
und Formen der Lebensführung, der Lockerung von Milieubindung und damit einhergehenden<br />
Lebenszwängen, der Enthierarchisierung von Generationsbeziehungen, der<br />
Demokratisierung von Beziehungsmustern zwischen den Eltern, aber auch zwischen Eltern<br />
und ihren Kindern – „vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ – geht eben auch ein Verlust<br />
an Normierung, an klaren Regeln, an habitueller Ordnung, an verbindlichen Wertorientierungen<br />
sowie einer Einheitlichkeit von Lebensstilen einher. Eine Gesellschaft, die sich durch<br />
Pluralität und eine hohe Bedeutung der Autonomie des Einzelnen auszeichnet, hat auch in<br />
Erziehungsfragen keine klaren Regeln, keine eineindeutigen Werte mehr parat. Wenn jedoch<br />
Erziehung aus diesen Gründen durch Nichterziehung, durch bloßes Vertrauen auf eine funktionierende<br />
Form der Selbsterziehung und Selbstregulation ersetzt wird (und nicht durch die<br />
Befähigung dazu), dann fehlt der nachwachsenden Generation zur Herausbildung einer eigenen<br />
Persönlichkeit und einer Ich-Identität als entscheidendes Moment so etwas wie die<br />
produktiven Reibungsflächen in Form der Erwachsenengeneration.<br />
Eltern stehen heute jenseits ihrer verfassungsrechtlich garantierten Erziehungsrechte und -<br />
pflichten mehr denn je vor der Aufgabe, ihre Kinder auch so zu erziehen, dass sie sich sozial<br />
erfolgreich in eine plurale und komplexe Gesellschaft integrieren und soziale Bezüge in unterschiedlichen<br />
Zusammenhängen aufbauen können (und dieses möglicherweise sogar mit<br />
dem Wissen um die beschränkte Gültigkeit der eigenen Werte). Nicht zuletzt deshalb wächst<br />
der Markt für Erziehungsratgeber, greifen SPIEGEL, ZEIT und FOCUS – und neuerdings auch<br />
BILD – Erziehung als Thema immer wieder auf, deshalb sorgt sich die Öffentlichkeit um den<br />
Zustand der nachwachsenden Generation (was nun aber wahrlich nicht neu ist).<br />
Zu den Erziehungs- und Betreuungsdefiziten kommt aber schließlich noch die Frage der bereits<br />
genannten Bildung in der Familie hinzu:<br />
(c) Zum Bildungsdefizit: Dabei geht es nicht so sehr darum, dass Eltern eigentlich alles<br />
vermitteln können müssten und infolgedessen – da sie notgedrungen daran scheitern müssen<br />
– nicht immer die optimalen Bildungsförderer ihrer Kinder sind. Natürlich gibt es Unterschiede,<br />
natürlich werden die Kinder mit sehr unterschiedlich gepacktem Rucksack auf die<br />
Reise ihres eigenen Lebens geschickt, können die Familien ihre Kinder mit sozialen, kulturellen<br />
und ökonomischen Kapital auf ihrem Weg ins (Bildungs-)Leben eben höchst unterschiedlich<br />
ausstatten. Sicherlich widmen sich einige Eltern sehr bewusst der Aufgabe, ihren Kindern<br />
möglichst viele und reichhaltige Bildungsangebote und Sozialerfahrungen zu bieten,<br />
10
während es wiederum andere gibt, die dieses nur bedingt als ihre Aufgaben ansehen oder<br />
denen einfach die Ressourcen für eine solche Förderung fehlen. Allerdings scheint mir dies<br />
nur die eine Seite der Medaille zu sein, die schon immer existiert hat.<br />
Hinzu kommt heute als vielleicht noch zentraleres Problem der Bildung, dass die Summe<br />
dessen, was Kinder lernen müssen, um für die Zukunft gerüstet zu sein, sich so vermehrt<br />
hat, dass Familien und der lebensweltliche Alltag auf der einen und die Schule auf der anderen<br />
