Zeitschrift Begegnungen_1/2013.indd - BCJ
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Ausgabe Nr. 1 | 2013<br />
<strong>Begegnungen</strong><br />
<strong>Zeitschrift</strong> für Kirche und Judentum<br />
Susanne Talabardon<br />
Eine Zwillingsgeburt –<br />
das frührabbinische Judentum<br />
und das werdende Christentum<br />
Barbara U. Meyer<br />
Was haben Christen heute<br />
mit der Beschneidung zu tun?<br />
Stefan Meißner<br />
Palästinensische Befreiungstheologie<br />
auf Kosten Israels?
Inhalt<br />
LIEBE LESERIN,<br />
LIEBER LESER<br />
Beiträge<br />
2 Eine Zwillingsgeburt –<br />
das frührabbinische Judentum<br />
und das werdende Christentum<br />
Susanne Talabardon<br />
14 Was haben Christen heute<br />
mit der Beschneidung zu tun?<br />
Barbara U. Meyer<br />
22 Palästinensische<br />
Befreiungstheologie<br />
auf Kosten Israels?<br />
Stefan Meißner<br />
34 Die Lehrhausbewegung<br />
Michael Volkmann<br />
52 Ein Bet- und Lehrhaus<br />
auf dem Petriplatz in Berlin<br />
Wolfgang Raupach-Rudnick<br />
54 Nachruf - David Hartman:<br />
Gelebte Leidenschaft<br />
Rachel Sabath Beit-Halachmi<br />
Rezension<br />
58 Gelobtes Land? –<br />
ein „rhetorisches“ Fragezeichen?<br />
Klaus Müller<br />
Vor 150 Jahren: „Saat auf Hoffnung“. Der Titel<br />
klingt fromm, und so war er auch gedacht, gewählt<br />
von Menschen, die überzeugt waren, dass es ihre<br />
Aufgabe war zu säen und dass diese Saat auf gehen<br />
wird. Der Titel ist noch immer treffend für die<br />
Arbeit des Zentralvereins und seiner Mitgliedsvereine.<br />
Heute halten Sie die erste Ausgabe der „<strong>Begegnungen</strong>“<br />
in ihrer neuen Gestalt in den Händen. Ich<br />
hoffe, dass Sie zu den neuen Heften genauso gerne<br />
greifen wie zu den bisherigen. Allen, die bei dieser<br />
Umstellung geholfen haben, vor allem der Agentur<br />
initiativ in Hannover, Herrn Hey und Herrn<br />
Urban, herzlichen Dank für ihr Engagement. Es<br />
galt, ganz prosaisch, bei erheblich reduzierten<br />
Mitteln eine Lösung zu finden, die das Erscheinen<br />
der <strong>Zeitschrift</strong> sicherstellt. Denn ein Zentralverein<br />
ohne diese Publikation ist kaum vorstellbar.<br />
Immerhin blicken wir in diesem Jahr auf 150 bzw.<br />
110 Jahre zurück: im Jahr 1903 erschien „Friede<br />
über Israel“ zum ersten Mal; im Jahr 1863 bereits<br />
die bis 1936 parallel erschienene <strong>Zeitschrift</strong> „Saat<br />
auf Hoffnung“.<br />
Saat auf Hoffnung! Deshalb wird sich bei den<br />
Beiträgen nichts ändern. Wir wollen nach wie vor<br />
ein wahrheitsgemäßes und differenziertes Bild<br />
vom Judentum in die christlichen Gemeinden vermitteln,<br />
und das möglichst durch jüdische Stimmen.<br />
Wir wollen den Prozess des Buchstabierens<br />
einer erneuerten Theologie und kirchlicher Praxis<br />
„in der Gegenwart Israels“ weiterhin begleiten und<br />
die Begegnung beider Gemeinschaften fördern.<br />
Am Anfang stehen zwei Beiträge, die Geschichte<br />
nahebringen und dabei auf die Gegenwart zielen:<br />
eine sehr schöne und gut lesbare Zusammenfassung<br />
der neueren Forschungen zum Auseinandergehen<br />
der Wege von Christentum und Judentum<br />
von Susanne Talabardon und ein Blick in die<br />
jüdische Tradition des Lehrhauses und die Versuche,<br />
heute an diese Tradition im interreligiösen<br />
Gespräch anzuknüpfen.<br />
Es folgen zwei Beiträge, die in aktuellen Streitfragen<br />
Position beziehen: von Barbara U. Meyer zur<br />
Beschneidungsdebatte und von Stefan Meißner<br />
zur palästinensischen Befreiungstheologie.<br />
Allen Autorinnen und Autoren sagen wir<br />
herzlichen Dank!<br />
Aus Hannover grüßt Sie Ihr
Jene Texte – das Neue Testament, die Schriften der Kirchenväter,<br />
die deuterokanonische Literatur 1 , die frühen rabbinischen Werke, Briefe,<br />
philosophische Abhandlungen u.a.m. – können nur ein fragmentarisches<br />
Bild jener aufregenden Jahrhunderte vermitteln, in denen<br />
sich Judentum und Christentum in gegenseitiger Abgrenzung<br />
voneinander entfalteten.<br />
Susanne Talabardon<br />
Eine Zwillingsgeburt – das frührabbinische Judentum und das werdende Christentum<br />
Der folgende Essay versteht sich als ein Versuch,<br />
die Ergebnisse der neueren religions-historischen<br />
Forschung zu den Anfängen von Judentum<br />
und Christentum allgemein- verständlich<br />
zusammenzufassen. Aus diesem Grund wird auf<br />
einen umfänglichen Apparat an Fußnoten, wie<br />
auch auf Zitate in Originalsprachen verzichtet.<br />
Anregungen zum Weiterlesen sowie Angaben<br />
zur Sekundärliteratur, auf die sich die Darstellung<br />
stützt, finden sich gebündelt am Ende<br />
dieser Ausführungen. Bei den angebotenen<br />
Zitaten aus Primärquellen wurde versucht, auf<br />
Übersetzungen zurückzugreifen, die im Internet<br />
verfügbar sind.<br />
Für eine Darstellung der Prozesse, die letztendlich<br />
zu einer Differenzierung zwischen dem<br />
werdenden Judentum und Christentum führten,<br />
kommt es wesentlich darauf an, die sehr unterschiedlichen<br />
Perspektiven in den Blick zu nehmen,<br />
die den damaligen Akteuren und Beobachtern zu<br />
eigen waren. Je nachdem, ob es sich bei den von<br />
den Forscher/innen verwendeten Quellen um<br />
Texte von jüdischen Jesusanhängern, von Juden<br />
ohne Bezug zu Jesus von Nazareth, von nichtjüdischen<br />
Angehörigen oder Sympathisanten der<br />
Jesusbewegung, von Menschen innerhalb oder<br />
außerhalb Judäas oder Galiläas, von Nichtjuden<br />
ohne Bezug zur Jesusbewegung handelte, wandelt<br />
sich die Sicht auf die Dinge erheblich.<br />
Hinzu kommt, dass jene Texte – das Neue Testament,<br />
die Schriften der Kirchenväter, die deuterokanonische<br />
Literatur 1 , die frühen rabbinischen<br />
Werke, Briefe, philosophische Abhandlungen<br />
u.a.m. – ein nur fragmentarisches Bild jener<br />
aufregenden Jahrhunderte vermitteln können, in<br />
denen sich Judentum und Christentum in gegenseitiger<br />
Abgrenzung voneinander entfalteten.<br />
Alles, was die Wissenschaft zu diesem Thema<br />
sagen kann, ist daher hypothetisch und vorläufig.<br />
Traditionelle Modelle der Abgrenzung<br />
Traditionelle jüdische Perspektiven<br />
Den rabbinischen Gelehrten 2 , die sich ab dem<br />
2. Jahrhundert zunächst als marginale Strömung<br />
innerhalb des werdenden Judentums formierten,<br />
präsentierte sich „das“ werdende Christentum<br />
keineswegs als eine einheitliche Gruppierung.<br />
Sie zeigten an den Auffassungen nichtjüdischer<br />
(„heidenchristlicher“) Anhänger Jesu kein Interesse,<br />
wohl aber an den Überzeugungen der jüdischen<br />
(„judenchristlichen“) Parteigänger des<br />
Nazareners.<br />
Was die „Heiden“ glaubten oder dachten, war in<br />
den Augen der Rabbinen vollkommen deren Angelegenheit;<br />
ihre Kulte und Religionen fielen als<br />
„Avoda Sara“ (d. i. Fremd- oder Götzendienst)<br />
nicht in das Ressort rabbinischer Zu ständigkeit.<br />
Nichtjuden waren kein Teil Israels und daher von<br />
der Verpflichtung auf die Tora ausgenommen.<br />
Was allerdings jüdische An hänger Jesu glaubten<br />
oder taten, betraf die Gelehrten unmittelbar. Sie<br />
vertraten die Auffassung, dass es sich bei den<br />
Nazarenern um eine Form von Abweichung<br />
(„Minut“) von dem von Mose vermittelten Weg<br />
der Gebote handelte. Zu den „Minim“ (Anhänger<br />
einer Minut) zählten neben den „Judenchristen“<br />
auch jüdische Gnostiker, welche die Identität von<br />
Schöpfer- und Erlösergott leugneten.<br />
Während die frühen rabbinischen Gelehrten also<br />
den „Heidenchristen“ gegenüber so etwas wie<br />
gleichgültige Duldsamkeit an den Tag legten,<br />
rieten sie dazu, allzu intensiven Kontakt mit den<br />
jüdischen Jesusanhängern zu vermeiden. Diese<br />
sollten keine Gelegenheit erhalten, ihre Lehren<br />
zu verbreiten.<br />
In den Augen der Rabbinen bildete ihre eigene<br />
Interpretation und Aktualisierung der Gebote<br />
der Tora, wie sie zuerst in der Mischna (Ende<br />
des 2. Jh.) zusammengefasst wurde, die einzig<br />
legitime Weiterführung der Traditionen Alt-<br />
Israels.<br />
1<br />
Als deuterokanonische Literatur bezeichnet man diejenigen<br />
Werke, die zeitlich parallel bzw. nach Abschluss des jeweiligen<br />
Kanons der Bibel verfasst worden sind. Ältere Begriffe für dieses<br />
gewaltige Korpus spätantiker Texte sind „Apokryphen“ oder<br />
„Pseudepigraphen“.<br />
2<br />
Als Rabbinen (von hebr. Rabbi, in etwa: „mein Meister“) bezeichnet<br />
man eine Gruppe von jüdischen Gelehrten, die etwa ab dem<br />
2. Jahrhundert versuchten, die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem<br />
zu kompensieren. Auffassungen und Methoden der Rabbinen kann<br />
man aus den Schriften dieser Strömung entnehmen, zu denen die<br />
Mischna, die Midraschim (Anmerkungen zur Bibel) und – allen<br />
voran – der (babylonische) Talmud gehören.<br />
Seite 2 — EINE ZWILLINGSGEBURT EINE ZWILLINGSGEBURT — Seite 3
Die Art und Weise, wie die Rabbinen die werdende<br />
christlichen Kirche wahrnahmen, wandelte<br />
sich indessen Jahrhunderte später, vermutlich<br />
auch unter dem Eindruck der Herrschaft<br />
Konstantins und seiner Nachfolger. Der Babylonische<br />
Talmud (6./7. Jh.) repräsentiert(e) möglicherweise<br />
wesentlich offensivere Formen der<br />
rabbinischen Auseinandersetzung mit „den<br />
Christen“. Deren genauer Umfang ist jedoch im<br />
Detail schwer zu bestimmen, da die literarische<br />
Gestalt der talmudischen Polemik eindeutige<br />
Identifizierungen meist nicht zulässt. Zudem<br />
wurde der Talmud im Mittelalter schweren<br />
Zensurmaßnahmen unterworfen, die sich gerade<br />
gegen dessen vermeintlich antichristliche Äußerungen<br />
richteten.<br />
Ein typisches Beispiel für die Polemik des babylonischen<br />
Talmud gegen frühchristliche Lehren,<br />
in diesem Fall mit indirektem Bezug auf Mt<br />
5,13, liefert bBekhorot 8b. Rabbi Jehoschu‘a ben<br />
Chananja begibt sich in das Athenäum [in Rom],<br />
um vorgeblich von den dortigen Weisen zu<br />
lernen. Es entspinnt sich eine Art Wettkampf, bei<br />
dem die Weisen dem Rabbi Aufgaben und Fangfragen<br />
vorlegen, die Jehoschu‘a jeweils souverän<br />
pariert.<br />
Sie [die nichtjüdischen Weisen] sagten zu ihm [Rabbi<br />
Jehoschu’a]: Erzähle uns eine fiktionale Geschichte!<br />
Sagte er ihnen: Da gab es jenes Maultier, das geboren<br />
hatte. Es hatte einen Zettel um den Hals zu hängen,<br />
auf dem stand geschrieben: Es gibt eine Forderung<br />
gegen das Haus meines Vaters [in Höhe von] hunderttausend<br />
Zuz. Sagten sie ihm: Wie soll denn ein Maul -<br />
tier gebären? Sagte er ihnen: Das ist doch eine fiktionale<br />
Geschichte! [Sie fragten ihn:] Salz, welches schwach<br />
geworden ist – womit soll man es salzen? Sagte er<br />
ihnen: Mit der Nachgeburt eines Maultiers. [Fragten<br />
sie:] Gibt es etwa eine Nachgeburt eines Maultiers?!<br />
– Und Salz, kann es schwach werden?! (bBekhorot 8b)<br />
Natürlich könnte man den kleinen Dialog als<br />
dasjenige nehmen, was er auf der Textoberfläche<br />
ist: Ein Wettstreit um pfiffige Reaktionen auf absurde<br />
Ansinnen. Das Bild vom Salz, das seinen<br />
Geschmack verloren hat und nur noch dazu taugt,<br />
herausgeworfen und zertreten zu werden (Mt<br />
5,13), ist jedoch ziemlich prägnant. Schließlich<br />
wurde es zumeist auf das „alte“ Volk des Bundes,<br />
auf Israel, bezogen, das „schwach geworden“ und<br />
deshalb durch das neue „Salz der Erde“ ersetzt<br />
werden musste. Der Talmud fragt nun (mit<br />
gewisser Berechtigung): Ja, geht denn das? Kann<br />
das Salz (des Alten Bundes) seine Kraft verlieren?<br />
Sicher, lautet die bissige Antwort: Leute, die an<br />
die Gebärfähigkeit eines Maultiers glauben,<br />
könnten auch die Entsalzung von Salz für möglich<br />
halten. Noch sardonischer wirkt die Passage,<br />
wenn man davon ausgeht (wofür einiges spricht) 3 ,<br />
dass das unverhofft fruchtbare Tier als Chiffre für<br />
die Jungfrau steht, die nach menschlichem<br />
Ermessen auch nicht zum Hervorbringen von<br />
Kindern taugt. Menschen, die absurden fiktionalen<br />
Geschichten aufsitzen, ist nicht zu helfen.<br />
Traditionelle Modelle der Abgrenzung<br />
Traditionelle christliche Perspektiven<br />
Für die frühen „christlichen“ Autoren war die<br />
Frage, wer als rechtmäßiger Interpret der (biblischen)<br />
Traditionen Alt-Israels gelten konnte,<br />
ebenso klar wie sie es für die Rabbinen war: Die<br />
werdende Christenheit erklärte sich zur einzig<br />
legitimen Erbin der Hebräischen Bibel. Sie war<br />
das „Neue Israel“; sie war als Partnerin des „Neuen<br />
Bundes“ mit dem Gott Israels verbunden und<br />
verdrängte das jüdische Volk, das „Alte Israel“, aus<br />
seiner einzigartigen Beziehung zum Ewigen.<br />
Das auf dem Horeb gegebene Gesetz ist bereits veraltet<br />
und gehört euch allein, das unsere aber ist für<br />
alle Menschen überhaupt. Ist aber ein Gesetz gegen<br />
ein anderes aufgestellt, so abrogiert es das frühere,<br />
und ein späteres Bündnis hebt in gleicher Weise das<br />
frühere auf. Als ewiges und endgültiges Gesetz ist<br />
uns Christus gegeben, und verlassen können wir uns<br />
auf den Bund, dem kein Gesetz, keine Verordnung,<br />
kein Gebot folgt. […] Das wahre, geistige Israel<br />
nämlich und die Nachkommen Judas, Jakobs, Isaaks<br />
und Abrahams, der trotz seiner Vorhaut, infolge<br />
seines Glaubens, von Gott sein Zeugnis erhielt, von<br />
ihm gesegnet und zum Vater vieler Völker ernannt<br />
wurde, das sind wir, die wir durch diesen gekreuzigten<br />
Christus zu Gott geführt wurden, wie sich<br />
noch im Laufe des weiteren Gespräches zeigen wird. 4<br />
Diese theologische Auffassung bezeichnet man<br />
in der Forschung als „Substitutionstheorie“. Im<br />
Grunde dominierte diese Sicht auf die Dinge<br />
sowohl die christliche Theologie, als auch die theologisch<br />
inspirierte religionshistorische Perspektive<br />
bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts.<br />
Wie in der rabbinischen Sicht gewissermaßen<br />
eine direkte Linie von der Tora Moses bis zu<br />
Mischna und Talmud führt, so sah sich die<br />
werdende Kirche in völliger Kontinuität zu<br />
„Mose“; das als überlebt interpretierte Judentum<br />
re präsentierte demgegenüber eine „Häresie“ –<br />
eine Irrlehre.<br />
Traditionelle Modelle der Abgrenzung<br />
Traditionelle pagane („heidnische“)<br />
Perspektiven<br />
Vielen paganen Außenbeobachtern, wie beispielsweise<br />
dem Philosophen Kelsos (Celsus;<br />
Ende des 2. Jh.), fehlte für diese heftigen Abgrenzungsprozesse<br />
zwischen „Juden“ und „Christen“<br />
jegliches Verständnis. Wenn überhaupt Unterschiede<br />
zwischen beiden wahrgenommen wurden<br />
(was längst nicht immer der Fall war), dann<br />
präsentierte sich das werdende Christentum als<br />
ein merkwürdig verdrehtes Judentum. Meistens<br />
nahm man beide Gemeinschaften als Konglomerat<br />
eines orientalischen Kultes wahr, der entweder<br />
als (synkretistisch) attraktiv oder als gefährlich<br />
bzw. absurd empfunden wurde.<br />
Wir wollen nun bedenken, was er den gläubig<br />
gewordenen Juden zu sagen hat. Er behauptet: „dass sie,<br />
verführt von Jesus, ihr von den Vätern ererbtes Gesetz<br />
verlassen hätten und in ganz lächerlicher Weise betrogen<br />
worden wären und zu einem andern Namen und zu<br />
einem andern Leben übergelaufen seien“ , wobei er nicht<br />
einmal dies bedenkt, dass die zum Glauben an Jesus<br />
bekehrten Juden „ihr von den Vätern ererbtes Gesetz“<br />
gar nicht „verlassen haben“. Denn sie leben nach dessen<br />
Vorschriften und haben auch von der Armut des<br />
Gesetzes, die dann vorhanden ist, wenn man es versteht,<br />
ihren Namen erhalten.[…] Hätte Celsus dies alles<br />
gewußt, so hätte er seinen Juden nicht diese Worte „zu<br />
den Bekehrten aus dem Judentume sprechen lassen; „Was<br />
ist euch widerfahren, ihr Bürger, dass ihr das von den<br />
Vätern ererbte Gesetz verlassen habt und von jenem,<br />
mit dem wir uns eben unter redet haben, verlockt, in<br />
ganz lächerlicher Weise betrogen worden, und von uns<br />
zu einem andern Namen und zu einem andern Leben<br />
übergelaufen seid? 5<br />
Es zeigt sich, dass die zeitgenössischen Autoren<br />
eine jeweils höchst eigene Sicht auf die Entwicklung<br />
der beiden Gruppierungen propagierten, die<br />
sich in der Regel nicht durch Feinfühligkeit und<br />
‚Objektivität‘ auszeichnete. Ein wesentlicher<br />
Unterschied zwischen den Rabbinen und ihren<br />
‚christlichen‘ Gegenspielern bestand darin, dass<br />
Erstere prinzipiell kein Interesse an nichtjüdischen<br />
Anhängern zeigten: Was die Heiden<br />
glaubten und praktizierten, war vollständig deren<br />
Angelegenheit. Nichtjuden wurden nicht missioniert.<br />
Ganz anders verhielt sich das werdende<br />
Christentum. Es entwickelte sich zu einer universal<br />
ausgerichteten Strömung, die alle Menschen<br />
erreichen und bekehren wollte.<br />
Für die spätantike Welt implizierte diese Weichenstellung<br />
nichts weniger als eine Revolution.<br />
Vor der universalen Ausrichtung des werdenden<br />
Christentums gab es im Wesentlichen zwei Arten<br />
von ‚Religionen‘ (besser: Kulten): Zum einen<br />
wurden die Götter im traditionellen Rahmen der<br />
eigenen Ethnie, der eigenen Stadt bzw. der<br />
eigenen Kultur gepflegt. 6 Man wurde also in eine<br />
3<br />
Vgl. Peter Schäfer, Jesus in the Talmud, Princeton, Oxford 2007, S. 23-24.<br />
4<br />
Justin Martyr (ca. 100-165), Dialog mit dem Juden Tryphon, XI, 2.5;<br />
zitiert nach: Bibliothek der Kirchenväter (BKV): http://www.unifr.ch/bkv/<br />
kapitel100-10.htm; letzter Zugriff: 04.10.2012, 17:36 Uhr.<br />
5<br />
Das Zitat bietet einen Auszug aus Origenes‘ Hauptwerk Contra Celsum,<br />
in welchem der alexandrinische Kirchenvater ausführlich (und zumeist<br />
werkgetreu) aus der Polemik des paganen Philosophen Kelsos (spätes<br />
2. Jh.), , „Wahre Lehre“, gegen das Christentum zitiert. Vgl.<br />
Origenes, Contra Celsum II,1.4; zitiert nach: Bibliothek der Kirchenväter,<br />
http://www.unifr.ch/bkv/kapitel139.htm; letzter Zugriff:<br />
04.10.2012, 18:08 Uhr<br />
6<br />
Zusätzlich zur regionalen und ethnischen Loyalität brachte man auch<br />
seine politische Zugehörigkeit beispielsweise zum Imperium Romanum<br />
kultisch zum Ausdruck. Es sind dies die sog. Herrscher- oder Kaiserkulte,<br />
die von den Bewohnern eines Landes in der Regel selbstverständlich geübt<br />
wurden. Nur das jüdische Volk war von dessen üblichen Formen dispensiert,<br />
musste aber im Tempel zu Jerusalem seine Loyalität zum Imperium Romanum<br />
durch eigenständige Opfer und Liturgien erweisen..<br />
Seite 4 — EINE ZWILLINGSGEBURT<br />
EINE ZWILLINGSGEBURT — Seite 5
Um die teilweise<br />
harschen Reaktionen<br />
der Umwelt auf diesen<br />
neu entstehenden ‚Kult‘<br />
zu verstehen, muss man<br />
sich vergegenwärtigen,<br />
dass das werdende<br />
Christentum im Grunde<br />
jede der bewährten<br />
und alten Konventionen<br />
kultischer Sozialisation<br />
in Frage stellte.<br />
‚Religion‘ hineingeboren, die man aufgrund der<br />
familiären Bindung und der politisch-sozialen<br />
Loyalität zu seinem Wohnumfeld selbstverständlich<br />
praktizierte. Zum anderen existierten zahlreiche<br />
überregionale ‚Religionen‘, wie zum Beispiel<br />
die sog. Mysterienkulte (zum Beispiel der<br />
Mithras- oder der Isiskult). Diese konnte man<br />
aus persönlicher Neigung, gewissermaßen privat,<br />
der heimatlichen öffentlichen ‚Religion‘ hinzu<br />
fügen. Im Ergebnis entstanden zahlreiche Synkretismen<br />
– Mischformen und Verschmelzungen<br />
regionaler und überregionaler Kulte oder individuelle<br />
Kombinationen aus privater und öffentlicher<br />
religiöser Praxis.<br />
Im Unterschied zum ‚Judentum‘, das sich als ethnisch<br />
ausgerichtete ‚Religion‘ beinahe nahtlos in<br />
den spätantiken Kontext fügte, brach das werdende<br />
Christentum mit vielen dieser Jahrhunderte<br />
alten Konventionen: Es ließ sich gerade nicht auf<br />
ethnische Begrenzungen ein, es verweigerte<br />
jedweden Synkretismus und nahm für sich die<br />
‚jüdischen‘ Privilegien in Anspruch, nicht am üblichen<br />
Herrscherkult teilzuhaben. Um die teilweise<br />
harschen Reaktionen der Umwelt auf<br />
diesen neu entstehenden ‚Kult‘ zu verstehen, muss<br />
man sich vergegenwärtigen, dass das werdende<br />
Christentum im Grunde jede der bewährten und<br />
alten Konventionen kultischer Sozialisation in<br />
Frage stellte. 7<br />
Exkurs: Paulus<br />
Wie kam es dazu? Wie konnte sich eine kleine<br />
Gruppe jüdischer Jesusanhänger zu einer universal<br />
missionierenden Strömung entwickeln? Eine<br />
erste Weichenstellung, die letztlich in die beschriebene<br />
Revolution mündete, vollzog sich<br />
schon recht früh. Man sieht sie bereits im theologischen<br />
Konzept des Paulus (starb ca. 65), dem<br />
die Christenheit die ältesten Stellungnahmen<br />
zum Wirken Jesu verdankt.<br />
Im Folgenden wird versucht, quasi im Telegrammstil,<br />
eine Sicht auf den ältesten Autor des<br />
Neuen Testament zu entwickeln, die ihn bewusst<br />
im Kontext der beschriebenen ‚kultischen Revolution‘<br />
verortet. 8 In Teilen der neutestamentlichen<br />
Wissenschaft hat sich die Auffassung durchgesetzt,<br />