Seite damit tendenziell überfordert sind – und dies eben nicht nur bei Familien aus bildungsbenachteiligten<br />
Schichten. Die Anforderungen einer modernen Gesellschaft bzw. einer<br />
Gesellschaft der zweiten Moderne sind heute so vielschichtig und ambitioniert, dass klassische<br />
und naturwüchsige Lernprozesse möglicherweise nur noch unzureichend auf eine erfolgreiche<br />
Lebensführung vorbereiten bzw. das Bildungsanforderungen für eine ebensolche<br />
eine hohe Form der Fähigkeit zur Selbstregulation voraussetzen, die nicht mehr allein in alltäglichen<br />
Familienprozessen und/oder in der Schule vermittelt werden können.<br />
Ein umfassendes Bildungskonzept, das auch dezidiert non-formale und informelle Lernprozesse<br />
einschließt, setzt heute ein Zusammenspiel verschiedenster Akteure und Bildungsmodalitäten<br />
voraus und kann sicher nicht von einer „Instanz“ alleine hinreichend gefördert werden.<br />
Bildung kann in modernen Gesellschaften als spontanes und zufälliges Nebenprodukt<br />
des Aufwachsens, unterlegt mit einer offenkundig nur schwerfällig zu modernisierenden<br />
Schule, nicht mehr hinreichend funktionieren. Bildung ist auf die Familie, auf die frühen Bildungsorte<br />
vor der Schule ebenso angewiesen wie auf die Orte und Gelegenheiten neben der<br />
Schule.<br />
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht mir mit meinem Plädoyer für mehr öffentliche<br />
Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern weder um die Abschaffung der Familie,<br />
noch darum, ihr die Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern abzunehmen. Vielmehr<br />
gilt es Eltern die Chance zu eröffnen, sie zu befähigen bzw. sie besser als bisher in die Lage<br />
zu versetzen, diese familiären Aufgaben der Bildung, Betreuung und Erziehung im Zusammenspiel<br />
mit öffentlichen Einrichtungen zu erfüllen. Dazu bedarf es heutzutage mehr an Planung,<br />
Vorbereitung und Unterstützung als je zuvor.<br />
Denn: Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsdefizite sind – bei allen schichtspezifischen<br />
Unterschieden, die es nach wie vor in erheblichem Maße gibt – heute unstrittig ein Problem<br />
für alle Familien. Alle drei Themenkomplexe reichen bis in die Mitte der Gesellschaft – und<br />
gerade deshalb sind familienergänzende Hilfen von den Kindertageseinrichtungen bis zur<br />
Familienbildung für die Familien so wichtig.<br />
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Dies führt mich zum dritten und letzten Abschnitt und zu der Frage, wo die Familienbildung<br />
heute steht und wohin sie sich entwickeln muss.<br />
3. Bildungsorte für Familien – zur Lage und Zukunft der<br />
Familienbildung<br />
Wenn man sich von außen und einigermaßen unbefangen dem Thema Familienbildung nähert,<br />
so fragt man sich, wo diese eigentlich anfängt und wo sie aufhört, sprich: was alles dazu<br />
gehört und was nicht. Dies scheint mir eine keineswegs triviale Frage zu sein, da – wie in<br />
anderen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe auch – eine gewisse Schwierigkeit darin besteht,<br />
ganz allgemein zwischen Familienbildung im Sinne sämtlicher institutionell organisierter<br />
Unterstützungsangebote für Familien auf der einen und den speziellen Einrichtungen der<br />
Familienbildung, den so genannten Familienbildungsstätten, auf der anderen Seite zu unterscheiden.<br />
Klassischerweise sind die Familienbildungsstätten – da trage ich hier vermutlich Eulen nach<br />