Paulus als einen jüdischen Denker zu be-<br />
schreiben. Wie sich zeigen wird, kann diese Perspektive<br />
tatsächlich dazu verhelfen, sein Anliegen<br />
und seine Aktivitäten besser zu verstehen.<br />
Paulus, der mit seinem jüdischen Traditionsnamen<br />
Scha’ul (Saul) hieß, wurde in eine griechisch<br />
sprachige Familie in Tarsus hineingeboren. Es hat<br />
den Anschein, als habe er eine sorgfältige jüdische<br />
Ausbildung erfahren. Er kannte die Bibel, verstand<br />
sich auf jüdische Interpretationstechniken<br />
und beherrschte wohl auch die hebräische Sprache.<br />
In einem seiner autobiographischen Zeugnisse<br />
(Gal 1,13-14) bezeichnet er sich selbst als<br />
Traditionalisten und radikalen Eiferer für die<br />
Tora, der die frühe Jesusbewegung als gefährlich<br />
einstufte und verfolgte.<br />
An einem bestimmten Zeitpunkt erfuhr er eine<br />
Vision des auferstandenen Christus (1 Kor 15,8-<br />
9). 9 Dies Ereignis sollte zu seiner ultimativen Lebenswende<br />
werden. Für Paulus, den traditionell<br />
ausgebildeten Juden, konnte die Gewissheit, dass<br />
Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt<br />
worden war, nur eines bedeuten: Die Endzeit war<br />
angebrochen, die Auferstehung aller Toten und<br />
das Jüngste Gericht stand unmittelbar bevor.<br />
Nun galt es zu reagieren. Etliche prophetische<br />
Texte der Bibel setzen voraus, dass „am Ende der<br />
Tage“ auch die Weltvölker ihre Ablehnung des<br />
Gottes Israels aufgeben und zum Zion pilgern<br />
werden:<br />
Am Ende der Tage wird es geschehen:/ Gegründet steht<br />
der Berg mit dem Haus des Ewigen /als höchster der<br />
Berge/ überragt er die Hügel. /Es strömen zu ihm / alle<br />
Völker. / es gehen viele Nationen und sagen: / Auf, lasst<br />
uns zum Berg des Ewigen hinaufziehen, / zum Haus<br />
des Gottes Jakobs. / Er lehre uns Seine Wege, / auf<br />
Seinen Pfaden wollen wir gehen. / Denn von Zion<br />
zieht Weisung [Tora] aus, /und das Wort des Ewigen<br />
aus Jerusalem./ Er richtet unter den Völkern, / weist<br />
viele Nationen zurecht./ Dann schmieden sie ihre<br />
Schwerter zu Pflugscharen / und ihre Lanzen zu<br />
Winzermessern./ Kein Volk erhebt mehr/ gegen Volk<br />
ein Schwert. /Und man lernt nicht mehr den Krieg.<br />
( Jes 2,2-4)<br />
Für Paulus (wie übrigens auch für andere jüdische<br />
Denker zu anderen Zeiten) war klar, dass der Anbruch<br />
der Endzeit einen Paradigmenwechsel im<br />
Verhalten gegenüber den Nichtjuden bedeutete:<br />
Sie mussten jetzt so schnell wie möglich zum<br />
Gott Israels bekehrt werden, damit der Alte Äon<br />
so bald wie möglich an sein Ende kam und das<br />
eschatologische Friedensreich anbrechen konnte.<br />
So erklärt sich die fiebrige Hast, mit der Paulus<br />
von Stadt zu Stadt eilte, um möglichst vielen<br />
Heiden „sein Evangelium“, seine Variante der<br />
Frohen Botschaft zu überbringen, die davon<br />
handelte, dass ein erster Mensch vom Tode<br />
erweckt worden war:<br />
Ich erinnere euch aber, Brüder, der frohen Botschaft<br />
[des Evangeliums], die ich euch gefrohbotschaftet habe,<br />
die ihr auch angenommen habt […]:<br />
Ich habe euch nämlich zuerst überliefert, was auch<br />
ich empfangen habe: dass Christus gestorben ist für<br />
unsere Sünden entsprechend der Schriften und dass<br />
er begraben wurde und dass er am dritten Tage<br />
auferweckt wurde entsprechend der Schriften und<br />
dass er gesehen wurde von Kephas und danach von<br />
den Zwölf. (1Kor 15,1.3-5) Für Paulus war es<br />
ziemlich unwichtig, wie genau Jesus gelebt oder was<br />
er gelehrt hatte. Entscheidend für ihn war die Tatsache,<br />
dass ein Mensch (sündlos) gelebt hatte und tatsächlich<br />
gestorben war (schließlich wurde er ja begraben)<br />
und dass dieser selbe Mensch auferweckt wurde<br />
(schließlich wurde er von Kephas/Petrus und vielen<br />
anderen gesehen, darunter als letztem auch von<br />
Paulus). Damit war die Endzeit zweifelsfrei<br />
angebrochen.<br />
Der übliche Weg, die Nichtjuden zum Gott<br />
Israels zu bekehren, erforderte eine sorgfältige<br />
7<br />
Vgl. Guy Stroumsa, Doppelhelix, und Paula Frederikson,<br />
Christianity.<br />
8<br />
Der Kern der folgenden Ausführungen verdankt sich John Gager,<br />
Reinventing Paul.<br />
9<br />
An anderer Stelle (2 Kor 12,2-4) beschreibt er seine Erfahrung im<br />
Stile einer Himmelsreise, während derer er „in den dritten Himmel<br />
entrückt“ wurde und dort „unaussprechliche Worte“ hörte.<br />
EINE ZWILLINGSGEBURT — Seite 7
Instruktion in den jüdischen Traditionen, sodann<br />
mussten sich die Männer der Beschneidung<br />
unterziehen. Eben dieses Verfahren wurde auch<br />
von (fast) allen anderen Aposteln der frühen<br />
Jesus bewegung propagiert, die wie Paulus der<br />
Meinung waren, die Endzeit sei nun ange brochen,<br />
weswegen man die Heiden nun zum Zion<br />
bringen müsse.<br />
Paulus war völlig anderer Auffassung. Ihm drängte<br />
die Zeit so sehr, dass er sozusagen ein vereinfachtes<br />
Verfahren vorschlug, um den Heiden den<br />
Eintritt in das „alte“ (!) Gottesvolk zu ermöglichen.<br />
Die theologische Konstruktion, die diesen<br />
„Noteingang“ begründen sollte, bezeichnet man<br />
als Rechtfertigungslehre. Paulus zufolge hatten<br />
sowohl Juden (durch die Gebote der Tora),<br />
als auch Heiden (durch die wohlgeordnete<br />
Schöpfung) Kenntnis vom Willen des Ewigen.<br />
Wer diesen aber ignorierte oder ihm nicht<br />
entsprechen konnte, würde sich im Endgericht<br />
die Todesstrafe zuziehen. Jesus hatte nun – trotz<br />
seines sündlosen Lebens – den Kreuzestod<br />
er leiden müssen. Dies konnte man sich nur in der<br />
Weise erklären, dass er diese Strafe gewissermaßen<br />
freiwillig und stellvertretend für alle<br />
anderen auf sich genommen hatte („stellvertretender<br />
Sühnetod“). Paulus meinte nun, dass<br />
sich Nichtjuden auf diese durch Jesus bereits vorweg<br />
genommene Todesstrafe glaubend berufen<br />
könnten. Dies müssten sie durch die Taufe dokumentieren,<br />
wodurch sie durch den Heiligen Geist<br />
zu einer „neuen Kreatur“ würden und deshalb die<br />
Gebote der Tora einhalten könnten. Auf diese<br />
Weise sollten die Heiden auch ohne langwierige<br />
Belehrung und Beschneidung zu Mitgliedern des<br />
Volkes Israel werden.<br />
Für die Juden galt dieses Verfahren übrigens<br />
nicht. Sie waren ja bereits Teil des Gottesvolkes<br />
und glaubten schon an den Ewigen Israels und<br />
waren außerdem durch die Beschneidung auf die<br />
Einhaltung der Gebote der Tora verpflichtet.<br />
Allerdings wurde Paulus nicht müde zu betonen,<br />
dass der Zugang zu Israel durch die Taufe keineswegs<br />
eine Mitgliedschaft „zweiter Klasse“ implizierte.<br />
Niemand, weder Jude noch Heide, hätte<br />
qua Abstammung, wegen seiner Beschneidung<br />
oder aufgrund seiner Unbeschnittenheit irgendeinen<br />
Vorzug vor dem anderen.<br />
Der Universalismus der werdenden Christenheit<br />
verdankte sich also der Überzeugung, dass durch<br />
die Auferweckung Jesu die Endzeit angebrochen<br />
war und dass nun ein/e jede/r zum Einen Gott<br />
(Israels) bekehrt werden müsse. Der von Paulus<br />
sehr erfolgreich propagierte Sonderweg für die<br />
Heiden, dessen komplizierte theologische Begründung<br />
übrigens schon in der Generation nach<br />
ihm nicht mehr wirklich verstanden wurde, führte<br />
zu großen missionarischen Erfolgen des werdenden<br />
Christentums gerade unter Nichtjuden.<br />
In manchen („heidenchristlich“ dominierten)<br />
Gemeinden hatte der Verzicht auf die Unterweisung<br />
und die Beschneidung allerdings auf<br />
lange Sicht den Nebeneffekt, dass sie sich von der<br />
jüdischen Tradition zunehmend entfremdeten<br />
bzw. diese gar nicht erst kennenlernten.<br />
Wissenschaftliche Perspektiven<br />
Wendet man sich den wissenschaftlichen Modellen<br />
zu, die zur Beschreibung der Entwicklung des<br />
frühen Judentums bzw. des werdenden Christentums<br />
entwickelt wurden, so macht man zunächst<br />
die bestürzende Beobachtung, dass diese Konzepte<br />
hochgradig von den jeweils herrschenden<br />
theologischen Vorgaben abhängig sind. Mit der<br />
„Objektivität“ der Wissenschaft ist es eben nicht<br />
so weit her – was keineswegs nur für die Theologie<br />
gilt. Eigentlich wäre ja denn auch das Gegenteil<br />
erstaunlich: Wenn es nämlich den Forscher/<br />
innen gelänge, sich in ihrem Urteil von den<br />
Paradigmata ihrer jeweiligen gesellschaftlichen<br />
Kontexte gänzlich unabhängig zu halten.<br />
Frühjudentum als „Spätjudentum“‒<br />
verkappte Substitutionslehre<br />
Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts<br />
(und bei manchen christlichen Gelehrten noch<br />
darüber hinaus) importierte eine Mehrheit der<br />
Wissenschaftler/innen die Substitutionslehre in<br />
ihre Darstellungen der Vorgänge im ersten und<br />
zweiten Jahrhundert. Als besonders entlarvend<br />
erscheint in diesem Zusammenhang der Begriff<br />
„Spätjudentum“, der tatsächlich für das werdende<br />
Judentum der ersten Jahrhunderte (!) zum Einsatz<br />
kommt.<br />
Diesem Terminus liegt die Überzeugung zugrunde,<br />
dass sich die Entwicklung der ‚Religion‘<br />
Alt-Israels in mehreren Etappen gewissermaßen<br />
konsequent auf Jesus von Nazareth hin vollzog.<br />
Auf die „Religion des Moses“, repräsentiert durch<br />
die Tora, folgte nämlich (jenem Modell gemäß) die<br />
„Religion der Propheten“. Diese stellte gegenüber<br />
‚mosaischen‘ Entwicklungsstufe, die eher archaischen<br />
Vergeltungsmechanismen verpflichtet war,<br />
einen wesentlichen Fortschritt dar. Den Neuansätzen<br />
der „zwischentestamentarischen Zeit“, in<br />
der apokalyptische Konzepte und mit ihnen die<br />
Vorstellung von Auferstehung und eines Lebens<br />
nach dem Tode entstanden, folgte die Zeit Jesu<br />
und, parallel dazu, eben das „Spät judentum“.<br />
Der Begriff impliziert, es mit einem absterbenden<br />
Phänomen zu tun zu bekommen, das sich – eben<br />
wegen des zeitgleichen Auftretens Jesu – eigentlich<br />
schon von selbst erledigt hatte. Erstaunlich<br />
nur, dass diejenigen Autor/innen, die jenen Begriff<br />
im 20. Jahrhundert immer noch verwendeten,<br />
es inzwischen mit fast zwei Jahrtausenden<br />
„Spätjudentum“ zu tun gehabt hatten.<br />
„Parting of The Ways“ ‒<br />
das Modell der „getrennten Wege“<br />
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde das beschriebene<br />
Stufenmodell von der Überzeugung<br />
abgelöst, Judentum und Christentum wären zu<br />
einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung<br />
einfach „getrennte Wege“ gegangen („parting of<br />
the Ways“). Dabei wurde grundsätzlich vorausgesetzt,<br />
das ‚Christentum‘ hätte sich vom bereits<br />
bestehenden ‚Judentum‘ abgegrenzt. Das gegenseitige<br />
Verhältnis könnte man demzufolge als<br />
Mutter-und Tochter-Religionen beschreiben. 10<br />
Recht unterschiedlich wurden allerdings die Einsatzpunkte<br />
jener Trennung datiert. Manche sahen<br />
bereits in Jesus von Nazareth den „Begründer des<br />
Christentums“, da er es mit der Einhaltung mancher<br />
Gebote nicht so genau genommen und überdies<br />
eine den Heiden gegenüber aufgeschlossene<br />
Haltung an den Tag gelegt hätte. Andere erkoren<br />
Paulus zum „Religionsstifter“: Jesus habe als Jude<br />
gelebt und sei als Jude gestorben; bei seinem Tod<br />
wäre von einer Hinwendung zu Nichtjuden gar<br />
nichts zu sehen gewesen. Der Apostel aus Tarsus<br />
hätte indessen mit seiner Heidenmission ohne<br />
Beschneidung einen tiefen Keil zwischen die Anhänger<br />
Jesu und das jüdische Volk getrieben.<br />
Demgegenüber datieren wieder andere das<br />
Trennungsdatum noch später. Die Zerstörung<br />
Jerusalems und des Tempels im Gefolge des<br />
Großen Jüdischen Aufstandes (66-70) sei für die<br />
Trennung der Wege verantwortlich zu machen.<br />
Für beide Gemeinschaften wäre eine tief greifende<br />
Neuorientierung erforderlich gewesen, die<br />
letztlich gravierende Unterschiede zwischen<br />
beiden generiert hätte. Vielleicht aber muss das‚<br />
parting of the ways‘ noch später angesetzt werden<br />
– etwa in die Zeit des Bar-Kochba-Aufstandes<br />
(132-135). Immerhin berichtet Justin Martyr<br />
(ca. 100-165) in seiner Apologie (I,31), die Juden<br />
hätten die Christen verfolgt, weil sie an besagtem<br />
Aufstand nicht teilnehmen wollten. Eine Aufforderung<br />
zum Mitkämpfen wäre aber nur dann<br />
sinnvoll gewesen, wenn es noch nicht zu einer<br />
Trennung zwischen beiden gekommen wäre…<br />
„Wave-Theory“ – oder:<br />
Alles ist ein wenig komplexer<br />
Die Probleme einer solchen „Trennung der Wege“<br />
treten bei genauerem Hinsehen schnell zutage:<br />
Komplexe und diffuse Gebilde wie (religiöse)<br />
Strömungen, die sich aus vielen einzelnen Gruppen<br />
in unterschiedlichen Regionen zusammensetzen,<br />
sind keine Straßen, die sich mal eben<br />
gabeln können. Jede Art von ‚parting of the ways‘<br />
setzt jedoch voraus, dass es sich bei ‚Judentum‘<br />
und ‚Christentum‘ jeweils um homogene Größen<br />
handelt.<br />
Weiterhin erweist es sich als problematisch, dass<br />
die Wissenschaft ihren Denkmodellen allzu oft<br />
einen modernen Begriff von Religion (etwa im<br />
Sinne von „Konfession“) zugrunde legt. Dieser<br />
lässt sich jedoch auf die spätantiken Verhältnisse<br />
nicht übertragen. Die ‚Kulte‘ der ersten Jahrhunderte<br />
erfüllten eine ganze Reihe von öffentlichen<br />
10<br />
Vgl. Adam H. Becker, Annette Yoshiko Reed (Hg.), The Ways that<br />
Never Parted: Jews and Christians in Late Antiquity and the Early<br />
Middle Ages, Fortress Press 2007.<br />
Seite 8 — EINE ZWILLINGSGEBURT<br />
EINE ZWILLINGSGEBURT — Seite 9
Funktionen, die den ‚Religionen‘ Europas nach<br />
den Konfessionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts<br />
mit guten Gründen entzogen wurden.<br />
Sie waren keineswegs von theoretischen Lehrgebäuden<br />
(Theologien) geprägte Vereinigungen,<br />
die sich um die spirituellen Anliegen ihrer Mitglieder<br />
zu sorgen hatten.<br />
So ist es durchaus nicht plausibel, die Lehrmeinung<br />
eines bestimmten Gelehrten, zum Beispiel<br />
des nordafrikanischen Theologen Tertullian (um<br />
150-220), für besonders repräsentativ zu halten.<br />
Niemand vermag genau zu sagen, ob und, wenn ja,<br />
wie sehr die überlieferten Schriften der spätantiken<br />
Autoren die Bevölkerung erreichten. Immerhin<br />
konnten die weitaus meisten Menschen<br />
nicht lesen und schreiben; Handschriften waren<br />
zumeist teuer und daher in ihrer Reichweite begrenzt.<br />
Mit Sicherheit haben Predigten, öffentliche<br />
Reden und Debatten sowie mündlich<br />
tradierte Erzählungen einen weitaus größeren<br />
Eindruck hinterlassen – leider sind diese wiederum<br />
selten im Nachhinein aufgeschrieben worden.<br />
Wer also versucht, die Anfänge von Judentum<br />
und Christentum auf der Basis der tradierten<br />
Texte zu rekonstruieren, muss vorsichtig sein: Es<br />
ist gut möglich, dass manche Äußerungen, die<br />
aufgrund des gegenwärtig vorliegenden Bildausschnittes<br />
repräsentativ erscheinen, es tatsächlich<br />
gar nicht waren. Die Konsequenz kann nur<br />
lauten, sämtliche Vorgänge für komplexer und<br />
diffuser zu halten, als sie auf den ersten Blick<br />
erscheinen.<br />
Diesem Anliegen versucht die gegenwärtige<br />
Forschung dadurch zu entsprechen, dass sie<br />
die Grenzen zwischen den beiden werdenden<br />
‚Religionen‘ durchlässig denkt. 11 Impulse und<br />
Innovationen – etwa platonische Konzepte oder<br />
magische Techniken – wurden aus der Umwelt<br />
aufgenommen und parallel verarbeitet. Ebenso<br />
beeinflussten sich die beiden permanent gegenseitig;<br />
die Abgrenzungsprozesse vollzogen sich<br />
eher osmotisch als hermetisch.<br />
Daniel Boyarin, einer der Exponenten dieses<br />
Paradigmenwechsels, hat vorgeschlagen, sich „das<br />
Judentum und das Christentum des zweiten und<br />
dritten Jahrhunderts als Markierungspunkte auf<br />
einer Skala“ zu denken, 12 die von der völligen Ablehnung<br />
der Hebräischen Bibel (und mit ihr der<br />
gemeinsamen Wurzel von Juden und Christen)<br />
durch die Marcioniten bis zur völligen Ablehnung<br />
Jesu durch manche jüdische Gruppen reicht.<br />
Zwischen diesen beiden Extremen existierten<br />
jedoch vielerlei Zwischenstufen, bei denen der<br />
Grad gegenseitiger Abgrenzung weit weniger<br />
deutlich war. Diese Perspektive bezeichnet<br />
Boyarin – unter Rückgriff auf linguistische Theoriebildungen<br />
– als Wave-Theory (Wellentheorie).<br />
Aus der Grundannahme eines breiten Spektrums<br />
mehr oder weniger interferierender judäo-christlicher<br />
Strömungen ergibt sich zum einen, dass mit<br />
sehr viel längeren Entwicklungs- und Trennungsprozessen<br />
zu rechnen ist, als es ältere Perspektiven<br />
suggerieren. Zum anderen muss wohl davon<br />
ausgegangen werden, dass sich die Ausprägung<br />
distinkter ‚jüdischer‘ und ‚christlicher‘ Identitäten<br />
in den verschiedenen Siedlungsräumen und<br />
Kulturkreisen in jeweils eigener Weise und zu<br />
unterschiedlichen Zeiten vollzog.<br />
Ein gutes Beispiel für die Komplexität dieser Vorgänge<br />
bildet Antiochia. Als eine der größten<br />
Metropolen des Imperium Romanum verfügte die<br />
Stadt sowohl über vitale jüdische, wie auch bedeutende<br />
christliche Gemeinschaften. In Antiochia<br />
wirkte von etwa 381 bis 397 Johannes Chrysostomus<br />
(344/349-407), der seinen griechischen Beinamen<br />
(„Goldmund“) außerordentlichen rhetorischen<br />
Fähigkeiten verdankte. In die Geschichte<br />
der jüdisch-christlichen Beziehungen ging er als<br />
einer derjenigen ein, der sich in seinen Predigten<br />
heftigster und wahrlich übler Invektiven gegen das<br />
jüdische Volk befleißigte. Tatsächlich bestand sein<br />
Problem darin, dass seine „christliche“ Gemeinde,<br />
die Hörer/innen seiner Predigten, nichts dabei<br />
fanden, am Schabbat in die Synagoge und am<br />
Sonntag in die Kirche zu gehen. Sie feierten jüdische<br />
und christliche Feste gleichermaßen – weil sie<br />
die ‚Grenze‘ zwischen den beiden Gemeinschaften<br />
nicht als ausschließend wahrnahmen. Sehr zum<br />
Ärger des Predigers Chrysostomus.<br />
Rekonstruktion:<br />
Der lange Weg zur eigenen Identität<br />
Dennoch braucht die Komplexität eines Prozesses<br />
niemanden davon abhalten, sich nicht an<br />
einer Darstellung der langwierigen Identitätsfindung<br />
zu versuchen. Auch in diesem Fall muss<br />
eine grobe Skizze genügen, wie sie im Rahmen<br />
eines Essays möglich ist.<br />
Das jüdische Volk (und in ihm etliche Jesusanhänger)<br />
erlebten die ersten Jahrhunderte als<br />
geprägt von schweren militärischen Katastrophen.<br />
Nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg wurde<br />
das Heilige Land von 66-70 (73) vom Großen<br />
Jüdischen Aufstand erschüttert, der für alle<br />
Bewohner – unabhängig welcher Ethnie und<br />
kultischer Zugehörigkeit – gravierende Konsequenzen<br />
hatte. Von 132 bis 135 tobte erneut ein<br />
blutiger Krieg im Lande. Dieses Mal vollzog sich<br />
das Kampfgeschehen wohl kleinräumiger, deswegen<br />
aber nicht minder heftig. In der Folgezeit<br />
kam es im gesamten Imperium zu jeweils massiven<br />
Restriktionen der Römer gegen das jüdische<br />
Volk, das beispielsweise mit einer Sondersteuer,<br />
dem fiscus iudaicus, belegt wurde.<br />
In den Jahren zwischen den beiden antirömischen<br />
Aufständen im Heiligen Land (ca. 114-117)<br />
rebellierten jüdische Gemeinschaften in der Diaspora,<br />
so in Ägypten und der Kyrenaika, auf<br />
Zypern und möglicher Weise in „Babylon“<br />
(Mesopotamien). In der Folge gingen einst<br />
blühende und bedeutende jüdische Gemeinden<br />
(wie die Alexandrias) unter; manche von ihnen<br />
für sehr lange Zeit.<br />
Im Umfeld Palästinas erfuhr das jüdische Leben<br />
schwere Beeinträchtigungen. Es scheint, dass<br />
viele Juden in den Jahrzehnten nach den Aufständen<br />
versuchten, in größtmöglicher Anpassung an<br />
die herrschende Kultur zu überleben. Mindestens<br />
deuten archäologische Befunde darauf hin, dass es<br />
im späten 2. Jahrhundert zu einer massiven Abkehr<br />
von den „väterlichen Traditionen“ in vielen<br />
jüdischen Städten Palästinas kam. 13 Eine kleine<br />
Anzahl von Gelehrten bemühte sich jedoch, ebendiese<br />
„väterlichen Traditionen“ zu erhalten, zu<br />
lehren, zu aktualisieren und im Alltag zu leben.<br />
Aus diesen marginalen, informell organisierten<br />
Gruppen entwickelte sich das sogenannte rabbinische<br />
Judentum, das zunehmenden Einfluss gewann<br />
und etwa ab dem 6. Jahrhundert die<br />
Führung des Volkes übernehmen sollte.<br />
11<br />
Vgl. Daniel Boyarin, Abgrenzungen.<br />
12<br />
Boyarin, Abgrenzungen, S. 23.<br />
13<br />
Vgl. Seth Schwartz, Imperialism and Jewish Society.<br />
Wer also versucht, die Anfänge von Judentum und Christentum<br />
auf der Basis der tradierten Texte zu rekonstruieren,<br />
muss vorsichtig sein: Es ist gut möglich, dass manche Äußerungen,<br />
die aufgrund des gegenwärtig vorliegenden Bildausschnittes<br />
repräsentativ erscheinen, es tatsächlich gar nicht waren.<br />
Seite 10 — EINE ZWILLINGSGEBURT
Zur gleichen Zeit prosperierten jüdische Gemeinden<br />
in anderen Teilen des Imperiums. Auch<br />
(zunehmend) ‚heidenchristliche‘ Gemeinschaften<br />
außerhalb Palästinas nahmen, trotz sporadischer<br />
lokaler Verfolgungen, an Bedeutung zu. Es ist<br />
wohl davon auszugehen, dass die rabbinische<br />
Lesart der „väterlichen Traditionen“, die recht<br />
eigentlich erst das „klassische Judentum“ ausprägen<br />
sollte, in jüdischen Gemeinden weiter<br />
Teile des Römischen Reiches unbekannt war bzw.<br />
keinen nennenswerten Einfluss hatte.<br />
Die „Konstantinische Wende“<br />
Die politischen Reformen Kaiser Konstantins<br />
(272/3-337) mündeten in einem (weiteren) Versuch,<br />
die Einheit des auseinander driftenden Imperiums<br />
durch kultische Reformen zu befördern.<br />
Im Jahre 313 promulgierten er und sein Mitkaiser<br />
Licinius die „Mailänder Vereinbarung“, die es den<br />
Bewohnern des Reiches – unter ihnen ausdrücklich<br />
auch den Christen – gestattete, einer religio<br />
ihrer Wahl anzuhängen. Die Aufwertung des<br />
Christentums zu einer „Staatsreligion“ war damit<br />
nicht impliziert, auch wenn Konstantin in den<br />
folgenden Jahren christliche Institutionen und<br />
Personen ausdrücklich förderte.<br />
Die erheblichen Konsequenzen, die sich aus den<br />
konstantinischen Reformen für das werdende<br />
Christentum ergaben, sind hinlänglich bekannt.<br />
Im Folgenden soll es deshalb vor allem darum gehen,<br />
welche Auswirkungen diese für das werdende<br />
Judentum und für das gegenseitige Verhältnis<br />
zeitigten.<br />
Die Privilegierung des Christentums brachte zunächst<br />
keine reale Verschlechterung der jüdischen<br />
Belange mit sich; es kam – im Gegenteil – zunächst<br />
zu einem Aufschwung jüdischen Lebens<br />
gerade in Palästina. Die Reformen Konstantins<br />
beinhalteten nämlich unter anderem eine Stärkung<br />
kultureller Selbstverwaltung, wovon reger<br />
Gebrauch gemacht wurde. Vermutlich kam es<br />
(erst jetzt) zur Ausprägung derjenigen Institutionen,<br />
die in der klassischen Literatur bereits mit<br />
den Anfängen der rabbinischen Bewegung in<br />
Verbindung gebracht wurden: zu einem Repräsentanten<br />
(Nassí) der palästinischen Judenheit,<br />
der zumeist etwas unglücklich als „Patriarch“<br />
bezeichnet wird, zu den Anfängen rabbinischer<br />
Rechtsprechung und eines (wie auch immer gearteten)<br />
Schulwesens.<br />
Auf der anderen Seite leitete die Herrschaft<br />
Konstantins auch eine paradoxe Entwicklung ein,<br />
in deren Verlauf Palästina stärker in den Mittelpunkt<br />
des christlichen Interesses rückte. Bis zu<br />
jener Zeit hatte das Heilige Land für das werdende<br />
Christentum eine erstaunlich geringe Rolle<br />
gespielt. Nach dem Untergang der Jerusalemer<br />
‚Urgemeinde‘ im Jahre 70 befanden sich die<br />
(demographischen und ideellen) Zentren christlichen<br />
Labens durchweg außerhalb Palästinas.<br />
Die Stätten des historischen Jesus fanden nach<br />
135 kaum mehr Aufmerksamkeit. Konstantins<br />
Mutter Helena (248/50-330) leitete durch ihren<br />
Besuch im Heiligen Land eine durchgreifende<br />
Änderung ein. Der Legende nach soll sie am Ort<br />
der späteren Grabeskirche das Kreuz Christi aufgefunden<br />
haben; neben der Grabeskirche gehen<br />
auch die Geburtskirche zu Bethlehem und ein<br />
Bau auf dem Ölberg auf ihre Initiative zurück.<br />
Diese Aktivitäten führten zu einer deutlich zunehmenden<br />
christlichen Präsenz im Heiligen<br />
Land. Pilger bereisten es, um die Stätten der<br />
Patriarchen und Propheten (!) zu besichtigen;<br />
manche von ihnen ließen sich dauerhaft dort nieder.<br />
Weitere Kirchen wurden gebaut – wie zum<br />
Beispiel die prachtvolle Marienkirche („Nea“) im<br />
Cardo zu Jerusalem durch Kaiser Justinian I.<br />
(482-565). All dies führte dazu, das sich die jüdische<br />
Bevölkerung des Heiligen Landes auf paradoxe<br />
Art und Weise mit den eigenen Traditionen<br />
konfrontiert sah: Beriefen sich doch die überwiegend<br />
heidnischen Anhänger Jesu auf biblische<br />
Erzählungen, suchten die Gräber Abrahams,<br />
Isaaks und Jakobs auf und behaupteten gleichzeitig,<br />
„die Juden“ würden ihr eigenes jahrhundertelanges<br />
Erbe falsch verstehen, weil sie in<br />
der Bibel keine Hinweise auf Jesus zu entdecken<br />
vermochten.<br />
Diese Faktoren, der Aufschwung jüdischer<br />
Selbstverwaltung begünstigt durch die konstantinischen<br />
Reformen sowie die deutlich erhöhte<br />
christliche Präsenz im Heiligen Land, führten zu<br />
einer Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen<br />
innerhalb der jüdischen Bevölkerung Palästinas.<br />
Jene Entwicklung manifestierte sich in einem<br />
deutlich zunehmenden Bau von Synagogen in<br />
Galiläa, der dem Errichten von Kirchen gewissermaßen<br />
parallel läuft. Zum anderen nahm im<br />
4. und 5. Jahrhundert die Produktion von rabbinischen<br />
Schriften (mindestens derer, die bis auf<br />
den heutigen Tag erhalten sind) einen klaren<br />
Aufschwung. Es entstanden Texte zur Aktualisierung<br />
der Bibel (Midraschim) und ein bedeutender<br />
Kommentar zur Mischna (der palästinische<br />
oder Jerusalemer Talmud).<br />
Die Epoche nach Konstantin<br />
Der Prozess der forcierten Selbstdefinition<br />
des Judentums wurde in der Epoche nach<br />
Konstantin durch zahlreiche Edikte und Gesetze<br />
der nunmehr zumeist christlichen Kaiser gestützt<br />
und erzwungen, die ‚das Judentum‘ als eine<br />
Sondergruppe innerhalb des Imperiums<br />
definierten und diskriminierten. Allein zwischen<br />
337 (Tod Konstantins) und 408/423 (Tod des<br />
Arcadius/Honorius) wurden fünfzig (!) die Juden<br />
betreffende Gesetze promulgiert. Insbesondere<br />
nach dem Jahr 380 geriet das Judentum sukzessive<br />
juristisch unter Druck: Es wurden Konversionsverbote<br />
erlassen, der Besitz christlicher<br />
Sklaven, das Eingehen Mischehen wurde untersagt<br />
(388). Ab dem frühem 5. Jahrhundert waren<br />
regionale Verbote von Bräuchen (Purim) zu verzeichnen.<br />
418/425 erfolgte der Ausschluss von<br />
Juden aus kaiserlichem Dienst. Die um das Jahr<br />
429 dekretierte Aufhebung des „Patriarchats“<br />
beendete die durch Konstantin begünstigte<br />
kultische Selbstverwaltung.<br />
Paradoxer Weise begünstigte also die Konstantinische<br />
Wende die Selbstfindung beider „Geschwister“:<br />
des werdenden Christentums ebenso,<br />
wie des werdenden Judentums. Letzteres wurde<br />
durch die Entwicklung des Christentums zur<br />
Staatsreligion zweifach auf sich selbst aufmerksam:<br />
Im Zuge der wachsenden Präsenz des<br />
Christentums in Palästina wurde die jüdische<br />
Bevölkerung zum Zeuge einer höchst eigenwilligen<br />
Verwendung ihrer Traditionen durch die<br />
Christen. Die wachsende rechtliche Diskriminierung<br />
von Juden nach 380 unterstützte Rückbesinnung<br />
und Gruppenbildung gewissermaßen<br />
auf negative Weise und „von außen“.<br />
Das vielerorts äußerst vitale Judentum bereitete<br />
den Kirchenvätern Kopfzerbrechen und verursachte<br />
so manche üble Invektiven (vgl. Melito von<br />
Sardes oder der erwähnte Chrysostomus). Das<br />
Judentum, welches eigentlich durch das Neue<br />
Gottesvolk abgelöst werden sollte, florierte munter<br />
weiter oder gar wieder. Es ist ebendiese Substitutionslehre,<br />
eine theologische Konstruktion,<br />
die sich mit der historischen Realität nicht in<br />
Übereinstimmung bringen ließ und daher immer<br />
wieder zum Anlass heftiger christlicher Angriffe<br />
auf das Judentum wurde und werden sollte.<br />
Literatur<br />
Daniel Boyarin, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des<br />
Judäo-Christentums, ANTZ 10, Berlin, Dortmund 2009.<br />
Paula Fredriksen, Oded Irshai, Christianity and Anti-Judaism<br />
in Late Antiquity: Polemics and Policies, from the Second to<br />
the Seventh Centuries, In: Steven T. Katz (Hg.) The<br />
Cambridge History of Judaism, Volume 4: The Late<br />
Roman-Rabbinic Period, Cambridge 2006, S. 977-1035; vgl.<br />
http://www.bu.edu/religion/files/pdf/Christianity-and-Anti-<br />
Judaism-in-Late-Antiquity-Polemics-and-Policies-from-the-<br />
Second-to-the-Seventh-Centuries.pdf<br />
John Gager, Reinventing Paul, Oxford u.a. 2002.<br />
Peter Schäfer, Jesus im Talmud, Tübingen 2007.<br />
Seth Schwartz, Imperialism and Jewish Society: 200 B.C.E.<br />
to 640 C.E., Princeton 2004.<br />
Guy Stroumsa, The Christian Hermeneutical Revolution and<br />
its Double Helix,“ in: Pieter W. van der Horst u.a. (Hg.),<br />
The Use of Sacred Books in the Ancient World, Leuven 1998,<br />
S. 9-28. Vgl. http://pluto.huji.ac.il/~stroumsa/Helix.pdf<br />
Prof. Dr. Susanne Talabardon promovierte 1996 nach dem Studium<br />
der Evangelischen Theologie an der Humboldt-Universität<br />
Berlin; 1996 Promotion am Fachbereich Altes Testament/Judaistik<br />
mit der Arbeit “Moshe ha- Naví. Studien zu Überlieferung<br />
und Deutung Moses als Prophet.” Anschl. Ausbildung zur evangelischen<br />
Religionslehrerin. 1997-2001 Habilitation zum Thema:<br />
“Zaddik Jesod Òlam. Untersuchungen zur osteuropäisch- jüdischen<br />
Hagiographie des 18. und 19. Jahrhunderts aufgrund von<br />
Erzählungen aus dem Umfeld des Chassidismus”.<br />
1997-2008 arbeite sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der<br />
Universität Potsdam. Seit 2008 ist sie Professorin für Judaistik an<br />
der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.<br />
susanne.talabardon@uni-bamberg.de<br />
Seite 12 — EINE ZWILLINGSGEBURT EINE ZWILLINGSGEBURT — Seite 13
In der gegenwärtigen deutschen<br />
Debatte um die Beschneidung<br />
zeigt sich immer wieder<br />
der Versuch, das Judentum<br />
in die Vergangenheit zu verlagern:<br />
Auch in seriösen Zeitungen,<br />
in denen sonst informative<br />
und informierte Artikel zu<br />
jüdischer Kultur zu finden sind,<br />
ist die Rede von einem ‘uralten Ritus’,<br />
fern von der aufgeklärten,<br />
zivilisierten Welt.<br />
Barbara U. Meyer<br />
Was haben Christen heute mit der Beschneidung zu tun?<br />
Viel, in jeder Hinsicht – um Paulus’ Antwort auf<br />
die Frage nach dem bleibenden Wert der Beschneidung<br />
zu zitieren (Röm 3,1). Zwar sollen<br />
nach Paulus Heidenchristen die Beschneidung<br />
nicht praktizieren, doch bleibt sie das körperliche<br />
Zeichen des Bundes zwischen Gott und<br />
dem jüdischen Volk. Diesen Bund aber bekennen<br />
alle großen christlichen Kirchen heute als<br />
ungekündigt und lebendig: Die Beschneidung –<br />
im Hebräischen dasselbe Wort wie Bund, nämlich<br />
brit – ist zwar nicht Teil aktueller christlicher<br />
Praxis, doch sind im Gedächtnis der Kirche ihre<br />
Bedeutungsspuren noch zu finden.<br />
In diesem Essay geht es um das gegenwärtige<br />
christliche Verhältnis zur Beschneidung aus<br />
systematisch-theologischer Sicht. Die Aufgabe<br />
für die Systematik besteht zunächst darin, die<br />
Thematik der Beschneidung einer theologischen<br />
Disziplin zuzuordnen, bzw. ihr Diskursfeld zu<br />
beschreiben. Auf den ersten Blick haben hier viele<br />
Christen das Verhältnis zu anderen Religionen<br />
angesprochen gesehen und dementsprechend für<br />
Religionstoleranz argumentiert. Doch die Beschneidung<br />
ist für Christen nicht nur ein Brauch<br />
einer fremden Religion. Zwar wird bis auf wenige<br />
Ausnahmen im gegenwärtigen Christentum<br />
nicht beschnitten, das Narrativ und die Thematik<br />
der Beschneidung jedoch stellen einen integralen<br />
Bestandteil der christlichen Tradition dar.<br />
Die Gegenwart der Beschneidung<br />
In der gegenwärtigen deutschen Debatte um<br />
die Beschneidung zeigt sich immer wieder der<br />
Versuch, das Judentum in die Vergangenheit zu<br />
verlagern: Auch in seriösen Zeitungen, in denen<br />
sonst informative und informierte Artikel zu<br />
jüdischer Kultur zu finden sind, ist die Rede von<br />
einem ,uralten Ritus’, fern von der aufgeklärten,<br />
zivilisierten Welt. Sicherlich handelt es sich bei<br />
der Beschneidung um eine uralte biblische Tradition;<br />
für Christen präsent in ihrem Alten sowie in<br />
ihrem Neuen Testament. Die Beschneidung der<br />
Söhne am achten Lebenstag ist aber auch in der<br />
Gegenwart Bestandteil des jüdischen Religionsgesetzes,<br />
und sie wird nicht nur im orthodoxen<br />
Judentum, sondern ebenso im halachisch nicht<br />
gebundenen Reformjudentum wie auch von der<br />
Mehrheit der säkularen Juden praktiziert. Im<br />
modernen Staat Israel, dessen Gesundheitssystem<br />
bei vielen Unterschieden dem amerikanischen<br />
oder deutschen in nichts nachsteht (es ist nicht so<br />
teuer wie das deutsche und sozialer als das amerikanische),<br />
ist die Beschneidung allgemein üblich.<br />
Diese Praxis kann nicht einfach in die Ecke der<br />
voraufklärerischen Bräuche geschoben werden.<br />
Das im Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland<br />
entstandene Reformjudentum, die weltweit<br />
größte religiöse Bewegung des Judentums, sowie<br />
das konservative Judentum und die moderne<br />
Orthodoxie setzen sich aktiv mit der Moderne<br />
auseinander. 1 Wenn es sich bei der Beschneidung<br />
des männlichen Babys um eine Körperverletzung<br />
handeln würde, so hätten jüdische Mediziner und<br />
Medizinerinnen in den USA und in Israel dies<br />
diagnostiziert, und Rabbiner aller Denominationen<br />
hätten einen Diskurs über halachische und<br />
medizinische Modifikationen begonnen.<br />
Die Idee, das Judentum mit dem Überkommenen<br />
zu identifizieren, sich selbst hingegen als aktuell<br />
und zukunftsträchtig einzuschätzen, war bis zum<br />
zwanzigsten Jahrhundert charakteristisch für die<br />
christliche Theologie. Geprägt vom Entsetzen<br />
über die Schoa – aber nicht von der Schoa verifiziert<br />
– wurden in den großen Kirchen seit der<br />
Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Stimmen<br />
lauter, die christlich bekannten, dass das Judentum<br />
nicht vom Christentum abgelöst worden ist.<br />
Um dieser Erkenntnis Ausdruck zu verleihen,<br />
wurde besonders im deutschsprachigen Raum<br />
und in den Niederlanden die Rede vom Bund<br />
entdeckt.<br />
Die Gegenwart des Bundes<br />
Die Bundestheologie war bis zum zwanzigsten<br />
Jahrhundert vor allem in der reformierten<br />
Tradition präsent, und erst Karl Barth hat sie wiederentdeckt<br />
und weltweit für die ökumenische<br />
Theologie zugänglich gemacht. Zum zentralen<br />
Theologumenon wurde der Bund bei dem amerikanisch-anglikanischen<br />
Theologen Paul van<br />
1<br />
Eine hervorragende Einführung in die Auseinandersetzung<br />
des Reformjudentums mit der Moderne bietet Michael A. Meyer,<br />
Response to Modernity: A History of the Reform Movement in<br />
Judaism, New York: Oxford University Press 1988; Detroit,<br />
Michigan: Wayne State University Press 1995.<br />
Seite 14 — WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? — Seite 15
Buren; inzwischen argumentieren aber auch die<br />
wichtigsten katholischen Theologen im jüdischchristlichen<br />
Dialog bundestheologisch, so Kardinal<br />
Walter Kasper, Hans Hermann Henrix und<br />
zuletzt überzeugend Philipp Cunningham und<br />
Didier Pollefeyt. 2 Für die zahlreichen kirchlichen<br />
Erklärungen zum jüdisch-christlichen Verhältnis<br />
wurde der Bund zum Schlüsselbegriff. Trotz der<br />
schwerwiegenden Tradition der Substitutionstheologie,<br />
nach der ein neuer Bund einen alten abgelöst<br />
habe, konnte die Rede vom Bund zu einer<br />
Sprache der Anerkennung entwickelt werden:<br />
Dass Christen den ungekündigten Gottesbund<br />
Israels bekennen, bedeutet, dass sie eine andere<br />
als die eigene Gottesbeziehung anerkennen. Dies<br />
ist nicht gleichbedeutend mit einer allgemeinen<br />
Offenheit und Toleranz, nach der Christen<br />
andere, nicht-christliche Gottesbeziehungen<br />
akzeptieren. Vielmehr handelt es sich um eine<br />
Anerkennung der jüdischen Gottesbeziehung, die<br />
auf einer spezifisch christlichen Kenntnis dieser<br />
besonderen anderen Beziehung beruht.<br />
Obwohl vor allem im deutschsprachigen Raum<br />
die Rede vom Bund durch Synodalerklärungen,<br />
Bischofsworte und sogar kirchliche Verfassungsänderungen<br />
stärker gemeinverständlich verbreitet<br />
worden ist, wurde offensichtlich von theologischer<br />
Seite noch zu wenig dechiffriert und erklärt. Was<br />
bedeutet es denn, dass die Kirche den Israelbund<br />
als ungekündigt und in Kraft verkündet? Und vor<br />
allem: In welcher Weise verpflichtet eine solche<br />
theologische Aussage die bundbekennenden<br />
Christen? Sehr allgemein verbinden die Kirchen<br />
die Anerkennung Israels mit einer grundsätzlichen<br />
Ablehnung von Antisemitismus und<br />
Judenfeindlichkeit, und in der wissenschaftlichen<br />
Theologie hat sich eine Kritik der Substitutionstheologien<br />
Gehör verschafft. Doch die unmittelbarste<br />
Konsequenz einer christlichen Anerkennung<br />
des Bundes wäre eine Verteidigung der<br />
jüdischen Beschneidungspraxis. David Novak,<br />
Professor an der Universität Toronto und Mitverfasser<br />
von Dabru Emet, äußerte diese Idee auf<br />
einer frühen Konferenz zu Dabru Emet 2001 in<br />
Minneapolis. 3 Es hatte in Kanada Kritik an der<br />
Beschneidungspraxis gegeben, und ein gesetzliches<br />
Verbot war nicht mehr undenkbar.<br />
Der Gedanke von David Novak soll hier christlich-theologisch<br />
weiterentwickelt werden. Die<br />
christliche Anerkennung des Israelbundes, also<br />
des jüdischen Gottesverhältnisses, war bisher vor<br />
allem auf die göttliche Seite dieser Beziehung<br />
fixiert: Christen erklärten und bekannten, Gott<br />
habe das Volk Israel nicht verlassen. (Röm 11,1)<br />
Für Christen stellte das Lernen der Bejahung und<br />
Bekräftigung dieses Bundes einen großen Schritt<br />
dar. Die plötzliche christliche Betonung der Lebendigkeit<br />
jüdischer Gottesbeziehung steht allerdings<br />
in eigentümlichen Kontrast zu jüdischen<br />
Post-Schoa Theologien, in denen vor allem enttäuschte<br />
Bundeserwartungen reflektiert werden.<br />
Besonders Irving Greenberg ist es gelungen, die<br />
jüdische Enttäuschung über Gott theologisch zur<br />
Sprache zu bringen. Nach der gottzentrierten<br />
biblischen und der interaktiven rabbinischen<br />
Bundesphase habe nach der Schoa das Volk Israel<br />
die leitende, aktive Rolle in der Bundesbeziehung<br />
übernommen, so Greenberg.<br />
Was haben Christen übersehen?<br />
Die christliche Rede vom ungekündigten Bund<br />
war ja nicht nur eine würdigende Geste, sondern<br />
ist auch theologisch richtig gedacht und zudem<br />
paulinisch fundiert. Der Blick auf Greenbergs<br />
Post-Schoa Theologie legt allerdings die unreflektierte<br />
Einseitigkeit zeitgenössischer christlicher<br />
Bundestheologie offen. Greenberg wählt<br />
die Veränderung in der Dynamik und Aktivität<br />
der Bundespartner, um Kontinuität und Enttäuschung<br />
zusammenzudenken. So gelingt es<br />
ihm, Enttäuschung in bleibender Intensität zu<br />
denken. In Greenbergs Ansatz wird jeglicher Versuch<br />
einer Theodizee erfolgreich vermieden, und<br />
es unterbleibt eine Interpretation des so bitterlich<br />
vermissten Handeln Gottes.<br />
Eine christliche Betonung des ungekündigten<br />
Israelbundes stellt zwar eine kritische Selbstbegrenzung<br />
dar, doch schwingt hier insofern eine<br />
gewisse theologische Anmaßung mit, als die<br />
christliche Affirmation über jüdische Ambivalenz<br />
hinweggeht. Die christliche Bundesbestätigung<br />
ist theologisch nicht verfehlt, nur war sie bisher<br />
einseitig auf die Seite Gottes fixiert. Vielleicht<br />
kann diese Einseitigkeit auch die Schieflage in<br />
der aktuellen Beschneidungsdiskussion erklären.<br />
Die menschliche Seite des Israelbundes wurde<br />
von Christen nicht wahrgenommen, zumindest<br />
nicht in ihrer Komplexität. Der Zugehörigkeit<br />
zum Bund wird von jüdischer Seite zunächst und<br />
vor allem durch das Beschnittensein Ausdruck<br />
verliehen. Theologien wie die Greenbergs betonen<br />
die menschlich jüdische Seite des Bundes.<br />
Während das Bundesverhalten Gottes demonstrativ<br />
nicht kommentiert wird, konzentriert sich<br />
jüdisches Post-Schoa-Denken auf das menschliche<br />
Handeln. Auch die ungleich bekanntere<br />
Post-Schoa-Theologie Emil Fackenheims weist<br />
diese Struktur auf. 5 Wie können nun Christen<br />
ihrer Unterstützung des jüdischen Gottesbundes<br />
Ausdruck verleihen, ohne diesen zentralen Charakterzug<br />
zeitgenössischer jüdischer Bundestheologie<br />
zu ignorieren? Die Beschneidungsdebatte<br />
von 2012 stellt ein interessantes Bewährungsfeld<br />
für die hier entwickelten bundestheologischen<br />
Überlegungen dar.<br />
Das Zeichen der Anderen<br />
An der aktuellen Diskussion um das Beschneidungsrecht<br />
in Deutschland waren zunächst<br />
Juristen und Mediziner beteiligt, genauer: nichtjüdische<br />
Juristen und nicht-jüdische Mediziner.<br />
Schließlich ist das Recht zur Beschneidung ein<br />
politisches Thema geworden, das im Bundesrat<br />
und im Bundestag von vielen deutschen Poli tikern<br />
und Politikerinnen diskutiert wurde – darunter<br />
nur sehr wenige jüdischer oder islamischer Religion<br />
oder nichtreligiös bestimmter Zugehörigkeit<br />
zu Judentum oder Islam. Die Kirchen haben sich<br />