Athen – schon aus historischen Gründen die Grundsäule der Familienbildung. Darüber hinaus<br />
finden sich Formen der Familienbildung aber auch<br />
1. in den allgemeinen Einrichtungen der Erwachsenenbildung, die u.a. Eltern- und Familienbildung<br />
anbieten, also etwa die Volkshochschulen oder Bildungswerke,<br />
2. in sonstigen Institutionen, Organisationen und Vereinen, die Eltern- und Familienbildung<br />
neben anderen Schwerpunkten anbieten (z.B. in Einrichtungen des Gesundheitswesens<br />
wie Hebammenpraxen, Elternschulen an Kliniken, in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe<br />
etwa der Arbeiterwohlfahrt, des Deutschen Roten Kreuzes oder sonstigen Vereinen<br />
und Verbänden wie dem Deutschen Frauenring, dem Kinderschutzbund oder dem<br />
Verband alleinerziehender Mütter und Väter),<br />
3. in Privat- und Selbsthilfeinitiativen (also etwa Mütterzentren, Familienzentren, Begegnungs-<br />
und Kulturzentren, Eltern-Initiativen, Still-Cafés) und schließlich<br />
4. mittlerweile auch in aufsuchenden Formen (wie etwa in den vom DJI mit initiierten Projekten<br />
Hippy oder Opstapje).<br />
Diese Vielfalt macht es zumindest schwierig, sich darüber zu verständigen, worüber man im<br />
Falle der Familienbildung eigentlich redet und was ihre Gemeinsamkeiten ausmacht.<br />
Bundesweit wurden die Familienbildungsstätten bislang zweimal untersucht, zu Beginn der<br />
1970er-Jahre und Mitte der 90er-Jahre. Daneben liegen landesweite Untersuchungen vor,<br />
die im Unterschied zu den bundesweiten, die sich ausschließlich mit klassischen Familienbil-<br />
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dungsstätten beschäftigen, einrichtungsübergreifend angelegt sind. Das heißt, hierbei wurden<br />
auch Beratungsstellen, Kinderbetreuungseinrichtungen, Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge,<br />
Seelsorgeeinrichtungen etc. hinsichtlich ihrer Aktivitäten familienbezogener Bildungsarbeit<br />
mit in die Erhebung einbezogen. Eine der umfangreichsten Studie wurde dazu<br />
im Jahre 2003 für Baden-Württemberg durchgeführt, wodurch hierfür eine vergleichsweise<br />
gute Datenbasis vorliegt.<br />
1. In Baden-Württemberg existieren laut des Berichts knapp 500 Einrichtungen der Familienbildung,<br />
wenn man alle vier bzw. fünf eben genannten Formen als Grundlage nimmt.<br />
2. Die im KJHG verankerten Leitziele der Familienbildung – Bedarfsgerechtigkeit und Prävention<br />
– nahmen keinen besonders hohen Stellenwert im Angebot dieser Familienbildungseinrichtungen<br />
ein. Zwar bieten <strong>Dr</strong>eiviertel der Einrichtungen entsprechende Angebote<br />
an, aber der Anteil dieser Angebote am Gesamtangebot lag bei unter 20 Prozent.<br />
3. Etwa Zweidrittel der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiteten im Kurs- und Gruppenbereich<br />
– und das vor allem auf Honorarbasis. Dieser geringe Anteil an hauptamtlichen und<br />
unbefristeten Beschäftigten hat zur Folge, dass es in dem Bereich eine recht hohe Fluktuation<br />
gibt.<br />
4. Die Heterogenität in der Trägerstruktur und den Konzepten der Familienbildung spiegelt<br />
sich auch in der Finanzierungssituation wieder. Dabei zeigt sich übergreifend, dass die<br />
Teilnehmerbeiträge die wichtigste Einnahmequelle sind. Dieses hohe Gewicht der Kostendeckung<br />
durch die Teilnahmegebühren birgt zweifellos die Gefahr einer Ausrichtung<br />