zu Wort gemeldet und ein klares Votum für die<br />
Freiheit der Beschneidung abgegeben. Das Hauptargument<br />
war hier die Toleranz gegenüber jüdischer<br />
und muslimischer Tradition.<br />
Unter Theologen und Theologinnen war die<br />
Beschneidung bisher vor allem ein exegetisches<br />
Thema: Hat Paulus die Beschneidung abgeschafft?<br />
Dank der Neutestamentler Ed Parish Sanders und<br />
Krister Stendahl wurden seit den siebziger Jahren<br />
neue Perspektiven in der Paulus Exegese entwickelt,<br />
die sich inzwischen in der neutestamentlichen<br />
Forschung durchgesetzt haben. John Gager,<br />
der die Argumentation der neuen Paulus forschung<br />
übersichtlich zusammengestellt hat, verdeutlicht<br />
wie anachronistisch Paulus zuvor gelesen wurde,<br />
nämlich unter der Voraussetzung eines bereits klar<br />
konturierten und abgegrenzten Christentums, das<br />
zu seiner Zeit noch gar nicht existierte. 6 In der<br />
traditionellen Exegese wurde Paulus als Gegner<br />
der Beschneidung verstanden, während heute betont<br />
wird, dass Paulus nur die Beschneidung von<br />
Heidenchristen ablehnte.<br />
Der wichtigste Textzeuge einer fortgesetzten<br />
Bedeutung der Beschneidung für das nicht<br />
beschneidende Christentum ist der Römerbrief.<br />
Dort stellt die Hochschätzung der Beschneidung<br />
nicht eine plötzliche Kehrtwende im paulinischen<br />
Denken dar oder den Gegenpol zu seinem Ärger<br />
über die Beschneidung von Heidenchristen im<br />
Galaterbrief.<br />
Vielmehr fällt Paulus im Römerbrief ein grundsätzliches<br />
Urteil zur Beschneidung, das untrennbar<br />
verbunden ist mit anderen theologischen<br />
Einsichten. Die Mitte seiner Erkenntnisse bildet<br />
die tiefgehende und weitreichende Einsicht, dass<br />
Gottes Bindung an sein Volk Israel nicht von dessen<br />
Christusbeziehung abhängig ist. (Röm 11,1).<br />
Die Bedeutung dieser theologischen Erkenntnis<br />
ist Christen erst im zwanzigsten Jahrhundert<br />
deutlich geworden, und auch im 21. Jahrhundert<br />
scheint das Ausmaß dieser Erkenntnis unterschätzt<br />
zu werden. Im Römerbrief steht die Frage<br />
2<br />
Philip A. Cunningham and Didier Pollefeyt, The Triune One, the<br />
Incarnate Logos, and Israel’s Covenantal Life, in: Christ Jesus and<br />
the Jewish People Today. New Explorations of Theological Interrelationships,<br />
hg. v. Philip A. Cunningham, Joseph Sievers, Mary<br />
C. Boys, Hans Hermann Henrix, Jesper Svartvik, Grand Rapids,<br />
Michigan / Cambridge, U.K.: William B. Eerdmans Publishing<br />
Company 2011, S. 183-201.<br />
3<br />
Vgl. Barbara U. Meyer, Christologie im Schatten der Shoah – im<br />
Lichte Israels. Studien zu Paul van Buren und Friedrich-Wilhelm<br />
Marquardt, Zürich: TVZ 2004, S. 234.<br />
4<br />
Die verschiedenen Veröffentlichungen Greenbergs zum Thema<br />
sind gesammelt und gut zugänglich in dem großen Sammelband<br />
jüdischer Post-Shoah Theologie Wrestling with God. Jewish<br />
Theological Responses during and after the Holocaust, hg. v. Steven<br />
T. Katz, Shlomo Biderman, Gershon Greenberg, Oxford University<br />
Press 2007, S. 497-555.<br />
5<br />
Emil Fackenheim, To Mend the World. Foundations of Post-<br />
Holocaust Jewish Thought, New York: Schocken Books, 1989²<br />
6<br />
John G. Gager, Re-Inventing Paul, Oxford University Press, 2002.<br />
Seite 16 — WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? — Seite 17
nach der bleibenden Gültigkeit der Gottesbeziehung<br />
von Juden, die Jesus nicht nachfolgen, in<br />
einer Linie mit den Fragen nach dem bleibenden<br />
Wert des Gesetzes und der Beschneidung. Die<br />
Antworten stehen in einem theologischen Gesamtzusammenhang:<br />
Gott hat sein Volk nicht<br />
verlassen. Gottes Gaben und seine Berufung sind<br />
unwiderruflich (Röm 11,29). Das Gesetz ist<br />
heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut<br />
(Röm 7,12). Die Beschneidung ist Zeichen des<br />
anvertrauten Gotteswortes (Röm 3,2). Sicherlich<br />
erwähnt Paulus im Philipperbrief sein eigenes<br />
Beschnittensein mit Stolz (Phil 3,5). Im Römerbrief<br />
aber ist das Beschnittensein vor allem das<br />
Zeichen der Anderen, auch wenn Paulus selbst<br />
diesen Anderen bleibend zugehörig ist.<br />
Die Würdigung und Affirmation der Beschneidung<br />
im Römerbrief beruht nicht auf Identi<br />
fikation. Es geht hier nicht um ein Zeichen der<br />
Christusgläubigen, sondern um das Kennzeichen<br />
der Juden – vor allem derjenigen Juden, die sich<br />
nicht zu Jesus bekennen.<br />
Der beschnittene Jesus<br />
Christen haben sich der Thematik<br />
der Beschneidung entfremdet,<br />
grundsätzlich aber ist sie<br />
dem Christentum nicht fremd.<br />
Neben der Bundestheologie stellt die Christologie<br />
ein weiteres Bewährungsfeld der Bundesthematik<br />
in der Systematischen Theologie dar.<br />
Welche Bedeutung hat das Beschnittensein Jesu?<br />
Zunächst kennzeichnet es Jesus als Juden. Das<br />
Beschnittensein Jesu ist für Christen das<br />
Zeichen seines bleibenden Judeseins. Weiterhin<br />
kennzeichnet die Beschneidung Jesus als jüdischen<br />
Mann. Weder in den Evangelientexten<br />
noch in den Paulusbriefen wird das Mannsein<br />
Jesu thematisiert. In der protestantischen<br />
Gegenwart kommt der Männlichkeit Jesu abgesehen<br />
von einzelnen feministischen Versuchen<br />
keine spezielle Bedeutung zu. Die katholische<br />
Kirche hingegen hat in der Debatte um die<br />
Frauenordination erstaunlicherweise den biologischen<br />
Unterschied bemüht. Sollte für die<br />
sakra mentale Repräsentationsfähigkeit der Priester<br />
aber dieses kleine Körperteil, von dem Frauen<br />
frei sind, konstitutiv sein, so fragt sich, warum die<br />
spezifische Beschaffenheit dieses Körperteils<br />
nicht wichtig genommen wird. Jesu Männlichkeit<br />
hat auch in den Glaubensbekenntnissen der<br />
Alten Kirche keine Heilsbedeutung. Tatsächlich<br />
ist das einzige männliche Zeichen, das theologisch<br />
signifikant ist, seine Beschneidung. Allein<br />
als jüdischer Mann hat sein Mannsein Bedeutung.<br />
Dieser Zusammenhang ist im zeitgenössischen<br />
Gender-Diskurs erst ansatzweise<br />
Sein Beschnittensein kennzeichnet Jesus als Juden<br />
und damit als zugehörig zum Bundesgott<br />
Abrahams, Isaaks und Jakobs. So kann seine Beschneidung<br />
auch als »Antimarkionitikum« beschrieben<br />
werden: Es ist genau dieses körperliche<br />
Zeichen, das auf die Zugehörigkeit zum Gott Israels<br />
hinweist und der markionitischen Behauptung<br />
eines neuen, bisher unbekannten Gottes<br />
entgegensteht.<br />
Karl Barth hat in den Dogmatikvorlesungen von<br />
1947 betont, dass die christliche Kirche sich nicht<br />
etwa „zu diesem Jesus Christus” bekennt „obwohl<br />
(sic) Jesus ein Jude war (wie wenn dieses Judesein<br />
ein pudendum war, über das man hinwegsehen<br />
könnte und müsste!)” oder dass Jesus Christus<br />
„zufällig ein Israelit war, der aber ebenso gut auch<br />
einem anderen Volk hätte entstammen können“,<br />
sondern dass er vielmehr „notwendig Jude“ war.<br />
In Anlehnung an diese eindringlichen Worte von<br />
Karl Barth ließe sich theologisch folgerichtig<br />
sagen, dass Jesus Christus nicht zufällig, sondern<br />
dass er notwendig beschnitten war. 8 Vielleicht<br />
würde es zu weit führen, hier auch Bonhoeffer in<br />
einer Formulierung von 1942 aufzunehmen: „Die<br />
Vertreibung der Juden aus dem Abendland wird<br />
zur Vertreibung Jesu Christi führen. Denn Jesus<br />
Christus war Jude.“ Das hieße, übertragen auf unser<br />
Thema: ,Die Verbannung der Beschneidung<br />
aus dem Abendland wird die Verbannung Jesu<br />
Christi mit sich führen. Denn Jesus Christus war<br />
beschnitten.’ Auf den ersten Blick mag dies als<br />
übertriebene Dramatisierung erscheinen. Doch<br />
hat Alfred Bodenheimer in seiner sehr klaren und<br />
nüchternen Schrift Haut ab! dargestellt, weshalb<br />
ein abendländisches Verbot der Beschneidung in<br />
der jüdischen Erinnerung tatsächlich eine dramatische<br />
Wende bedeutet. 9<br />
angesprochen worden. 7 WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? — Seite 19<br />
Beschneidungserinnerung<br />
Jesus ist beschnitten; der Tag seiner Beschneidung,<br />
nämlich der 1. Januar, gehörte bis zum zweiten<br />
Vaticanum zum katholischen Festkalender und hat<br />
noch 2000 im Evangelischen Gottesdienstbuch<br />
ein eigenes Proprium. 10 Eine bizarre Geschichte<br />
umspannt die Reliquienverehrung der Vorhaut<br />
Jesu seit dem Mittelalter – bis 1987, da diese Reliquie<br />
auf ungeklärte Weise verschwand! Bemerkenswert<br />
ist daran, wie sehr das Beschnittensein<br />
Jesu im Gedächtnis der katholischen Kirche<br />
präsent war. In den Glaubensbekenntnissen der<br />
Alten Kirche findet die Beschneidung keine<br />
Erwähnung. Laut dem ökumenischen Glaubensbekenntnis<br />
von Chalcedon (451) war Jesus vollkommen<br />
nicht nur in seiner Göttlichkeit sondern<br />
auch in seiner Menschlichkeit. Nach ökumenischer<br />
Überzeugung also tut die Beschneidung der<br />
Menschlichkeit keinen Abbruch, sie ist der<br />
klassisch christlichen Auffassung nach keine<br />
Verstümmelung. Der französische Philosoph<br />
Derrida hat die Beschneidung sogar als Zeichen<br />
der Menschlichkeit schlechthin interpretiert. 11<br />
Christen haben sich der Thematik der Beschneidung<br />
entfremdet, grundsätzlich aber ist sie dem<br />
Christentum nicht fremd. Denn Christen wissen<br />
von der Beschneidung aus beiden Teilen ihrer<br />
Bibel; sowohl die Geschichte der Beschneidung<br />
und Beschneidungsgeschichten als auch polemische<br />
und theologische Diskurse zur Beschneidung<br />
gehören zur biblischen Grundlage des<br />
Christentums. Daher kann die Kategorie der<br />
Erinnerung den Ort der Beschneidung im Christentum<br />
zutreffend beschreiben: Das Phänomen<br />
der Beschneidung ist im Gedächtnis des Christentums<br />
bewahrt. Im populären wie auch im<br />
akademisch reflektierten christlichen Glauben<br />
allerdings wird sie eher verdrängt als erinnert.<br />
Da, wo die Diskussion der Beschneidung präsent<br />
7<br />
Barbara U. Meyer, The Dogmatic Significance of Christ Being<br />
Jewish, in: Christ Jesus and the Jewish People Today. New Explorations<br />
of Theological Interrelationships, hg. v. Philip A. Cunningham,<br />
Joseph Sievers, Mary C. Boys, Hans Hermann Henrix, Jesper<br />
Svartvik, Grand Rapids, Michigan / Cambridge, U.K.: William B.<br />
Eerdmans Publishing Company 2011, S. 144-156.<br />
8<br />
Karl Barth, Dogmatik im Grundriß, Zürich: TVZ 19988, S. 89.<br />
9<br />
Alfred Bodenheimer, Haut ab! Die Juden in der Beschneidungsdebatte,<br />
Göttingen: Wallstein Verlag 2012.<br />
10<br />
Philipp Cunningham unterstützt offizielle Erwägungen, das Gedenken<br />
der Beschneidung Jesu im Festkalender wieder aufzunehmen.<br />
Vgl. Philipp Cunningham, Reviving the Catholic Observance<br />
of the Feast of the Circumcision, of Jesus, in: Toward the Future.<br />
Essays on Catholic-Jewish Relations in Memory of Rabbi Leon<br />
Klenicki, Paulist Press, erscheint 2013.<br />
11<br />
Elisabeth Weber, Zeugnis, Gabe. Jacques Derrida, in: Dies. (Hg.),<br />
Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt a.M. : Jüdischer Verlag<br />
im Suhrkamp Verlag 1994, 63-90, S. 65.
ist, ist die polemische Erinnerung stärker als<br />
die affirmative. Dies galt bis weit in das<br />
zwanzigste Jahrhundert hinein für das christliche<br />
Verhältnis zum Judentum insgesamt: Aus der<br />
Nähe zwischen Judentum und Christentum ergab<br />
sich eher Ablehnung und Abwertung als Hochschätzung.<br />
Erstaunlich bzw. bedauernswert ist<br />
nun, dass die neu oder wieder erlernte Wertschätzung<br />
des Judentums theoretisch bleibt und damit<br />
der theologischen Tiefe entbehrt. Dabei haben<br />
die Christen der großen Kirchen ihr Gottesverständnis<br />
erfolgreich revidiert: Sie sind von<br />
einem unbiblischen Götzen, der sein erwähltes<br />
Volk verlassen würde, umgekehrt zu dem<br />
bundestreuen Gott Israels. Doch die jüdische<br />
Weise, diesem Bund treu zu sein, ist dem<br />
Christentum offensichtlich weiterhin fremd.<br />
Dabei liegt die Problematik nicht im Fremdsein<br />
selbst, sondern in der Delegitimierung der<br />
fremden Praxis.<br />
Zeugen des Bundes<br />
Wenn die zahlreichen Erklärungen der großen<br />
Kirchen zum ungekündigten Gottesbund Israels<br />
ernst gemeint und daher ernst zu nehmen sind,<br />
dann wissen sich Christen heute als Zeugen dieses<br />
Bundes. Ihr Christsein ist nicht isoliert und<br />
unabhängig sondern geschichtlich und gegenwärtig<br />
gebunden an das jüdische Gottesverhältnis.<br />
Dass die Gotteszugehörigkeit von Nichtchristen<br />
für Christen Bedeutung hat, ist nicht<br />
eine pluralistische Idee des zwanzigsten Jahrhunderts<br />
sondern paulinische Theologie. Diese<br />
paulinische Spur in die Gegenwart zu verfolgen,<br />
stellt eine Herausforderung dar.<br />
Dass die Beschneidung nicht nur von observanten<br />
Juden, sondern auch von nichtreligiösen<br />
und überzeugt säkularen Juden praktiziert wird,<br />
ist für die christliche Bundestheologie ein höchst<br />
interessantes Phänomen. Der amerikanische<br />
Systematiker Paul van Buren hat ausdrücklich<br />
darauf hingewiesen, dass Gott sein Bundesvolk<br />
nicht in religiöse und säkulare Juden einteilt! 12<br />
Für die juristische Debatte in Deutschland bedeutet<br />
dies, dass die Einteilung der Motivationen<br />
zur Beschneidung in religiöse, die zu tolerieren<br />
und nichtreligiöse, die nicht zu tolerieren seien, in<br />
theologischer Sicht unsinnig ist.<br />
Alfred Bodenheimer hat in seiner hier bereits<br />
erwähnten Schrift mit dem Titel Haut ab die<br />
historische Entwicklung der Beschneidung zum<br />
primären Differenzmerkmal des Judentums nachge<br />
zeichnet. In Bezug auf das europäische Judentum<br />
hat Bodenheimer hier sicherlich Recht. In<br />
den USA hingegen ist die Beschneidung keineswegs<br />
das alleinige Merkmal der Juden. Auch steht<br />
das Beschnittensein in der israelischen Gesellschaft<br />
nicht auf der Seite der Differenz sondern<br />
der Einheitlichkeit. Es handelt sich somit um ein<br />
Differenzmerkmal das keinesfalls durch ein<br />
anderes ersetzt werden könnte.<br />
Für Derrida stellt die Beschneidung “das einzigartige<br />
Bündnis des jüdischen Volkes mit seinem<br />
Gott” dar, “andererseits aber auch eine Art universaler<br />
Markierung...“. 13<br />
Die so unterschiedlichen jüdischen Diskurse zur<br />
Beschneidung zeigen, wie schwierig es ist, das<br />
Ausmaß ihrer Bedeutung hinreichend zu erklären<br />
oder gar auf den Punkt zu bringen. Für Christen<br />
ist festzuhalten und vor allem zunächst wahrzunehmen,<br />
dass es diese Diskurse gibt. Juden<br />
diskutieren und reflektieren die Beschneidung in<br />
ihrer kulturhistorischen und religionsgesetzlichen<br />
Bedeutung. Das christliche Verhältnis zum jüdischen<br />
Religionsgesetz, der Halacha ist weiterhin<br />
unterentwickelt und ungeklärt.<br />
Christliche Kenntnis der Halacha<br />
Nicht nur säkulare und liberale, sondern auch<br />
orthodoxe Juden sind der modernen Medizin gegenüber<br />
aufgeschlossen. Da sich die Halacha auf<br />
alle Bereiche des Lebens bezieht, stellt der<br />
menschliche Körper ein wichtiges Thema jüdischen<br />
Interesses dar. Die für das Religionsgesetz<br />
verantwortlichen Gesetzesgelehrten und mit der<br />
Rechtsfindung Beauftragten, Poskei Halakha 14<br />
sind in medizinischen Fragen außerordentlich<br />
gut informiert und auf dem neuesten Stand<br />
der Forschung. In manchen Bereichen ist die<br />
Fortschrittlichkeit der orthodoxen Orthodoxie<br />
geradezu erstaunlich, auch im Vergleich zu christlichen<br />
Positionen: So z.B. erlauben manche<br />
rabbinische Rechtsautoritäten nicht verheirateten<br />
Frauen mit Kinderwunsch die intrauterine<br />
Insemination. Auch ultraorthodoxe Rabbiner<br />
er lauben IVF (in vitro Fertilisation) bei Ferti-<br />
litätsproblemen. Diese beeindruckende Fortschrittlichkeit<br />
ist anhand zweier fundamentaler<br />
Grundprinzipien der jüdischen Rechtsfindung zu<br />
erklären, nämlich die der Lebensrettung und der<br />
Lebensbejahung.<br />
Die Halacha steht grundsätzlich<br />
auf der Seite des Lebens.<br />
Wenn sich die Beschneidung also als gesundheitsgefährdend<br />
herausgestellt hätte, dann hätten<br />
jüdische Mediziner hier eine Modifikation der<br />
Praxis bewirkt. Jüdische Religionsgesetze sind<br />
nicht notwendigerweise gesundheitlich motiviert,<br />
und die koschere Ernährung ist nicht mit gesundem<br />
Essen gleichzusetzen. Wichtig ist aber, dass<br />
die koschere Ernährung keinesfalls ungesund ist.<br />
Das Gesetz der Trennung kann nicht zu einem<br />
Mangel an bestimmten Nährstoffen führen. Dass<br />
die Beschneidung die Infektionsgefahr mit HIV<br />
einschränkt, ist eine neue Erkenntnis. Nicht dafür<br />
ist die Beschneidung erfunden worden. Wäre es<br />
aber anders, und die Beschneidung würde die<br />
Ansteckungsgefahr erhöhen, so würden sich<br />
Rabbiner gefordert sehen, darauf halachisch zu<br />
reagieren.<br />
Es ist nicht die Aufgabe der christlichen Theologie,<br />
die jüdische Halacha zu idealisieren.<br />
Tatsächlich gibt es religionsgesetzliche Probleme,<br />
deren zufriedenstellende Lösung noch aussteht<br />
(z. B. die Wiederheirat einer Frau deren Mann verschollen<br />
ist – ein halachisches Problem, mit dem<br />
sich orthodoxe Fraueninitiativen beschäf tigen).<br />
Das Verständnis der Grundlogik der Halacha als<br />
lebensbejahend ist für Christen jedoch theologischer<br />
Erkenntnisgewinn. Denn wenn Christen<br />
den Israelbund als lebendig bekennen – und um<br />
dies zur Sprache zu bringen, sogar die Präambeln<br />
ihrer Kirchenverfassungen ändern – dann ist ein<br />
christliches Grundverständnis der Wege dieser<br />
Lebendigkeit unabdingbar. Auch der Akt der Beschneidung<br />
bedarf keiner Idealisierung. Christen<br />
sind nicht aufgefordert, sich für diese Praxis zu<br />
begeistern, sie werden sogar explizit aufgefordert,<br />
sich diese Praxis nicht selbst zueigen zu machen.<br />
Das christliche Bekenntnis allerdings, zu dem<br />
einen Bundesgott und zum ungekündigten Bund<br />
Israels, impliziert ein christliches Zeugnis der<br />
Beschneidung als Akt jüdischer Bundestreue.<br />
Die Kenntnis der Halacha als lebensbejahend<br />
und das Vertrauen in real existierende Juden als<br />
kompetente Mediziner und Medizinerinnen – ob<br />
religiös oder säkular, ob liberal, konservativ oder<br />
orthodox – kann Christen helfen, gesellschaftliche<br />
und politische Entscheidungen ihrem<br />
Bekenntnis entsprechen zu lassen.<br />
Dr. Barbara U. Meyer lehrt christliche Dogmengeschichte<br />
an der Universität Tel Aviv und der Privatuniversität Herzliya.<br />
Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Theologie und Recht in<br />
den Abrahamsreligionen, jüdisches und christliches Denken<br />
nach der Schoa und zeitgenössische Christologie.<br />
barbarumeyer@gmail.com<br />
12<br />
Paul van Buren, A Christian Theology of the People Israel,<br />
San Francisco: Harper&Row 1983, S. 316-317. Für Paulus stellte<br />
sich nicht die Thematik der Säkularität, sondern die des richtigen<br />
Glaubens. Explizit bekundet Paulus, dass die jüdische Bundeszugehörigkeit<br />
nicht vom richtigen Glauben abhängig ist (Röm 9-11).<br />
13<br />
Elisabeth Weber, Zeugnis, Gabe. Jacques Derrida, in: Dies. (Hg.),<br />
Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag im<br />
Suhrkamp Verlag 1994, 63-90, 64. Elisabeth Weber hat die Thematik<br />
als Leitmotiv seiner Philosophie erkannt, was Derrida hier auch selbst<br />
bestätigt hat.<br />
14<br />
Poskei Halacha, auf Englisch “decisors” – es ist bezeichnend, dass<br />
diese Berufsbezeichnung so schwer ins Deutsche zu übersetzen ist.<br />
Seite 20 — WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN?<br />
WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? — Seite 21
Wer wie Ateek Jesus vom Juden zum Palästinenser umetikettiert,<br />
der tut dies nicht aufgrund historischer Evidenz,<br />
sondern der verfolgt damit ein klares politisches Interesse:<br />
Er eignet sich Jesus für die eigene palästinensische Sache an<br />
– auf Kosten des Jude-Seins Jesu.<br />
Stefan Meißner<br />
Palästinensische Befreiungstheologie – auf Kosten Israels?<br />
Der gekreuzigte Jesus ‒ ein palästinensischer<br />
Märtyrer? Entgegen einer langen antijudaistischen<br />
Traditionslinie innerhalb des Christentums,<br />
wonach Jesus mit seiner Mutterreligion<br />
gebrochen und etwas völlig Neues gebracht<br />
habe, bricht sich in den letzten Jahrzehnten die<br />
Erkenntnis Bahn, dass Jesus nicht nur als Jude<br />
geboren wurde, sondern dass er dies auch zeitlebens<br />
blieb. Vieles, was er nach dem Zeugnis der<br />
Evangelien tat oder sagte, zeigt seine Verwurzelung<br />
im Glauben und den Ritualen seiner Väter.<br />
Dies im Einzelnen nachzuweisen, sollte heute<br />
eigentlich überflüssig sein. Und doch gibt es<br />
Vertreter einer palästinensischen Befreiungstheologie,<br />
die Jesus auf Kosten seines Jude-Seins<br />
als einen der Ihren reklamieren. So betont der<br />
anglikanische Geistliche Nain S. Ateek ausdrücklich,<br />