des Angebots an einem zahlungskräftigen Klientel in sich, das sozial schwache Familien,<br />
also eine Gruppe, die besonders förderungsbedürftig wäre, eher ausschließt.<br />
Die etwas unübersichtliche Gemengelage der Familienbildung, die auch für die einzelnen<br />
Segmente und Akteursgruppen der Familienbildung noch mal unterschiedlich ausfällt,<br />
scheint mir mit dafür verantwortlich zu sein, dass die Identität der Familienbildung, ihr <strong>Prof</strong>il<br />
und ihre Ein- und Rückbindung für Außenstehende nach wie vor eher diffus ist. Deshalb liegt<br />
die Stärke eines Aktionsprogramms auch darin, dass es durch die Förderung zur <strong>Prof</strong>ilbildung<br />
und Schärfung, zur besseren Erkennbarkeit eines Feldes beitragen kann.<br />
Über <strong>Dr</strong>eiviertel der geförderten Projekte richteten sich an besondere Zielgruppen. Interessant<br />
fand ich die Hinweise, welche dies waren: Familien mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende<br />
und Patchwork-Familien, bildungsungewohnte Familien, Familien in Trennungsund<br />
Scheidungssituationen, Frauen und Kinder mit Gewalterfahrungen, Familien von Inhaftierten<br />
oder Familien, die einen Angehörigen verloren haben. Sofern dies in dieser Breite für<br />
alle Spielarten der Familienbildung gilt, könnte man getrost schlussfolgern, dass die Famili-<br />
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enbildung in der Wirklichkeit angekommen ist, sprich: dass sie sich auf neue Zielgruppen<br />
eingestellt hat, ohne die so genannte „Normalfamilie“ aus dem Auge zu verlieren.<br />
Abschließend möchte ich jedoch auf drei zentrale Herausforderungen einer zukunftsfähigen<br />
Familienbildung hinweisen. Sie lassen sich mit den Stichworten (1) Kooperation, (2) Öffnung<br />
und (3) Stärkung der Elternkompetenz umschreiben. Obwohl sie auf unterschiedlichen Ebenen<br />
mit Blick auf Organisation und Inhalt ansetzen, sind sie doch eng miteinander verwoben.<br />
(1) Zum Thema Kooperation: Die Aufgabe einer stärkeren Vernetzung der Angebote der<br />
Familienbildung bezieht sich zum einen auf die Frage der internen Kooperation zwischen<br />
den Einrichtungen der Familienbildung aufgrund ihrer bescheidenen Größe; hierauf kann ich<br />
allerdings nur hinweisen. Zum anderen geht es aber auch darum, Familienbildung und Familienbildungsstätten<br />
konsequent, also nicht nur in Einzelfällen, stärker in das öffentliche<br />
Leistungs- und Unterstützungssystem für Familien einzugliedern.<br />
Ich will hierzu zwei Beispiele stellvertretend nennen: erstens die Kooperation mit Kindertageseinrichtungen<br />
im Zuge des Auf- und Ausbaus von Zentren für Familien, zweitens die Zusammenarbeit<br />
mit öffentlichen Akteuren im Zuge der Einführung von Ganztagsschulen bzw.<br />
von ganztägigen Angeboten. Vor allem die neuere Diskussion um „Eltern-Kind-Zentren“ bzw.<br />
„Familienzentren“ scheint mir eine Entwicklung zu sein, die in die richtige Richtung weist, da<br />
auf diese Weise Familien frühzeitig erreicht und abgeholt sowie weit mehr Familien erreicht<br />
werden können als mit herkömmlichen Mitteln. In diesem Kontext ist die Familienbildung<br />
aufgerufen, sich aktiv zu beteiligen und ihre Kompetenz und ihr <strong>Prof</strong>il einzubringen; ähnliches<br />
gilt zweifellos auch im Zusammenhang mit den rasanten Entwicklungen in punkto<br />
Ganztagsschule.<br />
Familienbildung muss sich, wenn sie als öffentlich gefördertes Angebot ihre Wirksamkeit und<br />
ihre Leistungsfähigkeit verdeutlichen will, noch stärker als ein Bestandteil der sozialstaatlichen<br />
Gesamtinfrastruktur für Familien verstehen und ihre Leistungen als wichtige sozial-<br />
und bildungspolitische Aufgabe, die mit anderen Bildungs- und Unterstützungsangeboten<br />
produktiv verzahnt werden kann, sichtbar machen. Langfristig geht es möglicherweise um<br />
nichts weniger als um eine systematische inhaltliche Neujustierung sozialstaatlicher Angebote<br />
für Kinder und ihre Familien.<br />
(2) Zum Thema Öffnung: Mit einer stärkeren Kooperation und einem möglicherweise etwas<br />
gewandelten, erweiterten Bildungsauftrag geht auch eine verstärkte Außenorientierung einher,<br />
die sowohl ein Mehr an Öffentlichkeitsarbeit und Bürgernähe als auch eine Öffnung der<br />
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Angebote jenseits der herkömmlichen Bildungsstätten im Blick hat. Ein Kritikpunkt an der e-<br />
tablierten Familienbildung war lange Zeit – und ist es bisweilen auch heute noch – die latente<br />
Mittelschichtsorientierung, also die Tatsache, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen unter<br />
den Teilnehmenden mehr oder weniger stark unterrepräsentiert sind. Auch wenn dieser Befund<br />
in der Tendenz für fast alle personen- und bildungsbezogenen Dienstleistungen gilt und<br />
im Lichte der Landes-Evaluation für Baden-Württemberg möglicherweise noch weiter relativiert<br />
werden muss, so dürfte doch wenig strittig sein, dass durch die relativ kleine Zahl an<br />
Einrichtungen – gemessen an der Zahl der Familien bzw. an der Zahl der Kindertageseinrichtungen<br />
– die Erreichbarkeit von Familien generell eingeschränkt ist.<br />
In der Kooperation mit anderen Akteuren – Kindertageseinrichtungen, Schulen –, die einen<br />
verbesserten Feldzugang eröffnen, in der damit möglichen stärkeren Verankerung im Gemeinwesen<br />
sowie in einer konsequenten Verstärkung der „Gehstruktur“ könnten hier die entsprechenden<br />
Eckwerte einer Innovation mit Blick auf eine „aufsuchende Familienbildung“ liegen,<br />
um mehr und ein erweitertes Adressatenspektrum zu erreichen, und auch den Auftrag<br />
der JMK besser zu erfüllen, wenn es dort heißt: „Für besondere Zielgruppen beziehungsweise<br />
Familien in besonderen Belastungssituationen müssen die Zugänge durch neue Methoden<br />
und Formen sowie durch Angebote mit spezifischen Inhalten verbessert werden“. Wenn<br />
ich das richtig sehe, wurden in dem Aktionsprogramm hierzu einige positive Erfahrungen<br />
gemacht.<br />
(3) Schließlich zur Stärkung der Elternkompetenz: Die in meinen Augen zentrale inhaltliche<br />
Herausforderung für die Familienbildung liegt jedoch in der Frage der Elternqualifizierung<br />
und Elternkompetenz, also in der Stärkung jener Angebote, die Eltern befähigen, ihren<br />
Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsaufgaben besser gerecht zu werden. Einer Gesellschaft<br />
mag der Gedanke, dass man diesen Aufgaben immer weniger selbstverständlich<br />
genügen kann, dass das eine oder andere gar erlernt, erprobt oder manchmal auch nur bedacht<br />
werden muss, möglicherweise unangenehm aufstoßen, wird familiale Bildung, Betreuung<br />
und Erziehung in unseren Köpfen vielleicht noch immer als ein naturwüchsiges Produkt<br />