Jesus sei ein Palästinenser gewesen<br />
und habe wie er selbst unter einer Besatzungsmacht<br />
gelebt. 1<br />
Jesus als Palästinenser, das ist zunächst einmal in<br />
mehrerer Hinsicht ein Anachronismus: Als Jesus<br />
geboren wurde, regierte Herodes der Große über<br />
ein Territorium, das damals den Namen der ehemals<br />
persischen Provinz Judäa trug. Dieser Name<br />
blieb auch erhalten, als sein Königreich zerfiel<br />
und zur Römischen Provinz wurde. Erst mit<br />
der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes<br />
durch Kaiser Hadrian (135 n.Chr.) wurde Jerusalem<br />
zu Aelia Capitolina umbenannt und die<br />
Provinz erhielt zur Strafe den Namen der einstigen<br />
Erzfeinde Israels: Palästina, Land der<br />
Philister. Man muss sich das historisch klar<br />
machen: Als dieser Landstrich in der südlichen<br />
Levante rund einhundert Jahre nach Jesu Tod<br />
erstmals offiziell als „Philisterland“ bezeichnet<br />
wurde, war das eine Kampfansage gegen das<br />
jüdische Volk und eine bewusste Provokation.<br />
„Palästina“ bürgerte sich, nicht zuletzt auch durch<br />
das Zutun christlicher Autoren, im weiteren Verlauf<br />
der Geschichte als geografische Bezeichnung<br />
ein. Ein palästinensisches Volk hingegen, das sich<br />
so bezeichnet hätte, oder das sich gar bewusst in<br />
eine Kontinuität mit den Philistern gestellt hätte,<br />
gab es bis in das 20. Jahrhunderts hinein nicht.<br />
Wer wie Ateek Jesus vom Juden zum Palästinenser<br />
umetikettiert, der tut dies nicht aufgrund<br />
historischer Evidenz, sondern der verfolgt damit<br />
ein klares politisches Interesse: Er eignet sich Jesus<br />
für die eigene palästinensische Sache an – auf Kosten<br />
des Jude-Seins Jesu.<br />
Die antijüdische Stoßrichtung dieser Aneignung<br />
Jesu zeigt sich auch daran, dass Ateek eine<br />
Parallele zwischen der römischen Besatzungsmacht<br />
von damals und der heutigen israelischen<br />
Okkupation Palästinas herstellt. Ist schon dieser<br />
Vergleich historisch fragwürdig, so wird die<br />
Argumentation des anglikanischen Geistlichen<br />
völlig abwegig, wenn er die israelische Regierung<br />
mit dem Kindermörder Herodes identifiziert. 2<br />
Zu behaupten, der Judenstaat betreibe täglich<br />
ein „Kreuzigungssystem“, 3 unterscheidet sich<br />
kaum mehr vom klassischen Vorwurf des Gottesmordes.<br />
Dass diese antijüdische Rhetorik, die in bestimmten<br />
Gruppen der westlichen Kirchen auf<br />
ungeteilte Zustimmung stößt, nicht ohne Folgen<br />
für den christlich-jüdischen Dialog bleiben kann,<br />
soll die Reaktion eines amerikanischen Rabbiners<br />
veranschaulichen: Yehiel Poupko, ein angesehener<br />
Gelehrter der „Jewish Federation of<br />
Metropolitan Chicago“, sieht diese fragwürdige<br />
Gleichsetzung in einer Linie mit den schlimmsten<br />
Elementen christlicher Judenverachtung und<br />
bedauert: „Wir haben gerade in den letzten Jahrzehnten<br />
begonnen, neue Beziehungen mit dem<br />
Christentum zu genießen, die tief greifende<br />
Veränderungen in dessen Haltung uns gegenüber<br />
gebracht haben. Und jetzt, durch die Worte<br />
dieser Autoren, sind die Uhren wieder zurück<br />
gestellt worden.“ Rabbiner Poupko hat sehr einfühlsam<br />
die Psychologie erfasst, die hinter dieser<br />
Rhetorik steht: Diese Befreiungstheologie befreit<br />
in der Tat: Sie befreit von Selbstzweifeln<br />
und dem Verdacht einer möglichen Mitschuld an<br />
der ausweglosen Situation im Heiligen Land.<br />
Das Opfer ist immer „frei von Sünde und schuldlos,<br />
ohne Fehler. Daher hat dieser sündlose Tod<br />
für den Christen erlösende Wirkung. Der Vorgang<br />
[der Kreuzigung] ist erlösend, [gerade] weil<br />
er ungerecht ist und derjenige, der kreuzigt, ist<br />
[..] dämonisch.“<br />
Der jüdische Gelehrte schließt mit der nachvollziehbaren<br />
Einschätzung: „Dieses Paradigma wird<br />
1<br />
Gerechtigkeit und Versöhnung. Eine palästinensische Stimme,<br />
Berlin 2010, S. 24.<br />
2<br />
„..modern day ‚Herods’ who are represented in the Israeli<br />
government.“; http://en.wikipedia.org/wiki/Naim_Ateek.<br />
3<br />
„The Israeli government crucifixion system is operating daily”, ebd.<br />
Seite 22 — PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? — Seite 23
dem israelisch-palästinensischen Konflikt nicht<br />
gerecht. Es zu beschwören, bedeutet die Juden zu<br />
verteufeln.“ 4<br />
Wer bisher meinte, es seien nur christliche Theologen,<br />
die in Palästina Jesus als einen der ihren<br />
reklamieren, rieb sich vermutlich erstaunt die<br />
Augen, als der palästinensische Religionsführer<br />
Mufti Muhammad Hussein 2009 im palästinensischen<br />
Fatah-Fernsehen verkündete: „Jesus<br />
wurde in diesem Land geboren, er machte seine<br />
ersten Schritte in diesem Land und verbreitete<br />
seine Lehre, den Islam, in diesem Land. Er und<br />
seine Mutter Maria, waren Palästinenser par<br />
excellence! “ 5<br />
In diesem muslimischen Kontext wird Jesus als<br />
Märtyrer (shahid) gepriesen, dessen selbstlose<br />
Lebenshingabe anderen zum Vorbild dienen soll.<br />
Dass auch Muslime sich positiv auf Jesus beziehen,<br />
ist an sich nicht neu, wird ihm doch auch<br />
im Koran als Prophet großer Respekt gezollt.<br />
Einigermaßen kurios ist allerdings die Betonung<br />
der Passion, denn ein leidender Erlöser passt (zumindest<br />
nach sunnitischer Auffassung) nicht in<br />
die Vorstellungswelt des Islam. Nach dem Koran<br />
ist Jesus nicht am Kreuz gestorben, sondern (wie<br />
es in Sure 4:157 heißt) „es wurde ihnen [den<br />
Juden] nur der Anschein erweckt“.<br />
Das Selbstopfer des Shahid kann erbracht<br />
werden, indem man geduldig das Leiden erträgt,<br />
das andere einem auferlegen. Es kann aber auch<br />
bedeuten, dass man als Selbstmordattentäter im<br />
Kampf gegen die Ungläubigen (jihad) sich und<br />
andere aktiv in den Tod reißt. Dass Jesus als Vorbild<br />
auch in diesem Sinne verstanden werden<br />
kann, wird zumindest von radikalen Muslimen<br />
billigend in Kauf genommen. So wird aus dem<br />
Friedensstifter, der die Menschen ermahnte,<br />
„auch die andere Backe hinzuhalten“, der<br />
Gotteskämpfer (mujahed), der um der gerechten<br />
Sache willen auch über Leichen geht. Um keine<br />
Missverständnisse aufkommen zu lassen: Diese<br />
Sichtweise ist nicht die von Naim S. Ateek oder<br />
Mitri Raheb. Beide betonen unmissverständlich<br />
den Gewaltverzicht.<br />
Weniger pazifistisch äußerte sich der griechischorthodoxe<br />
Erbischof Attallah Hanna, einer der<br />
Unterzeichner des Kairos-Dokuments. Er wurde<br />
2002 von Gulf News, einer Zeitung in den Vereinigten<br />
Arabischen Emiraten, mit folgenden<br />
Worten zitiert:<br />
„Wie Sie wissen, stimmen die politischen Parteien<br />
in Palästina überein in der Fortsetzung der Intifada,<br />
die unterschiedliche Ansätze des Kampfes umfasst.<br />
Einige Freiheitskämpfer nehmen das Martyrium<br />
auf sich oder Selbstmordattentate, während andere<br />
[Leute] andere Maßnahmen unterstützen.<br />
Aber alle diese Kämpfe dienen der fortgesetzten<br />
Intifada für die Freiheit. Deshalb unterstützen<br />
wir alle diese Fälle (…) Es ist das zionistische<br />
Regime Israels, das Genozid begeht in Palästina,<br />
indem es unschuldige Frauen und Kinder tötet.<br />
Das palästinensische Volk hat das Recht sich zu<br />
verteidigen gegen die israelische Barbarei und<br />
Gräueltaten. Wir sind Teil der Intifada,<br />
erwarten Sie also bitte nicht, dass wir Abstand<br />
halten und zuschauen. Wir sind Teil des Kampfes,<br />
ob es Martyrium bedeutet oder andere Mittel,<br />
wir sind Teil davon.“ 6<br />
Atallah Hanna spielte die Äußerungen als Teil<br />
einer von Israel ausgehenden Diffamierungskampagne<br />
gegen seine Person herunter. Ganz so haltlos<br />
dürften die gegen ihn erhobenen Vorwürfe<br />
nicht gewesen sein. Immerhin traf er sich am<br />
Rande einer Konferenz für christlich-muslimischen<br />
Dialog im Libanon mit dem dortigen Hisbolla-Führer<br />
Sheikh Nasrallah. Für den griechisch-orthodoxen<br />
Patriarchen in Jerusalem war<br />
das Maß schließlich voll und Atallah Hanna<br />
musste seinen Posten als Sprecher seiner Kirche<br />
abgeben.<br />
Spätestens der „Fall Hanna“ wirft die Frage auf,<br />
wie glaubwürdig sich die palästinensische Befreiungstheologie<br />
von einer Aneignung Jesu als Shahid<br />
distanziert. Kann es sein, dass man hier doch<br />
wenigstens partiell von der islamistischen „Kultur<br />
des Todes“ beeinflusst ist, von der man sich im<br />
Kairos-Papier distanziert hat. Bleibt zu hoffen,<br />
dass die dort ausgesprochene „Hochachtung vor<br />
allen, die ihr Leben für unsere Nation hingegeben<br />
haben“, nicht als Verklärung von Selbstmordattentäter<br />
missverstanden wird.<br />
Die Palästinenser - die wahren Juden?<br />
Naim Ateeks Gleichsetzung des heutigen Staates<br />
Israel mit den römischen Besatzern zur Zeit Jesu<br />
stellt unter palästinensischen Theologen kein<br />
Einzelfall dar. Mitri Raheb, lutherischer Pfarrer<br />
in Bethlehem, sieht ebenfalls Parallelen. Er geht<br />
sogar noch weiter, wenn er meint, die palästinensischen<br />
Christen seien „die einzigen in der Welt,<br />
die, wenn sie über ihre Vorväter sprechen, ihre<br />
wirklichen Vorfahren meinen, ebenso wie ihre<br />
Vorväter im Glauben.“ „Es waren unsere Vorväter,“<br />
so hebt er hervor, „denen die Offenbarung<br />
gegeben wurde.“ 7<br />
Raheb stellt in seiner Rede auf der Konferenz<br />
„Christ at the Checkpoint“ die Palästinenser<br />
als die einzigen legitimen Erben des biblischen<br />
Israel hin. Seine Rechtfertigung für diese theologische<br />
Enteignung der Juden: Nicht Israel,<br />
sondern nur die Palästinenser könnten die Erfahrung<br />
der Entrechtung und Unterdrückung<br />
verstehen, von der die Bibel berichtet. Man<br />
könnte es noch nachvollziehen, dass ein Palästinenser<br />
die biblische „Perspektive von unten“<br />
stark macht zugunsten seines in der Tat geschundenen<br />
Volkes, auch dass er hier Affinitäten zu<br />
seiner eigenen Situation entdeckt und für sich<br />
und seine christlichen Glaubensgeschwister die<br />
geistliche Gotteskindschaft reklamiert.<br />
Aber Mitri Raheb will mehr: Er sieht die Palästinenser<br />
nicht nur spirituell, sondern auch „nach dem<br />
Fleisch“ in der Nachfolge des biblischen Israel.<br />
Mit dieser ethnischen Argumentation begibt er<br />
sich aber auf ein ganz gefährliches Terrain. Er<br />
entzieht den heutigen Juden ihre Legitimität<br />
nicht nur aus historischen oder theologischen<br />
Über legungen, sondern er argumentiert mit der<br />
rassischen Ab stammung: „Ich bin sicher,“ so führt<br />
Raheb in seinem Vortrag aus, „wenn wir einen<br />
DNA-Ab gleich von David, der aus Beth lehem<br />
war, und Jesus, der in Bethlehem geboren wurde,<br />
sowie Mitri machen, der gegenüber von dort<br />
geboren wurde, wo Jesus geboren wurde, dann bin<br />
ich sicher, dass die DNA zeigen wird, dass es eine<br />
Spur gibt. Aber wenn man König David, Jesus<br />
und Netanyahu abgleicht, wird man nichts finden,<br />
denn Netanyahu kommt aus einem osteuropäischen<br />
Stamm, der im Mittelalter zum Judentum<br />
übertrat.“<br />
In der Geschichte des Rassenantisemitismus gibt<br />
es die Unterstellung, die Juden seien aufgrund<br />
ihrer durch die Tora angeordneten „tausendjährigen<br />
Inzucht“ (Adolf Hitler) besonders reinrassig.<br />
Es gibt freilich auch die andere Variante, wonach<br />
der weitaus größere Teil der heute lebenden Juden<br />
im ethnischen Sinn überhaupt keine Juden<br />
seien. Diese weit weniger bekannte Variante des<br />
Rassenantisemitismus findet heute in islamistischen<br />
sowie in rechtsradikalen Kreisen Anhänger.<br />
Um mich klar auszudrücken: Ich halte Mitri<br />
Raheb für keinen Antisemiten – in seinem Buch<br />
„Christ und Palästinenser“ distanziert er sich<br />
ausdrücklich von der Vorstellung einer palästinensischen<br />
Rasse 8 - aber er befördert mit dieser<br />
Argumentation ein antisemitisches Denk schema,<br />
das in der arabischen Welt ohnehin weit verbreitet<br />
ist.<br />
Die Kunstfigur eines wahren gojischen ‚Juden’,<br />
der in Konkurrenz zu und Abgrenzung gegen die<br />
wirklichen Juden aufgebaut wird, ist, wie F. W.<br />
Marquardt richtig bemerkt hat, eine „antijüdische<br />
Vernichtungsfigur“, 9 von der wir Christen<br />
nach den Erfahrungen der Geschichte besser die<br />
Finger lassen würden. Dass sich Raheb dabei angeblich<br />
auf die Thesen des jüdischen Historikers<br />
Shlomo Sand stützt, macht die Sache nicht<br />
besser. Erstens ist es in der Geschichte der<br />
Judenfeindschaft ein weithin praktizierter Usus,<br />
sich durch den Hinweis auf jüdische Gewährsmänner<br />
abzusichern – um nicht zu sagen: zu<br />
exkulpieren. Zweitens sind Sands Vermutungen,<br />
wonach der Großteil der heutigen Juden Nachfahren<br />
von Konvertiten – also im ethnischen<br />
4<br />
Phttp://livingjourney.wordpress.com/2006/07/11/palestiniansdepicted-as-christ-crucified/<br />
5<br />
http://www.israelheute.com/default.aspx?tabid=179&nid=22507<br />
6<br />
http://www.christianitytoday.com/ct/2002/juneweb-only/6-17-<br />
51.0.html.<br />
7<br />
Das engl. Original findet sich unter: http://www.christatthecheckpoint.com/lectures/Mitri_Raheb.pdf.<br />
Hier wird die deutsche<br />
Übersetzung zitiert von: http://ahuvaisrael.com/2012/02/08/herzoghalt-laudatio-fur-antisemitischen-pastor-raheb/,<br />
Hervorhebung von<br />
mir (S.M.).<br />
8<br />
Christ und Palästinenser, Berlin 2004, S.24.<br />
9<br />
Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie,<br />
Bd.2, Gütersloh 1994, S. 281.<br />
Seite 24 — PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS?<br />
PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? — Seite 25
Sinne gar keine Juden – seien, nichts weiter als<br />
eine abstruse, von der heutigen Populationsgenetik<br />
widerlegte These. 10<br />
„Das gegenwärtige Israel ist nicht das Israel der<br />
Bibel oder das Israel des Bundes.” 11 Das ist auch<br />
die Meinung von Alex Awad, Professor am Bethlehem<br />
Bible College, Baptistenprediger in Ostjerusalem<br />
und Organisator von „Christ at the<br />
Checkpoint“. Das neue Gottesvolk, das neue Israel<br />
bzw. die wahren Juden, das sind nach Auffassung<br />
der palästinensischen Befreiungstheologie die<br />
Christen. Ob dieser Anspruch nur in geistlichem<br />
oder auch in ethnischem Sinne gemeint ist, darüber<br />
herrscht offenbar noch Uneinigkeit. Wie<br />
auch immer: In beiden Fällen handelt es sich um<br />
Varianten einer christlichen Enterbungslehre, die<br />
wir eigentlich hinter uns gelassen haben sollten.<br />
Das Alte Testament ‒<br />
nur eine unverbindliche Vorfassung?<br />
Ist schon das Jude-Sein Jesu ein empfindlicher<br />
Stachel im Fleisch der palästinensischen Christen,<br />
so muss die Tatsache, dass der größere Teil<br />
ihrer Heiligen Schrift vom Ursprung her ein jüdisches<br />
Buch ist, eine regelrechte Anfechtung bedeuten.<br />
Mitri Raheb spricht in seinen insgesamt<br />
recht ausgewogenen Ausführungen zu einer<br />
„Bibelauslegung im israelisch- palästinensischen<br />
Kontext“ 12 von einem „Entfremdungsprozess“<br />
zwischen ihm und seiner Bibel, der sich während<br />
seines Studiums in Deutschland vollzogen habe.<br />
Hier begegnete er einer Holocaust-Theologie, die<br />
erstmals Ernst machte mit der doppelten Nachgeschichte<br />
des sog. Alten Testaments. Wieder<br />
zurück im Nahen Osten begegnete er offenbar<br />
aber auch christlichen Zionisten und jüdischen<br />
Siedlern, die die Bibel für ihre politischen Zwecke<br />
instrumentalisierten und Gebietsansprüche<br />
damit rechtfertigen wollten. Spätestens hier regte<br />
sich sein Widerstand. Er wollte die Bibel seiner<br />
Kindheit nicht so kampflos seinen politischen<br />
Gegnern überlassen und entwickelte eine eigene<br />
Hermeneutik, die versucht, dem spezifisch palästinensischen<br />
Kontext Rechnung zu tragen. Diese<br />
Hermeneutik, die ausdrücklich auch das Erste<br />
Testament gleichberechtigt zu Wort kommen<br />
lässt, sieht die Bibel als ein „Buch von Verfolgten“.<br />
Doch darf er sich deshalb anmaßen zu sagen:<br />
„In Wirklichkeit waren es unsere Vorfahren, die<br />
die Bibel geschrieben haben“? 13 Die Bibel ist, von<br />
wenigen Ausnahmen vielleicht abgesehen, als<br />
Buch von Juden für Juden geschrieben worden,<br />
nicht aber von Palästinensern.<br />
Mitri Rahebs Weggefährte Naim S. Ateek spricht<br />
zwar auch davon, dass er das Alte Testament wert<br />
schätze, weil es den „Hintergrund“ seines Glaubens<br />
darstelle. Aber an seiner Autorität macht<br />
er doch erhebliche Abstriche: Mehr als eine unverbindliche<br />
„Vorfassung“ ist die Hebräische<br />
Bibel für ihn nicht. Seine Aussagen kommen nur<br />
dann zum Tragen, wenn sie mit der „Christus-<br />
Sicht“ des Neuen Testaments korrespondieren.<br />
Wo dies nicht der Fall ist, handle es sich nach<br />
Ateek um „ungefähre, vorläufige Positionen, die<br />
nicht als verbindlich gelten“. 14<br />
Diesem eklektischen Umgang mit der Bibel, den<br />
er ganz offen als „Ent-Zionisierung“ propagiert,<br />
fällt vor allem die Tora zum Opfer. Die fünf<br />
Bücher Mose sind für ihn „Geschichte, aber ...<br />
nicht bindende Theologie“. Es ist vor allem<br />
der angebliche Exklusivismus, der ihn an den<br />
Schriften des Pentateuch stört. Die Tora kenne<br />
„nur zwei Modelle des Umgangs mit den einheimischen<br />
Völkern: Vertreibung oder Vernichtung“.<br />
15 Mit Verachtung spricht er von ihrem<br />
Nationalismus, ihrer Bigotterie und ihrem Stammesdenken.<br />
16 Positiv anknüpfen könne er als<br />
Christ angeblich nur bei den alttestamentlichen<br />
Propheten, die bereits eine langsame Entwicklung<br />
hin zu einem universalistischen Verständnis<br />
Gottes durchgemacht hätten.<br />
Diese „Prophetenanschlusstheologie“ (Klaus<br />
Koch) ist noch immer im Denkschema Verheißung-Erfüllung<br />
befangen. Das Alte Testament<br />
ist ein veraltetes Testament, das seine Bedeutung<br />
nur vom Neuen Testament her erhält: Von diesem<br />
korrigiert, überboten oder vollendet. Doch erstens<br />
wäre es eine Verkürzung der Hebräischen<br />
Bibel, sie auf den Aspekt der Verheißungen reduzieren<br />
zu wollen. Sie enthält auch Trost, Mahnung,<br />
Lob, Weisung, Klage und vieles andere<br />
mehr. Zweitens kommen einige Verheißungen<br />
durchaus bereits innerhalb des Alten Testaments<br />
zu ihrem Ziel. So erfüllt sich das Versprechen gegenüber<br />
den Ahnvätern, einmal zu einem großen<br />
Volk zu werden, bereits während der Knechtschaft<br />
in Ägypten. Drittens sollten Christen<br />
realistisch genug sein anzuerkennen, dass die<br />
meisten eschatologischen Verheißungen noch<br />
keineswegs Realität geworden sind. Auch nach<br />
dem Kommen Christi führen die Völker Krieg<br />
gegeneinander und das Kind spielt noch immer<br />
nicht am Loch der Otter. Nein, das Entscheidende<br />
steht noch aus, das Neue Testament hat das<br />
Alte Testament weniger erfüllt, als bestätigt. Das<br />
Evangelium setzt die Schriften des Alten Bundes<br />
neu in Kraft. So jedenfalls verstehe ich meine<br />
Bibel.<br />
Anders die Sicht von Bishara Awad, Dozent am<br />
Bethlehem Bible College und Bruder des bereits<br />
erwähnten Alex Awad. Nach seiner Überzeugung<br />
kam im Alten Testament die göttliche Offenbarung<br />
nur als „Schatten, Vorabbild und Prophezeiung,“<br />
17 im Neuen Testament hingegen als<br />
„Realität, Substanz und Erfüllung.” 18 Das erinnert<br />
sehr an die „Abschattungen“ und „Vorausdarstellungen“,<br />
die auch Gerhard von Rad in<br />
Blick auf die hebräische Bibel gesehen hat. Bei<br />
dieser Kombination von Entsprechung und Steigerung<br />
zwischen den beiden Testamenten, die<br />
eigentlich der Hermeneutik einer vergangenen<br />
Generation angehört, kann es nicht verwundern,<br />
wenn Awad zu dem Schluss kommt, dass der<br />
neue Bund den alten aufhebt, schlicht annulliert. 20<br />
Hier ist Mitri Raheb deutlich weiter, wenn er das<br />
betont: „Das Alte Testament und das Neue Testament<br />
sind eine Einheit.“ 21 In gewisser Nähe zu<br />
10<br />
Vgl. zu diesem Themenkomplex S. Meißner: Sind die Palästinenser<br />
die wahren Juden? – Mitri Raheb, Shlomo Sand<br />
und der Chasarenmythos, <strong>Begegnungen</strong>2/2012, S. 21ff.<br />
11<br />
Through the Eyes of the Victims, http://www.alexawad.org/<br />
download/VICTIMSE.PDF, S.78.<br />
12<br />
Christ und Palästinenser, S. 90ff.<br />
13<br />
Siehe Fußnote.7.<br />
14<br />
A.a.O., S. 90<br />
15<br />
A.a.O., S.97.<br />
18<br />
A.a.O., S.96.<br />
17<br />
„shadow, image, and prophecy”; http://www.sabeelskandinavien.org/<br />
index.php?option=com_content&view=article&id=100&Itemid=113.<br />
18<br />
„reality, substance, and fulfillment”; ebd.<br />
19<br />
Verkündigung und Forschung, 1940, S.64.<br />
20<br />
Ebd.<br />
21<br />
A.a.O., S.99.<br />
Nein, das Entscheidende steht noch aus,<br />
das Neue Testament hat das Alte Testament<br />
weniger erfüllt, als bestätigt.<br />
Das Evangelium setzt die Schriften des<br />
Alten Bundes neu in Kraft.<br />
Seite 26 — PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS?