behandelt (wie dies auch in der Verfassung nahe gelegt wird). Möglicherweise müssen wir<br />
uns aber auch nur angewöhnen, aus der Anerkennung einer öffentlichen Verantwortung für<br />
das Aufwachsen und das „doing family“ nicht gleich den Versuch einer staatlichen Bevormundung<br />
abzuleiten, sondern vielmehr die Sorge um die Handlungs- und Leistungsfähigkeit<br />
von Familie in einer Gesellschaft, die ihr Leistungen abverlangt, die sie unter den durchschnittlichen<br />
Bedingungen der alltäglichen Lebensführung keineswegs mehr voraussetzungslos<br />
und in allen Fällen problemlos gewährleisten kann. Immer komplexer werdende<br />
gesellschaftliche Anforderungen an die Lebensbewältigung und an die zu erwerbende Kom-<br />
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petenz von Kindern und Jugendlichen zur Selbstregulation weisen in diese Richtung. Es geht<br />
wahrscheinlich in dieser Hinsicht um nichts anderes, als um die behutsame und beharrliche<br />
Überwindung einer naturalisierten Elternrolle.<br />
Wenn dieser Gedanke richtig ist, dann muss „Familienbildung“ in der Konsequenz viel früher<br />
und breiter ansetzen, und zwar bevor junge Erwachsene zu Eltern werden. Solche sich abzeichnenden<br />
Herausforderungen an die eigene Lebensführung im Übergang von der Partnerschaft<br />
zur Elternschaft müssen dementsprechend im Prozess des Aufwachsens dann<br />
weitaus selbstverständlicher verankert und von Eltern, Schule, Jugendarbeit, Familienbildung<br />
und all den anderen Akteuren als eine Aufgabe eigener Art begriffen werden, mit der sie dazu<br />
beitragen, dass die nachwachsende Generation befähigt wird, selbst Verantwortung als<br />
Eltern zu übernehmen. Auch in diesem Punkt sehe ich somit eine zu gestaltende, wichtige<br />
Zukunftsaufgabe der Familienbildung, zumal an dieser Nahtstelle – den Bildungsprozessen<br />
von Eltern und ihren Kindern – sozial-, familien- und bildungspolitisch viel mehr bewegt werden<br />
kann, als über die gegenwärtigen monetären Transfers.<br />
Ich komme zum Schluss.<br />
Die Familienbildung in ihrer heutigen Gestalt ist viel zu klein, um Wunder vollbringen zu können.<br />
Sie kann das moderne <strong>Dr</strong>ama der bisweilen schutzlos gewordenen Familien ohne Geländer<br />
der Lebensführung nicht hauptverantwortlich, schon gar nicht allein schultern; aber sie<br />
kann mitwirken. Die Familienbildung in ihren unterschiedlichen Varianten ist in der Summe<br />
zu groß, um einfach unbeachtet zu bleiben; sie muss sich auf den Prüfstand ihrer Möglichkeiten<br />
und Grenzen stellen lassen, muss ihre eigenen Hausaufgaben in punkto Modernisierung<br />
vorantreiben. Hierfür hat das Aktionsprogramm wichtige Hinweise geliefert und Impulse<br />
gegeben. Die Familienbildung als Aufgabenbereich ist unterdessen viel zu wichtig, um sie<br />
einfach allein zu lassen. Wenn Familie eines der zentralen Zukunftsthemen der Gesellschaft<br />
und der Politik schlechthin ist, dann braucht es eine qualifizierte, flexible, bedarfsgerechte<br />
und zukunftsfähige Familienbildung. Das wird weit mehr sein müssen, als dies die heutige<br />
Einrichtungslandschaft bieten kann. Ob die Familienbildung dann noch in ihrer jetzigen Gestalt<br />
und Vielfalt besteht, wird sich zeigen müssen. Sie wird aber – das steht außer Frage – in<br />
jedem Fall in Zukunft mehr denn je gebraucht.<br />
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