Bonhoeffer, der die Weltlichkeit des Alten Testaments<br />
durchaus schätzte, meint der Bethlehemer<br />
Pfarrer, dieses könne uns in besonderer Weise<br />
„die soziopolitische Bezogenheit des Glaubens<br />
deutlich machen.“ 22<br />
Das Kairos-Dokument ist gegenüber dem Ersten<br />
Testament zwar nicht ganz so abwertend wie<br />
Bishara Awad, es betont aber doch auch die die<br />
Diskontinuität zwischen den beiden Teilen der<br />
Bibel: Jesus habe „eine neue Lehre“ (Mk 1,27)<br />
gebracht, die „ein neues Licht“ auf das Alte Testament<br />
werfe (2-2-2). Mit dieser Relativierung des<br />
Alten durch das Neue Testament werden nun<br />
auch „Themen wie die Verheißungen, die Erwählung,<br />
das Volk Gottes und das Land“ abgeschwächt<br />
– um nicht zu sagen: zur Disposition<br />
gestellt. Es gehe weniger darum, „was Gott in der<br />
fernen Vergangenheit gesagt haben mag“, sondern<br />
es komme darauf an, „was Gott uns hier und<br />
heute sagt“. Was Gott hier und heute sagt, ist offenbar<br />
stets das, was der eigenen Sache nützt. Wer<br />
auf dem bleibenden Wert des Alten Testaments<br />
besteht, wird als Fundamentalist gebrandmarkt,<br />
der aus Gottes lebendigem Wort einen „toten<br />
Buchstaben“ macht. Dabei wird die westliche<br />
Holocaust-Theologie mit dem naiven Biblizismus<br />
radikaler jüdischer Siedler in Eins gesetzt. Raheb<br />
und Ateek – beide haben im Westen Theologie<br />
studiert - sollten es eigentlich besser wissen!<br />
Diese Schere im Kopf, der große Teile des Alten<br />
Testaments zum Opfer fallen und die einen quasi<br />
judenfreien Bibelkanon zur Folge hat, erinnert in<br />
mancher Hinsicht an Marcion. Dessen Haltung<br />
entspringt einem gnostischen Dualismus, für<br />
den der Gott des Alten Bundes ein grausamer<br />
Demiurg ist. Bishara Awad ist kein Gnostiker,<br />
aber auch er löst die dialektische Spannung von<br />
Gesetz und Evangelium einseitig zuungunsten<br />
des ersteren auf. Seine Hermeneutik des Alten<br />
Testaments ist zumindest anfällig für eine Lesart<br />
der Bibel, deren Opfer in der Geschichte mehr als<br />
einmal die Juden wurden.<br />
Erwählung – eine rassistische Kampflehre?<br />
Wenn Jesus kein Jude, sondern Palästinenser war,<br />
wenn die Palästinenser die wahren Juden sind und<br />
die Hebräische Bibel nur eine unverbindliche<br />
Vorgeschichte zum Neuen Testament ist, - Sie<br />
ahnen es bereits - dann kann es auch keine<br />
bleibende Erwählung des jüdischen Volkes geben.<br />
Jedenfalls keine, an der nicht auch die Palästinenser<br />
Anteil hätten.<br />
Tatsächlich meinte der katholische Erzbischof<br />
von Israel Elias Chacour jüngst: „Wir glauben<br />
nicht mehr, dass die Juden das erwählte Volk<br />
sind“. 24 Auch der melekitische Erzbischof<br />
Cyrille Bustros, kein Palästinenser, sondern ein<br />
Libanese, äußerte sich in diese Richtung: „Es<br />
gibt kein erwähltes Volk mehr – alle Männer und<br />
Frauen aus allen Ländern sind das erwählte Volk<br />
geworden.“ 25 Ähnlich klingt es auch beim Führer<br />
der koptischen Kirche in Ägypten, Papst<br />
Shenouda III., der erklärte: „Die modernen<br />
Juden sind nicht das auserwählte Volk Gottes“.<br />
Fast alle Vertreter der orientalischen Kirchen<br />
scheinen sich hier einig zu sein.<br />
Interessant sind bei diesen Verlautbarungen die<br />
kleinen Füllwörter: Die modernen Juden sind<br />
nicht mehr das erwählte Volk. Waren sie es einmal<br />
in der Vergangenheit? Offenbar gab es einmal<br />
Juden, die erwählt waren. Aber – so darf man<br />
wohl ergänzen – sie haben diese Erwählung<br />
durch ihren Unglauben Christus gegenüber<br />
verspielt. Jetzt sind die Christen das neue Gottesvolk,<br />
das alte Israel hat ausgedient. Das ist theologisch<br />
die gleiche Enterbungstheologie, die uns<br />
bereits oben im Zusammenhang mit den Palästinensern<br />
als den wahren Juden begegnete. Auch<br />
dort wurde der Begriff des Juden so erweitert,<br />
dass ein Christ aus Bethlehem, Bet Jala oder<br />
Ostjerusalem sich problemlos als Erbe des Alten<br />
Bundes ansehen kann. Wer ist auch schon gerne<br />
Gottes zweite Wahl?<br />
Auch das Kairos-Papier fordert, die Bedeutung<br />
der Verheißungen, des Landes, der Erwählung<br />
und des Volkes Gottes“ so zu erweitern, dass sie<br />
die ganze Menschheit mit einschließt (2-3). Ob<br />
die heutigen Juden erwählt bleiben, bleibt hier<br />
offen. Zumindest gehen sie ihrer besonderen Erwählungsprärogative<br />
verlustig, die der Apostel<br />
Paulus in Röm 9,4f. noch als bleibende Kennzeichen<br />
seiner „Stammverwandten“ festhielt:<br />
Ihnen gehören die Kindschaft, die Herrlichkeit,<br />
die Bundesschlüsse, das Gesetz, der Gottesdienst,<br />
die Verheißungen, sowie die Väter, „aus denen<br />
Christus herkommt nach dem Fleisch.“ Das alles<br />
wird ihnen von den palästinensischen Theologen<br />
abgesprochen, bzw. sie müssen es zumindest mit<br />
dem Rest der Menschheit teilen.<br />
Schon sprachlich erscheint mir die Rede von einer<br />
Erwählung der ganzen Menschheit irreführend<br />
zu sein. Wählen bedeutet doch aus verschiedenen<br />
Möglichkeiten eine auszusuchen. Wenn aber alle<br />
Menschen erwählt sind, dann ist niemand<br />
erwählt. Alttestamentlich jedenfalls bedeutet<br />
Erwählung nach Rolf Rendtorff eine „besondere<br />
Zuwendung Gottes zu dem einen Volk Israel“.<br />
Es geht also nicht um eine Erwählung aller<br />
Völker, sondern um die Erwählung Israels „aus<br />
allen Völkern“ (Dtn 7,6). Das macht – wie ich<br />
finde – einen gewissen Unterschied.<br />
Wie nun: Haben die Juden etwa ein Privileg,<br />
auf die sie sich etwas einbilden können? Bedeutet<br />
eine solche Erwählung nicht, wie Marc<br />
Braverman argwöhnt, „die Rückkehr zu einem<br />
archaischen Gottesbild, zu einem Gott, der sich<br />
an einen bestimmten geografischen Ort bindet<br />
und einem bestimmten Volk den Vorzug gibt“?<br />
Handelt es sich gar, wie man immer wieder zu<br />
lesen bekommt, um eine „rassistische Kampflehre“ ?<br />
In diese Richtung gehen die Hasstiraden des in<br />
die USA emigrierten Palästinensers Elias Akleh.<br />
Auf die Frage, warum die Juden so oft in der<br />
Geschichte Verfolgung durch andere Völker<br />
erleiden mussten, hat er eine ganz einfache Antwort:<br />
Die antijüdischen Gefühle kommen her<br />
„von der jüdischen Haltung anderen gegenüber.<br />
Ihr Glaube, Gottes erwähltes Volk zu sein, bestärkt<br />
sie in dem Glauben, sich selbst als globale<br />
Herrenrasse anzusehen, sich selbst zurückzuziehen<br />
in geschützten Gemeinschaften (Ghettos),<br />
weg von allen unreinen Völkern, auf andere<br />
Völker herab zu schauen und die anderen als<br />
Sklaven oder Tiere anzusehen, deren einzige<br />
Existenz darin besteht, den Juden zu dienen.“ 27<br />
Spätestens an diesem Beispiel ist die Grenze<br />
zum offenen Antisemitismus überschritten. Die<br />
„Argumente“ Aklehs unterscheiden sich in nichts<br />
mehr von dem, was die Propagandamaschinerie<br />
der Nationalsozialisten zum Thema Erwählung<br />
zu sagen hatte. Eine inhaltliche Auseinandersetzung<br />
mit diesen Stereotypen würde sich<br />
eigentlich erübrigen, würden sie nicht in abgemilderter<br />
Form immer wieder neu belebt.<br />
Zum Glück gibt es unter den palästinensischen<br />
Christen auch zurückhaltendere Stimmen. Zwar<br />
warnt auch Mitri Raheb vor einer Objektivierung<br />
von Erwählung, die aus einem Glaubenssatz ein<br />
Dogma, eine Ideologie macht. Auch er meint, Israel<br />
dürfe aufgrund dieser biblischen Denkfigur<br />
keine Sonderrechte für sich beanspruchen und er<br />
beklagt sich über die jüdischen Einwanderer, die<br />
um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert den<br />
Palästinensern mit der „Überheblichkeit von<br />
Kolonialisten“ gegenüber getreten sind. 28 Aber es<br />
klingt (zumindest im Vergleich zu dem zuvor<br />
Gehörten) wohltuend sachlich, wenn er festhält:<br />
„Der Glaube an die Erwählung Israels und die<br />
Befreiung der Palästinenser müssen sich (...)<br />
nicht widersprechen.“ 29 Anders als etwa Alex<br />
Awad, der aufgrund des moralischen Versagens<br />
der heutigen Juden diesen abspricht, weiter Volk<br />
Gottes zu sein, schließt Raheb aufgrund von<br />
Römer 11,17-25: „Diese Treue Gottes kennt<br />
keine Grenzen. Auch nicht die des Unglaubens<br />
Israels.“ 30<br />
Hier macht Mitri Raheb erfreulicherweise keine<br />
Abstriche an der Einsicht des Paulus, dass am<br />
Ende, wenn der Erlöser im Zion kommen wird,<br />
„ganz Israel“ gerettet werden wird. Das ist die<br />
Pointe des Ölbaumgleichnisses, das die Heiden vor<br />
Überheblichkeit warnen soll und ihnen vor Augen<br />
führt: Ihr seid „nur“ ein wilder Zweig, der<br />
von der edlen Wurzel, dem biblischen Israel her,<br />
sein Kraft bezieht.<br />
„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt<br />
dich“ (11,18).<br />
22<br />
Ebd.<br />
23<br />
Vgl. dazu F. Crüsemann: Das Alte Testament als Wahrheitsraum<br />
des Neuen, v.a. Kap.1<br />
24<br />
www.juedische-allgemeine.de/article/print/id/12731.<br />
25<br />
http://rt.com/politics/vatican-israel-palestinians-catholic/.<br />
26<br />
R. Rendtorff, Theologie des Alten Testaments Bd. 1, S. 27. Ähnlich<br />
H.J: Hermisson: Altes Testament, Neukirchen 1983, S. 236.<br />
27<br />
Israeli Myths, Part II, http://ziomania.com/articles2010/09/<br />
Israeli%20Myths-%20Part%20II.htm<br />
Seite 28 — PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? — Seite 29
Die palästinensischen Autoren heben zumeist<br />
nur darauf ab, dass der heilsgeschichtliche Fokus<br />
sich durch das Kommen Christi geweitet hat und<br />
nun auch die Heidenvölker mit einschließt. Sie<br />
ersparen ihrer Klientel aber die andere, nicht<br />
minder wichtige Seite der Medaille: dass die Juden<br />
weiter das erstberufene Volk Gottes bleiben<br />
und wir Christen „nur“ gnadenhalber in diese<br />
Verheißungsgeschichte hineingenommen sind.<br />
Wir sind die jüngere der beiden Geschwisterreligionen,<br />
deren gemeinsame Mutter das biblische<br />
Israel ist.<br />
Erwählung, da hat Raheb sicher Recht, ist immer<br />
eine unverfügbare Tat Gottes, die sich Israel mit<br />
nichts verdient hat.<br />
„Nicht hat euch der HERR angenommen und<br />
euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker -<br />
denn du bist das kleinste unter allen Völkern -,<br />
sondern weil er euch geliebt hat und damit<br />
er seinen Eid hielte, den er euren Vätern<br />
geschworen hat“ (Dtn 7,7).<br />
Erwählung kann man sich nicht verdienen, deshalb<br />
kann man sie aber auch nicht verwirken.<br />
Den letzten der beiden Halbsätze hört man bei<br />
palästinensischen Autoren zu selten. Die Tatsache,<br />
dass das Verhältnis zwischen Christen und<br />
Juden ein asymmetrisches ist, will man nicht<br />
sehen. Wir sind bei unserer Selbstdefinition sehr<br />
wohl auf das Judentum angewiesen sind, umgekehrt<br />
aber die Juden nicht auf uns.<br />
Die Spannung zwischen partikularistischen und<br />
universalistischen Aussagen darf nicht einseitig<br />
aufgehoben werden, wie das bei vielen Autoren<br />
aus dem palästinensischen Kontext geschieht.<br />
Beide ergänzen einander und sind unverzichtbar<br />
für den Heilsplan Gottes mit der Welt. Nur ein<br />
Israel, das seine Sonderexistenz inmitten der<br />
Völkerwelt bewahrt, sich also nicht assimiliert, ist<br />
in der Lage, „Licht für die Völker“ zu sein, d. h.<br />
den Gott Israels in der Welt bekannt zu machen.<br />
So entspringt die Lehre von der Erwählung<br />
Israels keinem archaischen „Stammesdenken“,<br />
sondern sie enthält, wie Emil Fackenheim richtig<br />
gesehen hat, „ein ‚universales‘ als auch ein ‚partikulares‘<br />
Element“. 31 Sie begründet auch „keinen<br />
Triumphalismus, sondern sie wird im Gegenteil<br />
oft sogar als „eine besondere Verantwortung und<br />
Die Erwählung Israels besteht genau darin,<br />
das Bewusstsein der Partikularität jeder Universalität wach zu halten. Nur so kann sicher gestellt werden,<br />
dass Allgemeingültigkeit nicht auf Kosten des Einzelnen und seines Anders-Seins geht.<br />
Bürde“ verstanden. 32 So flehten Juden nicht<br />
selten angesichts dieser Herausforderung: „Bitte<br />
Gott, wenn Du ein Volk wählen musst, wähle ein<br />
anderes!“ 33<br />
Vielleicht sehen wir heute mit einer gewissen<br />
Distanz zu dem, was man Moderne nennt, besser<br />
als noch vor ein paar Jahren, dass der ‚reine‘ Universalismus,<br />
den das palästinensische Christentum<br />
so gerne propagiert, nicht nur unbiblisch ist,<br />
sondern auch ein gefährliches Gewaltpotential<br />
birgt. Es war der jüdische Philosoph Emanuel<br />
Levinas, der nicht müde wurde, entgegen einem<br />
weit verbreiteten „modernistischen Vorurteil“ 34<br />
zu betonen: Universalität muss dem Einzelnen,<br />
dem Singulären, gerecht werden, um nicht<br />
gewalttätig zu werden. Die Erwählung Israels<br />
besteht genau darin, das Bewusstsein der Partikularität<br />
jeder Universalität wach zu halten. Nur<br />
so kann sicher gestellt werden, dass Allgemeingültigkeit<br />
nicht auf Kosten des Einzelnen und<br />
seines Anders-Seins geht.<br />
Zusammenfassung und Ausblick<br />
Anhand von vier Themenkomplexen habe ich<br />
versucht, Ihnen Einblicke zu ermöglichen in die<br />
sog. palästinensische Befreiungstheologie, die,<br />
wie wir gesehen haben, alles andere als eine einheitliche<br />
Größe ist. Wenn man sich den konfessionellen<br />
Hintergrund der behandelten Autoren<br />
vor Augen führt, kann das auch kaum anders<br />
sein: Das Spektrum reicht von den klassischen<br />
orientalischen Kirchen (Papst Shenouda III),<br />
über den Katholizismus (Elias Chacour) und die<br />
protestantischen Kirchen (Mitri Raheb, Naim S.<br />
Ateek) bis hin zum evangelikal-pfingstlerischen<br />
Lager (Alex und Bishara Awad).<br />
Was sich aber bei aller Vielstimmigkeit doch bei<br />
allen Vertretern beobachten lässt, sind Anleihen<br />
an die christliche Enterbungslehre. Sie zeigen sich<br />
daran, dass man Jesus zu einem Palästinenser umzudeuten<br />
versucht. Manche sehen in ihm – dabei<br />
vermutlich beeinflusst von einem militant-islamischen<br />
Umfeld – einen gekreuzigten Märtyrer<br />
(Shahid), dem nachzueifern den Gläubigen als<br />
Vorbild hingestellt wird. Aus dem Repertoire des<br />
klassischen Antijudaismus stammt zweitens auch<br />
der Versuch, sich selbst, in Opposition und<br />
Abgrenzung zu den heutigen Juden, als das neue<br />
Gottesvolk darzustellen. Vollends problematisch<br />
wird dieses Unterfangen, wenn man sich dabei<br />
nicht nur als ‚geistlichen‘, sondern auch als<br />
‚tatsächlichen‘, d. h. rassischen Erben des Judentums<br />
sieht. An dritter Stelle habe ich die Bibelhermeneutik<br />
der palästinensische Befreiungstheologie<br />
unter die Lupe genommen. Hier<br />
kommt es nicht nur zu einer naiven Vereinnahmung<br />
der Hebrä ischen Bibel zum Zweck der<br />
eigenen Identitätsfindung, sondern es wird auch<br />
ein Keil zwischen Altes und Neues Testament<br />
getrieben, so dass das Alte Testament nicht mehr<br />
als vollgültige Heilige Schrift, sondern nur noch<br />
als unverbindliche Vorfassung erscheint. Diese<br />
Vorfassung wird dann als Steinbruch missbraucht,<br />
aus dem man sich dann genau die<br />
Brocken heraussucht, die einem argumentativ<br />
„in den Kram“ passen. Am Schluss haben wir<br />
gesehen, wie auch beim Thema der Erwählung<br />
Israels die Diskontinuität zwischen dem biblischen<br />
Israel und dem heutigen Judentum hervorgekehrt<br />
wird. Mit der Rede von der „Erwählung<br />
aller Menschen“ wird einem reinen<br />
Universalismus das Wort geredet, der, wie ich zu<br />
zeigen versucht habe, nicht nur unbiblisch,<br />
sondern auch potentiell gewalttätig ist.<br />
Alles in allem wird man also zu dem Schluss<br />
kommen müssen, dass die palästinensische Befreiungstheologie<br />
ihre Ziele zumindest partiell<br />
„auf Kosten Israels“ verfolgt. Auch die menschlichen<br />
Tragödien, die sich unter israelischer<br />
Besatzung abspielen und die ich gewiss nicht<br />
beschönigen will, rechtfertigen nicht, dass man<br />
auf Argumentationsmuster zurückgreift, von<br />
denen man heute weiß, dass sie mitgeholfen haben,<br />
Auschwitz zu ermöglichen. Wenn es wirklich<br />
unser aller Überzeugung ist, dass solches nie<br />
28<br />
A.a.O., 111.<br />
29<br />
A.a.O., 112.<br />
30<br />
A.a.O., 108.<br />
31<br />
Was ist Judentum? Eine Deutung für die Gegenwart,<br />
Berlin 1999, S.97.<br />
32<br />
M. Weinrich: Sind die Juden das auserwählte Volk?; in:<br />
Ich glaube an den Gott Israels, Gütersloh 1998, S.96.<br />
33<br />
E. L.Fackenheim: Was ist Judentum?, S. 98.<br />
34<br />
A.a.O., S.95.<br />
PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? — Seite 31
wieder geschehen darf, muss sich das Christentum<br />
einer steten Selbstprüfung unterziehen. Von<br />
dieser Selbstprüfung sehe ich - gerade im palästinensischen<br />
Kontext - bislang noch zu wenig.<br />
Diese Befreiungstheologie geht „auf Kosten<br />
Israels“, weil sie dazu beiträgt, den Staat Israel<br />
ideologisch zu delegitimieren. Sie gießt mit antijüdischen<br />
Stereotypen zusätzliches Öl in ein<br />
ohne hin schon lichterloh brennendes Feuer. Die<br />
überschrillen Töne dienen nicht zuletzt dazu, in<br />
einem immer militanter werdenden islamischen<br />
Kontext überhaupt noch Gehör zu finden. Indem<br />
man ‚die Juden‘ zum gemeinsamen Feind stempelt,<br />
bemüht man sich um einen Schulterschluss<br />
mit der muslimischen Mehrheitsgesellschaft.<br />
Doch im Endeffekt geht diese Strategie auf<br />
Kosten aller Menschen in der Region, auf beiden<br />
Seiten der festgefahrenen Fronten. Die Folgen eines<br />
durch religiöse Propaganda weiter angeheizten<br />
Konfliktes wird zu einem guten Teil die palästinensische<br />
Zivilbevölkerung zu tragen haben.<br />
„Auf Kosten Israels“ heißt auch auf Kosten von<br />
Juden in anderen Teilen der Welt. Die Eskalation<br />
der Gewalt im Heiligen Land verschärft auch die<br />
ohnehin angespannte Sicherheitslage der Juden<br />
in Deutschland. Das Spektrum reicht von verbalen<br />
Pöbeleien auf der Straße, über Sachbeschädigungen<br />
bei jüdischen Einrichtungen bis hin zu<br />
offenen gewalttätigen Angriffen auf Leib und<br />
Leben der hier lebenden Menschen. Hier sehe<br />
ich es als unsere Pflicht an, als Kirchenvertreter<br />
deeskalierend zu wirken und nicht zusätzlich<br />
antijüdischen Zerrbildern Raum zu geben.<br />
Die palästinensische Befreiungstheologie geht<br />
schließlich auch auf unsere eigenen Kosten: Die<br />
ständige Agitation kirchlicher Gruppierungen,<br />
die sich die palästinensische Sache auf die Fahne<br />
geschrieben haben, führt auch in Deutschland<br />
dazu, dass Denkweisen wieder hoffähig werden,<br />
die ich eigentlich bereits überwunden geglaubt<br />
hatte. Damit sickern antijüdische Ressentiment<br />
bis weit in den kirchlichen Mainstream ein – ein<br />
Trend, den auch der jüngste Antisemitismusbericht<br />
der Bundesregierung festgestellt hat.<br />
Was das für unser Gespräch mit dem Judentum<br />
bedeutet, das gemessen an den Jahrhunderten<br />
des Aneinandervorbei-Redens noch ein ganz<br />
zartes, verletzliches Pflänzchen ist, ist heute noch<br />
nicht abzusehen. Es wird künftig sicher nicht<br />
leichter werden, Kontakte mit jüdischen Dialog-<br />
partnern herzustellen, wenn diese aus unseren<br />
Kreisen Schlagworte wie Apartheid, Genozid<br />
oder Boykott hören. Erste besorgte Reaktionen<br />
lassen erkennen, welches Porzellan hier bereits<br />
zerbrochen wurde. Ähnlich wie für Yehiel<br />
Poupko geht für viele von ihnen gerade eine<br />
Etappe der Kirchengeschichte zu Ende: eine<br />
Etappe der Buße, der Umkehr und es Neubeginns.<br />
Ob es wirklich so schlimm kommt, oder<br />
ob wir diesen Trend vielleicht doch noch einmal<br />
umkehren können, hängt auch an unserem Umgang<br />
mit der palästinensischen Befreiungstheologie.<br />
Der Aufsatz stellt die leicht überarbeitete Fassung eines Vortrages<br />
vom 5. Juni 2012 dar, der für die Christlich - Jüdische<br />
Arbeitsgemeinschaft des Saarlandes e. V. und die Evangelische<br />
Akademie im Saarland gehalten wurde.<br />
Dr. Stefan Meißner ist Vorsitzender des landeskirchlichen<br />
Arbeitskreises „Kirche und Judentum“ der Evangelischen Kirche<br />
der Pfalz. stefanmeissner@gmx.net<br />
Doch im Endeffekt geht diese Strategie<br />
auf Kosten aller Menschen in der Region,<br />
auf beiden Seiten der festgefahrenen Fronten.
Der Begriff „Lehrhaus“ kommt aus dem jüdischen Kontext<br />
und bezeichnet eine religiöse Schule für Erwachsene.<br />
Die Geschichte der Institution Jüdisches Lehrhaus<br />
reicht bis in die Antike zurück.<br />
Michael Volkmann<br />
Die Lehrhausbewegung<br />
Der Begriff „Lehrhaus“ kommt aus dem jüdischen<br />
Kontext und bezeichnet eine religiöse<br />
Schule für Erwachsene. Die Geschichte der<br />
Institution Jüdisches Lehrhaus reicht bis in die<br />
Antike zurück. Sie hat im 20. Jahrhundert eine<br />
neue, zeitenweise dramatische Wendung genommen.<br />
Darum wende ich mich im Folgenden<br />
beiden Richtungen zu: dem Blick zurück in die<br />
Geschichte der Institution Lehrhaus und dem<br />
Blick auf uns und nach vorn.<br />
Der aktuelle Ausgangspunkt:<br />
die Entstehung des Stuttgarter Lehrhauses<br />
Am 7. Februar 2010 wurde das „Stuttgarter Lehrhaus.<br />
Stiftung für interreligiösen Dialog“ feierlich<br />
eröffnet. Mit ihrer Namenswahl „Lehrhaus“ stellt<br />
sich diese Einrichtung in eine alte Tradition, die<br />
beständig erneuert und verändert wird. Mit dem<br />
„interreligiösen Dialog“ stellt sie sich einer Aufgabe,<br />
deren Bedeutung erst in den letzten Jahren<br />
einem weiteren Kreis von Menschen klar geworden<br />
ist. Im Folgenden werde ich beide Punkte,<br />
die Lehrhaus-Tradition und die Aufgabe des<br />
interreligiösen Dialogs, weiter ausführen.<br />
In Stuttgart hatte es von 1926 bis 1938 ein Jüdisches<br />
Lehrhaus gegeben. Eine ganze Reihe von<br />
Dingen musste sich ereignen, bis in Stuttgart<br />
jetzt wieder ein Lehrhaus gegründet werden<br />
konnte. Ein wesentlicher Faktor sind die Veränderungen,<br />
die durch die Öffnung Osteuropas<br />
und den Zuzug von Zweihunderttausend Juden<br />
im deutschen Judentum angestoßen wurden.<br />
Unerwartet blühte an vielen Orten jüdisches<br />
Leben auf. Die orthodoxe Einheitsgemeinde<br />
verlor ihre Monopolstellung, es gibt in Deutschland<br />
wieder konservatives und liberales Judentum,<br />
organisiert in der Union progressiver Juden.<br />
Die jüdischen Gemeinden erbringen einerseits<br />
enorme Integrationsleistungen, andererseits treten<br />
sie durch jüdische Kulturwochen und viele<br />
andere Veranstaltungen verstärkt an die nichtjüdische<br />
Öffentlichkeit. In Stuttgart, wo diese<br />
spannungsreichen Prozesse unter Wahrung der<br />
Einheit der Gemeinde vorangetrieben wurden,<br />
gründeten progressive Gemeindeglieder vor<br />
einigen Jahren den Verein „forum jüdischer<br />
bildung und kultur“ (fjbk). Der Verein möchte<br />
an die Tradition des erwähnten Jüdischen Lehrhauses<br />
Stuttgart anknüpfen.<br />
Ein zweiter Faktor ist das Gespräch zwischen<br />
Christen und Juden, das in der Evangelischen<br />
Landeskirche in Württemberg seit den 1970er<br />
Jahren im Kloster Denkendorf aufgebaut wurde.<br />
Diese Arbeit fand Anerkennung weit über unsere<br />
Landeskirche hinaus, so dass dafür eine hauptamtliche<br />
Stelle eingerichtet wurde. Seit 2003 bekleide<br />
ich diese Stelle. In Denkendorf führte ich<br />
mit einem Kollegen, der Mitglied des Islambeirats<br />
unserer Kirche war, in einer Kombination<br />
von christlich-jüdischem und christlich-islamischem<br />
Gespräch jährliche „trialogische“<br />
Veranstaltungen durch.<br />
Ein dritter Faktor ist das Projekt „Haus Abraham“,<br />
das die Christlich-islamische Gesellschaft<br />
Filderstadt in den 1990er Jahren konzipierte. Der<br />
Versuch, es zu realisieren, führte zur Gründung<br />
des Vereins „Haus Abraham“. Er wählte als<br />
seinen Sitz das Kloster Denkendorf, um den dort<br />
begonnenen „Trialog“ zu erweitern und zu vertiefen.<br />
Es wäre paradoxerweise nicht zur Gründung des<br />
Stuttgarter Lehrhauses gekommen, wenn die<br />
Landeskirche nicht beschlossen hätte, das Kloster<br />
Denkendorf zu schließen. Was uns zunächst<br />
Kummer und Kopfzerbrechen bereitete, wurde in<br />
kurzer Zeit zum Segen. Weil sowohl das „Haus<br />
Abraham“ als auch ich uns ins Zentrum, nach<br />
Stuttgart hin orientierten, beschlossen wir,<br />
gemeinsam eine neue Bleibe für unser Veranstaltungsangebot<br />
zu finden. Nun passierte das<br />
Entscheidende: Ein schwäbischer Unternehmer,<br />
der sowohl meiner Arbeit als auch dem „Haus<br />
Abraham“ nahesteht und der sehr viele jüdische,<br />
christlich-jüdische und interreligiöse Projekte in<br />
der Region Stuttgart als Mäzen fördert, gründete<br />
eine Stiftung. Er gewann das bereits erwähnte<br />
„forum jüdischer bildung und kultur“ (fjbk) als<br />
dritte Einrichtung für die Mitarbeit. Und so entstand<br />
die Idee, unser gemeinsames Projekt insgesamt<br />
in die Traditionslinie zu stellen, in der sich<br />
das fjbk bereits sah: die des Jüdischen Lehrhauses<br />
Stuttgart aus den 1920er und 1930er Jahren, nun<br />
aber in einer programmatischen Öffnung hin auf<br />
den interreligiösen Dialog zwischen den drei<br />
großen monotheistischen Religionen.<br />
Ich komme weiter unten wieder auf das Stuttgarter<br />
Lehrhaus zurück. Hier nur noch zwei kurze,<br />
das Lehrhaus charakterisierende Ergänzungen:<br />
Seite 34 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 35
Zwei Jahre nach der Eröffnung stellten zwei<br />
weitere Stuttgarter Vereine den Antrag, ins<br />
Lehrhaus aufgenommen zu werden: die Christlich-islamische<br />
Gesellschaft und die bereits 1948<br />
gegrün dete Gesellschaft für christlich-jüdische<br />
Zusammenarbeit, eine sehr angesehene Einrichtung<br />
mit mehr als vierhundert Mitgliedern.<br />
Aus diesem Anlass feierten wir im Frühjahr ein<br />
Fest mit dem Motto „Ein Haus voller Leben“.<br />
An einer Pinwand, die für Rückmeldungen und<br />
gute Wünsche vorgesehen war, brachte jemand<br />
einen Zettel an, auf dem stand, das Lehrhaus sei<br />
die wichtigste „(Vereins-?)gründung“ in Stuttgart<br />
in den vergangenen Jahren.<br />
Zur Herkunft des Begriffs „Lehrhaus“:<br />
Das traditionelle jüdische<br />
„Beit Hamidrasch“<br />
Im Babylonischen Talmud, Traktat Joma 35b,<br />
finden wir folgende Geschichte über Hillel den<br />
Älteren, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert<br />
aus Babylonien ins Land Israel kam, wo er später<br />
berühmt wurde, sich jedoch zunächst als Tagelöhner<br />
durchschlug:<br />
„Man erzählt von Hillel, dem Älteren, dass er täglich<br />
durch Arbeit einen Tropaik verdiente, von dem<br />
er die Hälfte dem Pedell des Lehrhauses gab und die<br />
andere Hälfte für seinen Unterhalt und den Unterhalt<br />
seiner Familie verwandte. Eines Tages fand er<br />
nichts zu verdienen, und der Pedell des Lehrhauses<br />
ließ ihn nicht herein; da kletterte er hinauf und setzte<br />
sich auf das Dachfenster, um die Worte des lebendigen<br />
Gottes aus dem Munde von Schemaja und Ptollion<br />
zu hören. Man erzählt, es war an einem Freitag um<br />
die Jahreswende des Tewet, und vom Himmel fiel der<br />
Schnee auf ihn nieder. Als die Morgenröte aufging,<br />
sprach Schemaja zu Ptollion: Bruder Ptollion, an<br />
jedem anderen Tage ist das Zimmer hell, heute aber<br />
ist es dunkel; ist denn der Tag so sehr wolkig? Als sie<br />
hinaufschauten und die Gestalt eines Menschen im<br />
Dachfenster bemerkten, stiegen sie hinauf und fanden<br />
ihn drei Ellen hoch mit Schnee bedeckt. Da holten sie<br />
ihn hervor, wuschen und schmierten ihn und setzten<br />
ihn gegen das Feuer, indem sie sagten, er verdiene<br />
es, dass man seinetwegen den Schabbat entweihe.“ 1<br />
Was lernen wir aus dieser Geschichte? Das Lehrhaus<br />
soll ein Ort sein, an dem die Menschen auftauen.<br />
Wenn dies schon für das Jüdische Lehrhaus<br />
gilt, um wie viel mehr für ein interreligiöses!<br />
Aber Spaß beiseite: Das Lehrhaus kann ein Ort<br />
sein, den Menschen sehr zu schätzen wissen.<br />
Hillel gibt die Hälfte seines Geldes dafür aus, im<br />
Lehrhaus mit dabei zu sein. Mehr noch: als es<br />
einmal nicht reicht, riskiert er gar sein Leben, um<br />
in einer kalten Winternacht durchs Dachfenster<br />
mitzuhören, was im Haus gesprochen wird. Und<br />
dann das Wichtigste: das Lehrhaus ist ein Ort, an<br />
dem aus dem Munde der Gelehrten Worte des<br />
lebendigen Gottes zu hören sind. Und zu diesen<br />
gehört es, am Sabbat Feuer zu machen, um ein<br />
Menschenleben zu retten.<br />
Dies ist der Grund, warum Rabbi Levi bar Chija<br />
im Traktat Berachot 64a sagen kann:<br />
„Wer das Bethaus [die Synagoge] verlässt und in<br />
das Lehrhaus geht und sich da mit der Tora befasst,<br />
dem ist es beschieden, das Antlitz der Göttlichkeit<br />
zu empfangen, denn es heißt [Psalm<br />
84,8]: ‚sie gehen von einer Kraft zur anderen und<br />
schauen den wahren Gott in Zion‘.“<br />
Die eine Kraft, das Bethaus, und die andere Kraft,<br />
das Lehrhaus, sind bereits in der Antike voll ausgebildete<br />
religiöse Institutionen des Judentums.<br />
Früheste bekannte Quellen stammen aus dem<br />
2. Jahrhundert v. Chr. Möglicherweise reichen<br />
die Ursprünge beider, der Synagoge und des Lehrhauses,<br />
zurück bis in die Zeit des babylonischen<br />
Exils im 6. vorchristlichen Jahrhundert, als die<br />
mit der Tempelzerstörung verloren gegangene<br />
Sühnewirkung der Opfer durch Lesungen, Gebete,<br />
Gesänge und den praktischen Vollzug der<br />
Umkehr „aufgewogen werden“ musste 2 . Als dann<br />
nach siebzig Jahren Exil der zweite Tempel<br />
geweiht wurde, scheinen diese Vorformen von<br />
Synagoge und Lehrhaus daneben weiter existiert<br />
zu haben.<br />
Die älteste Erwähnung eines Lehrhauses für<br />
Erwachsene, hebräisch Bet Midrasch, findet sich,<br />
lange bevor es Elementarschulen für Kinder gab,<br />
in dem apokryphen Buch Jesus Sirach (auch: Ben<br />
Sira, 51,23) etwa um 200 v. Chr. in dem sogenannten<br />
Gedicht über das Suchen nach Weisheit:<br />
„So nahet euch mir, ihr Unwissenden, und in meinem<br />
Lehrhaus haltet euch auf.“ Ein Lehrhaus,<br />
das ein Weiser betreibt, scheint damals nichts<br />
Außergewöhnliches gewesen zu sein. Ben Sira<br />
wird zu den Chassidim oder Asidäern, den Frommen<br />
jener Zeit, gerechnet 3 . Diese Gruppe spaltete<br />
sich im Zuge der Makkabäerkriege auf in die asketischen<br />
Essener, die radikalen Zeloten und die<br />
gemäßigten Pharisäer.<br />
Die Pharisäer entfalteten die Kraft von Synagoge<br />
und Lehrhaus. Getreu der göttlichen Weisung<br />
„Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und<br />
ein heiliges Volk sein“ (2. Mose 19,6) heiligten sie<br />
ihren Alltag mit der höchsten, der priesterlichen<br />
Stufe von Heiligkeit und ritueller Reinheit und<br />
lehrten das jüdische Volk, es ihnen gleichzutun.<br />
Die wenige Tausend Pharisäer bildeten eine<br />
religiös motivierte Genossenschaft, waren eine<br />
werbende Volksbildungsbewegung und stellten<br />
zugleich im Parlament, dem Hohen Rat, die<br />
Opposition gegen die herrschende konservative<br />
Priesterpartei der Sadduzäer.<br />
Die Kraft der pharisäischen Volksbildungsbewegung<br />
machte die Juden in ihrer großen Mehrheit<br />
unempfänglich für die Predigt der Jesusbewegung,<br />
die der pharisäischen überaus nahe stand.<br />
Und sie machte das jüdische Volk geistig widerstands-<br />
und überlebensfähig in den Kriegen gegen<br />
Rom und dem diesen nachfolgenden langen<br />
und großen Exil.<br />
Der große israelische Pädagoge Ernst Simon<br />
schreibt:<br />
„Ich betrachte … das Religionsgesetz,<br />
die sogenannte Halacha oder den jüdischen Lebensweg,<br />
als jenes zentrale Element, das Israel sowohl von allen<br />
anderen Nationen wie von allen anderen Religionen<br />
qualitativ unterscheidet.“ 4<br />
Die Halacha war das Werk der Pharisäer und<br />
ihrer Nachfolger, der Rabbinen. In ihren Gelehrtendiskussionen<br />
im Lehrhaus schufen sie durch<br />
Kommentierung und Aktualisierung der biblischen<br />
Gebote die sogenannte mündliche Tora,<br />
die sie der schriftlichen gleichstellten und beide<br />
zusammen als am Sinai von Gott gegeben ansahen<br />
(Mischna Avot I,1). Ernst Simon sagt, auf<br />
diese Weise sei die Tora zu einem auf die Zukunft<br />
hin offenen System geworden. Sie bestimme das<br />
Leben des einzelnen und der Gemeinschaft in<br />
einer Totalität der von Gott gesetzten Werte und<br />
zugleich in einer antitotalitären Begrenzung<br />
menschlicher Macht.<br />
Die Grundlage für das geistige Überleben des<br />
jüdischen Volkes legte kurz vor der Zerstörung<br />
Judäas, Jerusalems und des Tempels der Schriftgelehrte<br />
Jochanan ben Sakkai. Ihm gelang es,<br />
von den Römern die Erlaubnis zu erwirken, ein<br />
Lehrhaus zu eröffnen. Im Lehrhaus von Jawne<br />
nahe der Küstenstadt Jaffa sammelten und ordneten<br />
er und eine Handvoll weiterer Gelehrter in<br />
öffent lichen Versammlungen die jüdische Überlieferung:<br />
die abschließende Kanonisierung der<br />
Hebräischen Bibel, die Ordnung der mündlichen<br />
Überlieferung in der Mischna, die Ordnung der<br />
Gebete und gottesdienstlichen Liturgie und die<br />
Regeln zur Auslegung der Tora und zur Anpassung<br />
der Gebote an die beständig sich verändernden<br />
Lebensverhältnisse. Seitdem brach diese sogenannte<br />
rabbinische Tradition des Lehrhauses<br />
bis heute nicht ab. „Kein Unwissender kann<br />
fromm sein“, heißt es im Mischnatraktat Avot<br />
(2,5) 5 . Darum genießt das Studium der Tora im<br />
traditionellen Judentum bis heute einen überaus<br />
hohen Stellenwert. Der in der Geschichte von<br />
Hillel erwähnte Pedell, der Türsteher, wurde um<br />
des freien Zugangs zur Lehre willen übrigens<br />
bereits in der Antike abgeschafft.<br />
Durch das Toralernen um seiner selbst willen<br />
wurde das Judentum zur „Lerngesellschaft“ 6 .<br />
Materielle Werte hatten ein geringes Ansehen.<br />
„Ich habe dich nicht zum Geldmachen erzogen“,<br />
schrieb der erboste Vater Israel Hamerschlag aus<br />
dem Prag des frühen 17. Jahrhunderts an seinen<br />
1<br />
Die Talmudzitate in der Übersetzung von Lazarus Goldschmidt,<br />
Der Babylonische Talmud, Königstein/Ts. 1980.<br />
2<br />
Hermann L. Goldschmidt, Die Botschaft des Judentums, Frankfurt<br />
am Main 1960, S. 161.<br />
3<br />
Ebenda, S. 833.<br />
4<br />
Ernst Simon, Entscheidung zum Judentum, Frankfurt am Main<br />
1980, S. 39.<br />
5<br />
Zit. nach: Simon, Entscheidung zum Judentum, S. 62.<br />
6<br />
Kurt Graff, Die jüdische Tradition und das Konzept des autonomen<br />
Lernens, Weinheim 1980, S. 62.<br />
Seite 36 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 37
nicht Tora lernenden, sondern stattdessen Geschäfte<br />
machenden Sohn Chanoch 7 . Bildungsideal<br />
war der Talmid chacham, was nicht „Weiser“<br />
bedeutet, sondern in aller Demut „Schüler eines<br />
Weisen“, ein gelehrter, gottesfürchtiger, gewissenhafter<br />
Mann.<br />
Israel M. Goldman dokumentiert in seinem amerikanischen<br />
Standardwerk über das lebenslange<br />
Lernen im Judentum das tägliche Lernprogramm<br />
eines unbekannten Czernowitzer Juden, dessen<br />
Notizblatt erhalten geblieben ist 8 . Es begann um<br />
Mitternacht mit Psalmen, Gebeten, Texten aus<br />
der Bibel, Mischna, Talmud und ethisch-moralischen<br />
Schriften. Am morgendlichen Tisch las<br />
er in der Bibel und in Midraschim (Bibelauslegungen),<br />
vor und nach Mittag im Talmud und<br />
in Gebotssammlungen. Nach den Abendgebeten<br />
studierte er Kommentare zur Bibel und zu<br />
speziellen rituellen Geboten, die Heirat, Ehescheidung,<br />
Beschneidung und andere Dinge<br />
betrafen. Am Sabbat lernte er Sabbatgebote aus<br />
Talmud und systematischen Kompendien.<br />
Goldman nennt ihn einen „average Jew“ 9 .<br />
Das Studium der Tora wurde zum höchsten Wert,<br />
höher gar als das Tun der Tora, denn, so Rabbi<br />
Akiva, „das Studium führt zum Tun“ (bKidd 40b).<br />
Auch sollte die Zeit des Lernens nicht durch die<br />
Gebetszeit verkürzt werden (bSchabb 10a). Eine<br />
Synagoge durfte in ein Lehrhaus verwandelt werden,<br />
nicht jedoch ein Lehrhaus in eine Synagoge<br />
(bMeg 26b). Im Lehrhaus lernt man nicht auf<br />
eine Qualifikation hin, sondern um seiner Identität<br />
willen und um seiner ethischen Orientierung<br />
willen. Tora soll um ihrer selbst willen gelernt<br />
werden, und zwar ohne Maß (MPea I,1), d. h.<br />
ohne ein zeitliches Minimum oder Maximum<br />
vorzugeben. Die Früchte, sagen die Weisen, genießt<br />
der Mensch bereits in dieser Welt, dennoch<br />
verbleibt ihm das Guthaben für die kommende<br />
Welt. Das höchste Gebot ist für die jüdischen<br />
Weisen das Liebesgebot.<br />
Der Einzelne sollte nach Möglichkeit in Gemeinschaft<br />
mit Anderen lernen. Von den jüdischen<br />
Lehrern, die seit über dreißig Jahren zu<br />
den christlich-jüdischen Toralernwochen 10 nach<br />
Württemberg kommen, erzählte mir Dr. Baruch<br />
Levy aus Jerusalem, er lerne zusammen mit einem<br />
Freund seit fünfundzwanzig Jahren jeden<br />
Morgen eine „Daf Gemore“, eine Seite Talmud.<br />
Es heißt, in etwa dreißig Jahren könne man das<br />
Meer des Talmud einmal durchqueren.<br />
Über das Lehrer-Schüler-Verhältnis im Lehrhaus<br />
heißt es im Talmud: „Rabbi Nachman, Jizchaks<br />
Sohn, sagte: Warum werden die Worte der Weisung<br />
mit Holz verglichen, wie es heißt [Sprüche<br />
3,18]: ‚Ein Holz des Lebens ist sie denen, die sie<br />
ergreifen‘ ? Das besagt dir: Wie ein kleines Stück<br />
Holz ein großes in Brand steckt, so schärfen die<br />
kleinen Gelehrten die großen. Das ist es, was<br />
Rabbi Chanina sagte: Viel habe ich von meinen<br />
Lehrern gelernt, von meinen Kollegen mehr als<br />
von meinen Lehrern, und von meinen Schülern<br />
mehr als von ihnen allen.“ (bTaan 7a)<br />
Die Erneuerung: Franz Rosenzweigs<br />
„Freies Jüdisches Lehrhaus“<br />
in Frankfurt am Main<br />
„Not“ 11 war ein zentrales Deutewort der geistigen<br />
Situation des deutschen Volkes nach dem ersten<br />
Weltkrieg und der deutschen Juden im Besonderen,<br />
denn sie hatten, um sich in die Gesellschaft<br />
einzugliedern, die jüdische Tradition verlassen<br />
und ernteten zum Dank dafür den Antisemitismus.<br />
Das Freie Jüdische Lehrhaus war Franz Rosenzweigs<br />
Antwort auf die Bildungsnot der Juden.<br />
Der Historiker und Philosoph war 1913 kurz<br />
davor gewesen, sich taufen zu lassen. Das Erlebnis<br />
eines Jom-Kippur-Gottesdienstes in einer Berliner<br />
ostjüdischen Betstube brachte ihn zu dem Entschluss<br />
Jude zu bleiben. Also bahnte er sich geistig<br />
und geistlich einen Weg zurück in das ihm weitgehend<br />
unbekannte Judentum. Seine persönliche<br />
Umkehr in jüdisches Denken und Leben wollte er<br />
für Viele nachvollziehbar machen. Seine Pädagogik<br />
folgte der in seinem Hauptwerk „Der Stern<br />
der Erlösung“ 12 vorgezeichneten philosophischen<br />
Denk bewegung. Ansetzend bei seiner elementaren<br />
Kriegserfahrung als Frontsoldat auf dem Balkan<br />
geht er von der das Denken beherrschenden Furcht<br />
vor dem Tod aus und schreitet ins Leben, in die<br />
Praxis als erzieherischer Mensch. Rosenzweig<br />
spricht in Absetzung vom damals die Philosophie<br />
beherrschenden deutschen Idealismus von einem<br />
„neuen Denken“ 13 und einem „neuen Lernen“ 14 .<br />
Für den Menschen, so Rosenzweig, wird die<br />
Todesproblematik überwunden, indem er sich von<br />
Gott ansprechen und in die Beziehung zu ihm<br />
rufen lässt. Gottes zur Überlieferung gewordenes<br />
Wort stellt den einzelnen Juden als Glied der<br />
Traditionskette zugleich in den Gesamtzusammenhang<br />
seines Volkes. Die Offenbarung Gottes<br />
in seinem überlieferten Wort verleiht dem Leben<br />
des Volkes und des Einzelnen eine feste, der<br />
Orientierung dienende Mitte. Aber diese Mitte,<br />
das gemeinschaftliche Zusammenwirken in der<br />
Orientierung an der Tora, so Rosenzweig, ist dem<br />
jüdischen Volk verloren gegangen. Was kann getan<br />
werden, damit dieses jüdische Leben wieder<br />
wird? Von dieser Frage gehen Rosenzweigs pädagogische<br />
Bestrebungen aus 15 . Nach zwei Veröffentlichungen<br />
zur allgemeinen 16 und speziell<br />
jüdischen 17 Schulreform und dem beachtlichen<br />
Echo, das sie noch während des Krieges hervorriefen,<br />
erkannte er jedoch an der mangelhaften<br />
Umsetzung seiner Ideen, dass er nicht bei der<br />
Erziehung der Kinder, sondern bei der Erwachsenenbildung<br />
ansetzen musste.<br />
8<br />
[Goldman, S. XIV, XVIIff.<br />
9<br />
Goldman, S. XVIII.<br />
10<br />
Vgl. Christlich-jüdische Toralernwochen, in: <strong>Begegnungen</strong> Heft 1,<br />
2009, S. 21ff.<br />
11<br />
Vgl. Franz Rosenzweig, „Bildung – und kein Ende (Pred. 12,12).<br />
Wünsche zum jüdischen Bildungsproblem des Augenblicks insbesondere<br />
zur Volkshochschulfrage“, in: Franz Rosenzweig, Der Mensch<br />
und sein Werk. Gesammelte Schriften III: Zweistromland. Kleinere<br />
Schriften zu Glauben und Denken, hrsg. v. Reinhold und Annemarie<br />
Mayer, Dordrecht, Boston, Lancaster 1984, S. 491: „Die Not fordert<br />
die Tat ...“, „Heute drängt die Not, ...“.<br />
12<br />
Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt am Main<br />
3. Aufl. 1990.<br />
13<br />
Franz Rosenzweig, „Das neue Denken“, in: Gesammelte Schriften<br />
III, S. 139-162.<br />
14<br />
Franz Rosenzweig, „Neues Lernen. Entwurf der Rede zur Eröffnung<br />
des Freien Jüdischen Lehrhauses“, in: Gesammelte Schriften<br />
III, S. 505-510.<br />
15<br />
Vgl. Reinhard Veit, Der didaktische Ansatz von Franz Rosenzweig,<br />
Dissertation PH Dortmund 1973.<br />
16<br />
Franz Rosenzweig, „Volksschule und Reichsschule“, in: Gesammelte<br />
Schriften III, S. 371-411.<br />
17<br />
Franz Rosenzweig, „Zeit ist’s ... (Ps. 119,126). Gedanken über das<br />
jüdische Bildungsproblem des Augenblicks“, in: Gesammelte Schriften<br />
III, S. 461-481.<br />
Das Studium der Tora wurde zum<br />
höchsten Wert, höher gar als das Tun<br />
der Tora, denn, so Rabbi Akiva,<br />
„das Studium führt zum Tun“.<br />
Seite 38 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG
Als die jüdische Gemeinde Frankfurt ihn aufforderte,<br />
ihr Bildungsprogramm zu leiten,<br />
entwarf Rosenzweig den Plan eines erneuerten<br />
Beit Midrasch, eines neuen jüdischen Lehrhauses<br />
18 . Er wollte die Menschen zum Hören<br />
anleiten, dazu, dass sich im Nacheinander von<br />
Hören, Denken und Sprechen ein Gespräch mit<br />
dem Gegenüber entwickelt. Sprechraum und<br />
Sprechzeit wollte er zur Verfügung stellen, ohne<br />
die Inhalte im Voraus festzulegen. Menschen und<br />
Inhalte würden sich finden. „Das Jüdische ist<br />
meine Methode, nicht mein Gegenstand“, sagte<br />
er einmal 19 . Das Jüdische sollte jedenfalls nicht<br />
unbedingt durch die Inhalte erkennbar werden,<br />
sondern in der alle Inhalte durchdringenden und<br />
sie zusammenhaltenden zentripetalen Kraft.<br />
„Nichts Jüdisches ist mir fremd“ 20 , nahm sich<br />
Rosenzweig vor und schuf mit dem Lehrhaus<br />
einen seit langem entbehrten Ort des Dialogs der<br />
verschiedenen Richtungen im Judentum.<br />
Die Not des jüdischen Menschen, wie er sie diagnostizierte,<br />
ist die fehlende Mitte, die Unkenntnis<br />
von Gottes Offenbarung in der Tora. Darum<br />
kann der Lernweg nicht traditionell von der Tora<br />
ins Leben führen, sondern muss in umgekehrter<br />
Richtung gehen: vom Leben zur Tora, als Rückweg<br />
ins Judentum, als Einkehr, Heimkehr, Erinnerung<br />
in dem Sinn, dass ER, Gott, wieder zum<br />
Innern, zur Mitte des Lebens werde. Darum berief<br />
Rosenzweig nicht nur Rabbiner zu Lehrern<br />
des Lehrhauses, sondern auch religiös Unwissende,<br />
die den Rückweg ins Judentum gemeinsam<br />
mit ihren Schülern gehen sollten. Er selbst, der<br />
Leiter, sah sich als der erste Schüler des Lehrhauses<br />
an. „Alte Antworten auf neue Fragen“ hieß<br />
eine Arbeitsgemeinschaft, die er im Lehrhaus anbot<br />
21 . Rosenzweig plädierte für eine Erziehung<br />
in zwei Welten, der deutschen und der ihr gegenüber<br />
eigenständigen jüdischen, um dann beide<br />
zur Synthese zu bringen. Rosenzweig leitete<br />
das Freie Jüdische Lehrhaus – nach Gershom<br />
Scholems Urteil – genial und diktatorisch 22 . Sein<br />
ganz persönlicher Verdienst war – nach Ernst<br />
Simon – die unnachahmliche Lehrhausatmosphäre,<br />
Zeichen der „innere[n] Emanzipation des<br />
Jüdischen im Juden“ 23 .<br />
Eine Statistik von Rosenzweigs Lehrhaus sagt<br />
nichts Spektakuläres aus: In knapp sieben regulären<br />
Lehrjahren (1920-1926) wurden 18 Trimester<br />
mit 90 Vortragsreihen und 180 Arbeitsgemeinschaften<br />
durchgeführt 24 . Die Themen<br />
umfassten, ausgehend vom Hebräischunterricht<br />
und dem Studium der Bibel und anderer jüdischer<br />
Quellen alle Bereiche jüdischen Lebens<br />
und Denkens. Rosenzweig nahm einen hohen<br />
Eintrittspreis, denn was nichts kostet, so seine<br />
Erkenntnis, wird so angesehen, als sei es nichts<br />
wert. Im erfolgreichsten Trimester schrieben sich<br />
1.100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein, rund<br />
vier Prozent der Frankfurter jüdischen Gemeindemitglieder.<br />
Rosenzweig bot die bedeutendsten<br />
jüdischen Gelehrten seiner Zeit als Lehrer auf:<br />
Martin Buber, Leo Baeck, Nehemia Nobel,<br />
Benno Jacob, Shmuel Joseph Agnon, Gershom<br />
Scholem, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Ernst<br />
Simon, Siegfried Kracauer, Richard Lichtheim,<br />
Berta Pappenheim, daneben die Christen<br />
Alphons Paquet und Hermann Schafft.<br />
Franz Rosenzweig leitete das von ihm gegründete<br />
Lehrhaus gerade einmal drei Jahre, da zwang ihn<br />
eine Amyotrophe Lateralsklerose zum Rücktritt.<br />
Als er bereits vollständig gelähmt war, begann<br />
Martin Buber mit ihm zusammen die Verdeutschung<br />
der Schrift. Der Holländer Peter Tomson<br />
sagt, die Bibelübersetzung folgte logisch aus dem<br />
Studium der Tora im Lehrhaus, dem „neuen<br />
Denken“ und „neuen Lernen“ entsprach so das<br />
„neue Hören“ auf die Schrift 25 .<br />
Solange das Lehrhaus bestand, machte Rosenzweig<br />
vom Krankenbett aus seinen Einfluss<br />
geltend. Noch vor seinem Tod Ende 1929 wurde<br />
das Lehrhaus geschlossen, und er hielt es für<br />
gescheitert. Doch schon drei Jahre danach folgte<br />
der Umschwung, und da erwies sich das Lehrhaus<br />
als Rosenzweigs wichtigstes Werk. Vielleicht<br />
hatte er etwas von dieser Entwicklung<br />
geahnt, als er einmal schrieb: „... ich werde erst<br />
posthum meinen Mund ganz auftun“ 26 .<br />
„Wir waren unbewusste Seismographen eines<br />
fernen Erdbebens“ 27 , sagt Ernst Simon über die<br />
Menschen im Freien Jüdischen Lehrhaus. Es gibt<br />
ein erstaunliches Zeugnis dieser Sensibilität für<br />
die Wirklichkeit. Es stammt aus der Feder<br />
Richard Kochs, des Hausarztes von Franz Rosenzweig<br />
und sein Nachfolger in der Leitung des<br />
Lehrhauses. Koch schrieb 1923, zehn Jahre vor<br />
dem Beben:<br />
„Das Lehrhaus kennt keine politische Polemik. Hier<br />
geraten nicht Orthodoxe und Liberale, Zionisten und<br />
Staatsbürger jüdischen Glaubens aneinander. Diese<br />
Gegensätze liegen hinter uns. Damit soll es jeder<br />
halten, wie er mag. Wir sehen das mehr historisch.<br />
Der jüdische Liberalismus und die jüdische Orthodoxie,<br />
der Zionismus und sein Gegenteil lassen sich nicht aus<br />
unserer Welt herausschweigen. Sie sind alle Teile des<br />
Lebendigen. Wir zeigen sie, wir erkennen sie an, suchen<br />
sie zu verstehen, aber wir lehren sie nicht. So trennen<br />
wir uns von niemand, der guten Willens ist. Auch nicht<br />
von der nichtjüdischen Welt, den Völkern unter denen<br />
wir nicht nur wohnen, sondern zu denen wir so<br />
gehören wie wir sind, mit dem was wir lieben und<br />
wünschen. Möge unser fernerer Weg mit ihnen nicht<br />
wieder ein Weg des Leidens werden, wie er es auf so<br />
lange Strecken gewesen ist. Wenn unser geschichtliches<br />
Leid aber wieder kommt, dann wollen wir wissen,<br />
warum wir leiden, wir wollen nicht wie Tiere sterben,<br />
sondern wie Menschen, die wissen, was gut und schlecht<br />
ist. Aber wir suchen nicht das Leid, sondern den<br />
Frieden. Dass wir Juden sind, dass wir Fehler und<br />
Tugenden haben, ist uns genug von uns selber und<br />
anderen gesagt worden. Wir haben es zu oft gehört.<br />
Das Lehrhaus soll uns lehren, warum und wozu wir<br />
es sind.“ 28<br />
Die Nachwirkung Franz Rosenzweigs:<br />
Das Jüdische Lehrhaus Stuttgart<br />
1926 gründeten in Stuttgart Otto Hirsch, Leopold<br />
Marx, Karl Adler und andere mit Unterstützung<br />
der „Frankfurter“ Martin Buber und Ernst<br />
Simon das zweite Jüdische Lehrhaus. Getragen<br />
vom Stuttgarter Lehrhausverein, soll es von allen<br />
späteren Gründungen seinem Frankfurter Vorbild<br />
am nächsten gestanden haben. „Der wichtigste<br />
Punkt des Vereinsprogramms war Selbstbesinnung.<br />
Das Judesein sollte von den vielen<br />
Assimilanten neu entdeckt und geliebt werden“ 29 ,<br />
schreibt Maria Zelzer in ihrem Buch über „Weg<br />
und Schicksal der Stuttgarter Juden“. Auch hier<br />
wurde Hebräisch unterrichtet und die Bibel studiert.<br />
Buber und Simon waren regelmäßige Gastreferenten.<br />
Geradezu berühmt ist das Stuttgarter<br />
Jüdische Lehrhaus heute jedoch durch die von<br />
Martin Buber mit christlichen Gesprächspartnern<br />
geführten christlich-jüdischen Lehrhaus dialoge:<br />
Ende 1928 mit dem Schriftsteller Wilhelm<br />
Michel über Religion und Volkstum; wenig<br />
später mit dem Schriftsteller Hermann Hefele<br />
über Religion und Autorität, Form und Freiheit;<br />
bald danach mit dem Volksbildner und späteren<br />
baden-württembergischen Kultusminister Theodor<br />
Bäuerle über Religion und Politik. Außerhalb<br />
des Lehrhausprogramms sprach Buber mit Jakob<br />
Wilhelm Hauer, dem Kanzler des pietistischen<br />
Köngener Bundes, der 1933 die Deutsche Glaubensbewegung<br />
ins Leben rief, über Jesus Christus.<br />
Das am stärksten nachwirkende Lehrhaus-<br />
18<br />
Franz Rosenzweig, Bildung – und kein Ende, in: Gesammelte<br />
Schriften III, S. 491-504.<br />
19<br />
Zit. in: Niek de Wilde, Das Lehrhaus, in: Uwe Bauer, / Andrea<br />
H. Wöhle, Lehren und Lernen in jüdisch-christlicher Tradition.<br />
Erfahrungen aus den Niederlanden, Knesebeck 1995, S. 188.<br />
20<br />
Zit. in: Ernst Simon, „Franz Rosenzweig und das jüdische<br />
Bildungsproblem“, in: ders., Brücken. Gesammelte Aufsätze,<br />
Heidelberg 1965, S. 398.<br />
21<br />
Bühler (=Volkmann), Michael, Erziehung zur Tradition –<br />
Erziehung zum Widerstand. Ernst Simon und die jüdische<br />
Erwachsenenbildung in Deutschland, Berlin 1986, S. 49.<br />
22<br />
Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen,<br />
Frankfurt am Main 1977, S. 178.<br />
23<br />
Ernst Simon, Franz Rosenzweig und das jüdische Bildungsproblem,<br />
S. 401.<br />
24<br />
Michael Volkmann, Eine andere Frankfurter Schul’. Das Freie<br />
Jüdische Lehrhaus 1920-1927, Tübingen 1994, S. 26.<br />
25<br />
Peter Tomson, „Neue Antworten auf alte Fragen. Lehrhäuser<br />
in den Niederlanden“, in: Bauer, Wöhle (Hg.), a. a. O., S. 123.<br />
26<br />
Franz Rosenzweig, Brief (Nr. 395) an Gertrud Oppenheim vom<br />
1. Mai 1917, in: Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher I:<br />
1900-1918, hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-<br />
Scheinmann unter Mitwirkung von Berhard Casper, Haag 1979,<br />
S. 400. Vgl. auch Michael Volkmann, “The German Jewish Adult<br />
Educator Franz Rosenzweig and his ‚posthumeous’ emigration”,<br />
in: Martha Friedenthal-Haase (Hg.), Personality and Biography:<br />
Proceedings of the Sixth International Conference on the History<br />
of Adult Education, Vol. II: Biographies of Adult Educators from<br />
Five Continents, Frankfurt am Main 1998, S. 623-639.<br />
27<br />
Ernst Simon, Selbstdarstellung, in: Ludwig Pongratz (Hg.),<br />
Pädagogik in Selbstdarstellungen I, Hamburg 1975, S. 303.<br />
28<br />
Richard Koch, Das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt am<br />
Main, in: Der Jude 7 (1923), S. 118f.<br />
29<br />
Maria Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein<br />
Gedenkbuch, hg. von der Stadt Stuttgart, Stuttgart o. J. [1964],<br />
S. 114-123 und 147-150, vgl. auch S. 174. Zitat S. 116.<br />
Seite 40 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 41
gespräch fand am 14. Januar 1933 zwischen Buber<br />
und dem Theologen Karl Ludwig Schmidt über<br />
„Kirche, Volk, Staat und Judentum“ statt.<br />
Der Dialog ist im Wortlaut überliefert. Schmidt<br />
vertrat die traditionelle christliche Substitutionsund<br />
Enterbungstheologie und daher auch die<br />
Judenmission. Er behauptete, dass außerhalb der<br />
Kirche kein Heil sei und dass es mit Israel ein für<br />
alle mal vorbei sei. Buber entgegnete ihm im<br />
Wesentlichen zwei Dinge. Er sagte: „Wir [ Juden]<br />
wissen um Israel anders“, nämlich von innen her.<br />
„Wir wissen ..., dass wir, die wir gegen Gott<br />
tausendfach gesündigt haben, die wir tausendfach<br />
von Gott abgefallen sind, die wir diese Jahrtausende<br />
hindurch diese Schickung Gottes über<br />
uns erfahren haben [nämlich die Zerstreuung] ...,<br />
wir wissen, dass wir doch nicht verworfen sind.“ 30<br />
Zehn Mal wiederholte er das eindringlich im<br />
Lauf seines Vortrags: Wir sind nicht verworfen.<br />
„Der Bund ist uns nicht gekündigt“. Gott ist treu.<br />
Und dann sprach Buber davon, was Juden und<br />
Christen verbindet, und das sind nun Sätze, die<br />
wir im heutigen Stuttgarter Lehrhaus, 80 Jahre<br />
danach, als programmatisch für unsere Arbeit<br />
ansehen – Sätze, die sowohl für Religionsgemeinschaften<br />
als auch für Einzelne einen neuen Weg<br />
weisen, sich gegenseitig zu achten.<br />
Zehn Mal wiederholte Buber<br />
das eindringlich im Lauf seines Vortrags:<br />
Wir sind nicht verworfen.<br />
„Der Bund ist uns nicht gekündigt“.<br />
Gott ist treu.<br />
Buber sagte:<br />
„Das Juden und Christen Verbindende ... ist ihr<br />
gemeinsames Wissen um eine Einzigkeit, und von da<br />
aus können wir auch diesem im Tiefsten Trennenden<br />
gegenübertreten; jedes echte Heiligtum kann das<br />
Geheimnis eines anderen echten Heiligtums<br />
anerkennen. Das Geheimnis des anderen ist in ihm<br />
und kann nicht von außen her wahrgenommen<br />
werden. Kein Mensch außerhalb von Israel weiß um<br />
das Geheimnis Israels. Und kein Mensch außerhalb der<br />
Christenheit weiß um das Geheimnis der Christenheit.<br />
Aber nichtwissend können sie einander im Geheimnis<br />
anerkennen. Wie es möglich ist, dass es diese<br />
Geheimnisse nebeneinander gibt, das ist Gottes<br />
Geheimnis. Wie es möglich ist, dass es eine Welt gibt als<br />
Haus, in dem diese Geheimnisse wohnen, ist Gottes<br />
Sache, denn die Welt ist ein Haus Gottes. ... indem wir<br />
unter Anerkennung der Grundverschiedenheit in<br />
rückhaltlosem Vertrauen einander mitteilen, was wir<br />
wissen von der Einheit dieses Hauses, von dem wir<br />
hoffen, dass wir uns einst ohne Scheidewände umgeben<br />
fühlen werden von seiner Einheit, dienen wir getrennt<br />
und doch miteinander, bis wir einst vereint werden in<br />
einem gemeinsamen Dienst, bis wir alle werden, wie es<br />
in dem jüdischen Gebet am Fest des Neuen Jahres heißt:<br />
‚ein einziger Bund, um Seinen Willen zu tun’.“ 31<br />
So die Kernsätze von Bubers Antwort, die als<br />
Grundlage eines Gesprächs zwischen Christen<br />
und Juden hätten dienen können, wenn nicht<br />
sechzehn Tage später die Nationalsozialisten mit<br />
der Regierungsbildung in Deutschland beauftragt<br />
worden wären.<br />
Mit diesen interreligiösen Dialogen griff das<br />
Stuttgarter Jüdische Lehrhaus weit über seine<br />
Zeit hinaus. Kirche und christliche Theologie<br />
waren noch nicht bereit, das Judentum als gleichwertig<br />
anzuerkennen. Das deutsche Volk vertraute<br />
sein Schicksal mörderischen Antisemiten<br />
an. Heute ist Bubers Satz vom ungekündigten<br />
Bund die Grunderkenntnis und Kernaussage einer<br />
Theologie im christlich-jüdischen Gespräch.<br />
Rosenzweigs posthume Emigration<br />
und Rückkehr: Vom Jüdischen<br />
zum Interreligiösen Lehrhaus<br />
Die Lehrhausidee breitete sich in Deutschland<br />
aus. 1928 wurden Lehrhäuser in Köln und Mannheim<br />
eröffnet, 1929 die auf der Lehrhauskonzeption<br />
fußende „Schule der jüdischen Jugend“ 32 in<br />
Berlin. Ab 1933 veränderten sich die Bedingungen<br />
durch die Nazidiktatur grundlegend. Erstmals<br />
seit dem Spätmittelalter schlossen sich die<br />
verschiedenen Richtungen des deutschen Judentums<br />
wieder in einer gemeinsamen politischen<br />
Vertretung zusammen, der Reichsvertretung der<br />
deutschen Juden unter Führung von Leo Baeck,<br />
Otto Hirsch und Kurt Blumenfeld. Buber wurde<br />
mit der Organisation der jüdischen Erwachsenenbildung<br />
beauftragt. Er gründete in Frankfurt<br />
die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung<br />
und eröffnete das Rosenzweigsche Jüdische Lehrhaus<br />
neu, jetzt aber ohne den Namenszusatz<br />
„frei“. Buber holte zu seiner Unterstützung den<br />
bereits nach Jerusalem ausgewanderten Ernst<br />
Simon zurück, der der nun beginnenden Arbeit<br />
1959 in dem Buch „Aufbau im Untergang“ ein<br />
Denkmal gesetzt hat. Buber hat die jüdische<br />
Erwachsenenbildung in Nazideutschland rückblickend<br />
als „geistigen Widerstand“ 33 und die von<br />
ihm geleitete Mittelstelle als „wirksamsten Gegenspieler<br />
Hitlers“ 34 charakterisiert. Unermüdlich<br />
fuhren Buber und Simon durch das Land, um<br />
Lehrer und Lehrhäuser zu unterstützen. Ein von<br />
Buber neu eingeführtes Lehrfach hieß „Gegenwartskunde“<br />
– die Menschen sollten die Zeichen<br />
der Zeit erkennen, solange es ging standhalten<br />
und rechtzeitig durch Emigration bzw. Flucht ihr<br />
Leben retten. Yehoyakim Cokhavi zählt in seinem<br />
1988 in Israel erschienenen Buch „Chimusch<br />
lekijum ruchani“ (Geistiger Widerstand bzw.<br />
geistiger Existenzkampf ) insgesamt 17 jüdische<br />
Volkshochschulen im Deutschen Reich auf, die<br />
sich Jüdisches Lehrhaus nannten und sich dem<br />
geistigen Widerstand gegen Verachtung, Verleumdung<br />
und Demütigung anschlossen. Der<br />
Höhepunkt des Aufbaus wurde 1937 erreicht,<br />
nach den Novemberpogromen 1938 wurden die<br />
jüdischen Gemeinden weitgehend zerschlagen<br />
und mit ihnen die Lehrhäuser. Sechs Jahre lang<br />
hielten die Jüdischen Lehrhäuser das Erbe der<br />
freien deutschen Erwachsenenbildung weiter am<br />
Leben, das im nichtjüdischen Bereich durch die<br />
Gleichschaltung der Volkshochschulen längst<br />
nazifiziert war.<br />
Der Untergang der jüdischen Lehrhausbewegung<br />
war nicht aufzuhalten. Und doch ist es erlaubt,<br />
nach ihrer Wirkung zu fragen. Monika Richarz,<br />
die Hunderte von Biographien deutscher Juden<br />
analysiert hat, kommt zu dem vorsichtigen Urteil,<br />
dass sich diese Arbeit in den Lebensgeschichten<br />
der Menschen kaum niedergeschlagen hat 35 .<br />
Meine Lehrerin in der Erwachsenenbildung,<br />
Prof. Dr. Martha Friedenthal-Haase, sieht die<br />
beispielhafte Wirkung dieser jüdischen Bildungsarbeit<br />
in der „Bewährung des Humanen“ 36 und in<br />
der Verantwortung des im Geiste eines hebräischen,<br />
biblischen Humanismus erzogenen<br />
Menschen in der Stunde seiner größten Krise.<br />
30<br />
Kirche, Staat, Volk, Judentum, Zwiegespräch im Jüdischen Lehrhaus<br />
in Stuttgart am 14. Januar 1933, in: Karl-Josef Kuschel (Hg.),<br />
Martin Buber Werke 9: Schriften zum Christentum, Gütersloh<br />
2011, S. 156.<br />
31<br />
Ebenda, S. 159.<br />
32<br />
Ernst Simon, Aufbau im Untergang. Jüdische Erwachsenenbildung<br />
im nationalsozialistischen Deutschland als geistiger Widerstand,<br />
Tübingen 1959, S. 13f.<br />
33<br />
Simon, Ernst, Aufbau im Untergang, S. IX.<br />
34<br />
Zit. in: Rita van de Sandt, Martin Bubers bildnerische Tätigkeit<br />
zwischen den beiden Weltkriegen, Stuttgart 1977, S. 171.<br />
35<br />
Monika Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland III: 1918-1945.<br />
Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte, Stuttgart 1982, S. 44.<br />
DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 43
1983 hatte ich die Gelegenheit, die Frage nach<br />
der Wirkung dem 84-jährigen Ernst Simon selbst<br />
zu stellen. Er antwortete mir:<br />
„Ich habe diese Frage ja negativ beantwortet in<br />
den letzten Sätzen meines Buches. Vielleicht war<br />
ich da ein bisschen zu pessimistisch, aber doch in der<br />
rich tigen Richtung … Ich sage z. B. über [Robert]<br />
Weltsch: das ‚Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!‘,<br />
das ist zwar unhaltbar, aber es hat sicher viele<br />
Menschen vorm Selbstmord gerettet, und so würde ich<br />
auch sagen: Nicht, dass wir gerade viele gerettet haben,<br />
aber wir haben sie jedenfalls ausgestattet. … Ob das<br />
nun wirklich genügt, um eine Dauerwirkung zu<br />
haben, ist außerordentlich schwer zu sagen.“ 37<br />
Wie ein Echo auf die Worte Ernst Simons klingt<br />
ein Satz von Martin Buber in seinem programmatischen<br />
Aufsatz „Erwachsenenbildung“, 1950<br />
in Israel veröffentlicht: „Ein lebendiges Judentum<br />
kann nur noch so gelehrt werden, dass es denen,<br />
die den Glauben an den Sinn von Welt und<br />
Leben verloren haben, ihn wiedergibt.“ 38<br />
Rosenzweig meinte, wie gesagt, er werde erst<br />
posthum Wirkung entfalten. So war es tatsächlich,<br />
weil er nämlich sozusagen posthum emigrierte.<br />
Die Schüler Rosenzweigs unter den<br />
flüchtenden deutschen Juden nahmen die Lehrhausidee<br />
mit in die Welt.<br />
Deutsche Zionisten nahmen sie mit nach Erez<br />
Jisrael und gründeten in Tel Aviv, Jerusalem und<br />
Haifa batei midrasch amamijim – Volks-Lehrhäuser<br />
sowie ein System reisender Referenten für<br />
die ländlichen Siedlungen 39 . Nach der Staatsgründung<br />
Israels integrierten sich die deutschsprachigen<br />
Juden in die Strukturen des neuen<br />
Staats. In veränderter Form kam das Lehrhauskonzept<br />
noch einmal zum Tragen, als Martin<br />
Buber 1949 die Leitung der israelischen Schule<br />
für Erwachsenenbildner übernahm. Diese Schule<br />
existierte vier Jahre lang und bildete rund 200<br />
Erwachsenenbildner aus, die die Masseneinwanderung<br />
orientalischer Juden integrieren halfen.<br />
Unter ihnen bewahrte Kalman Yaron das Erbe<br />
Bubers als langjähriger Direktor des Martin<br />
Buber Instituts für Erwachsenenbildung an<br />
der Hebräischen Universität Jerusalem 40 . Heute<br />
existiert dort auch ein Franz Rosenzweig<br />
Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur<br />
und Kulturgeschichte. Der junge Abraham<br />
Jehoschua Heschel, Mitarbeiter Bubers in der<br />
Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung,<br />
floh 1939 nach London, wo er für rund 1.500<br />
deutschsprachige Flüchtlinge ein Lehrhaus eröffnete,<br />
bevor er in die USA weiterwanderte 41 .<br />
In New York arbeitete die von emigrierten deutschen<br />
Juden gegründete Gemeinde Habonim,<br />
die Bauleute, im Sinne Rosenzweigs weiter 42 .<br />
Und 1974 eröffnete Fred Rosenbaum ein „Lehrhaus<br />
Judaica“ in Berkeley in Kalifornien 43 .<br />
1951 gründete der junge Philosoph Hermann<br />
Levin Goldschmitt ein Lehrhaus nach Rosenzweigschem<br />
Vorbild in Zürich und leitete es<br />
zehn Jahre lang. In seinen Schriften hat er diese<br />
Arbeit gründlich dokumentiert 44 . Seit 1994 existiert,<br />
getragen von der früher sogenannten „Stiftung<br />
Kirche und Judentum“, wieder ein Züricher<br />
Lehrhaus. Auch in Deutschland gab es Versuche,<br />
an die Rosenzweigsche Lehrhaustradition anzuknüpfen,<br />
etwa 1982 in Frankfurt oder Mitte der<br />
1980er Jahre in Rosenzweigs Heimatstadt<br />
Kassel 45 . Daneben gab und gibt es in den orthodoxen<br />
Einheitsgemeinden das traditionelle Beit<br />
Midrasch und seine Weiterentwicklungen wie<br />
etwa das Lehrhaus der Lauder-Stifung in Berlin.<br />
Ein nach 1990 entstandenes europäisches<br />
jüdisches Frauennetzwerk ist Bet Debora, das<br />
Lehrhaus der Debora. Es möchte die Stellung<br />
jüdischer Frauen in den Gemeinden Europas<br />
stärken und veranstaltet in längeren Abständen<br />
Konferenzen. 46 Auch beim Deutschen Evangelischen<br />
Kirchentag gibt es, getragen von der<br />
Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen, bereits<br />
seit 1971 alle zwei Jahre für drei Tage ein christlich-jüdisches<br />
„Lehrhaus“ 47 . Eine Internetrecherche<br />
im Herbst 2010 nach deutschsprachigen<br />
Auftritten führte auf rund ein Dutzend Homepages<br />
jüdischer Lehrhäuser, in der Regel Einrichtungen<br />
jüdischer Gemeinden für Erwachsenenbildung;<br />
auf fünfzehn bis zwanzig nicht<br />
jüdische, jedoch mit einer Ausnahme am Judentum<br />
interessierte, „Lehrhaus“-Angebote zumeist<br />
christlicher Anbieter, teilweise in Zusammenarbeit<br />
mit Juden, jedoch selten als permanente<br />
Einrichtung, sondern eher als periodisch wiederkehrende,<br />
zeitlich befristete Projekte; und auf<br />
zwei interreligiöse Lehrhäuser, die als Stiftungen<br />
organisiert sind, in Zürich und in Stuttgart.<br />
Besondere Erwähnung verdient die holländische<br />
Lehrhausbewegung. Der niederländische Theologe<br />
Kornelis Heiko Miskotte hatte bereits ab 1930<br />
Franz Rosenzweigs Denken rezipiert und in<br />
Holland bekannt gemacht. Für ihn bedeutete das<br />
weiter existierende Judentum eine „Frage an die<br />
Kirche“ (1934). In seinem Buch „Biblisches<br />
ABC“ forderte er 1941, mitten im Krieg, ein<br />
Lehrhaus 48 . Es gelte, die Bibel, voran die Tora,<br />
neu zu buchstabieren, Tora aber bedeute Lehre,<br />
Lehre des Gottes Israels, dessen Name durch das<br />
Lehrhaus geheiligt werde. So griff Miskotte in<br />
der Not seines von den Nazis besetzten Landes zu<br />
der Antwort, die Franz Rosenzweig zwanzig Jahre<br />
zuvor gegeben hatte. Hinzu kam: Holländische<br />
Judenmissionare trafen in den KZs auf Juden und<br />
erkannten in der Solidarität der Haft, dass sie die<br />
Mission aufgeben und die Juden als Juden respektieren<br />
müssten. So wurde die Niederländische<br />
Reformierte Kirche zum Pionier des christlichjüdischen<br />
Dialogs in Europa. In Holland entstanden<br />
jüdische, jüdisch-christliche und auch<br />
rein christliche Lehrhäuser, eine ganze Lehrhausbewegung,<br />
die seit 1981 auch einen Dachverband<br />
hat, das „Overlegorgaan van Joden en Christenen<br />
in Nederland“ (OJEC). Aus den Niederlanden<br />
kamen viele Impulse über die Grenze ins Rheinland,<br />
wo die rheinische Kirche unter den deutschen<br />
Landeskirchen die hauptsächliche Impulsgeberin<br />
im christlich-jüdischen Dialog ist. Erste<br />
Anstöße gab Wolfram Liebster, der als Pfarrer der<br />
Deutschen Evangelischen Gemeinde Amsterdam<br />
die Gründung des dortigen Lehrhauses 1966<br />
miterlebt hatte 49 . Ein wichtiger Vermittler<br />
zwischen Holland und Deutschland ist heute der<br />
Verein und Verlag Erev-Rav in Uelzen 50 .<br />
Das Stuttgarter Lehrhaus.<br />
Stiftung für interreligiösen Dialog<br />
Und nun also ein „Stuttgarter Lehrhaus –<br />
Stiftung für interreligiösen Dialog“. Ein Wagnis<br />
angesichts dieses großen Erbes. Wir können<br />
unsere äußere Situation nicht mit der Franz<br />
Rosenzweigs 1920 oder Kornelis Heiko<br />
Miskottes 1941 vergleichen. Doch wir meinen,<br />
mit diesem Lehrhaus wenn nicht auf eine<br />
Not, so doch auf eine Notwendigkeit unserer<br />
Zeit zu antworten.<br />
Die Grunderkenntnis des von dem Tübinger<br />
Theologen Hans Küng begründeten Projekts<br />
Weltethos, „Kein Friede zwischen den Nationen<br />
ohne Friede zwischen den Religionen“, ist durch<br />
dieses erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends in<br />
seiner Richtigkeit bestätigt worden. Nie zuvor<br />
im vergangenen halben Jahrhundert sind Religion<br />
und Gewalt so häufig und mit Nachdruck<br />
36<br />
Martha Friedenthal-Haase, Krise und Bewährung. Martin Buber<br />
zu Grundlagen der Bildung im Erwachsenenalter, Oldenburg 1991,<br />
S. 29, 33.<br />
37<br />
Michael Bühler, Erziehung zur Tradition – Erziehung zum<br />
Widerstand, S. 167.<br />
38<br />
Martin Buber, „Erwachsenenbildung“, in: Martin Buber Werkausgabe<br />
8 Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung, hrsg. v. Juliane<br />
Jacobi, Gütersloh 2005, S. 358.<br />
39<br />
Michael Volkmann, Neuorientierung in Palästina. Erwachsenenbildung<br />
deutsprachiger jüdischer Einwanderer 1933-1948, Köln,<br />
Weimar, Wien 1986.<br />
40<br />
Kalman Yaron, Geistige Welten. Aufsätze aus vierzig Jahren, hg.<br />
von Franz Pöggeler, Frankfurt am Main 2006.<br />
41<br />
Abraham J. Heschel, (Nr. 30) an Martin Buber vom 22.11.1939,<br />
in: Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten III: 1938-<br />
1965, Heidelberg 1975, S. 31.<br />
42<br />
Glatzer, Nachum, The Frankfort Lehrhaus, in: Leo Baeck Institute<br />
of Jews from Germany (Hg.), Year Book I, London 1956, S. 122.<br />
43<br />
Fred Rosenbaum, „Lehrhaus Then and Now“, in: Der Philosoph<br />
Franz Rosenzweig (1886-1929). Internationaler Kongress Kassel<br />
1986 Bd. I: Die Herausforderung jüdischen Lernens, hg. von Wolfdietrich<br />
Schmied-Kowarzik, Freiburg, München 1988, S. 353-360.<br />
44<br />
Hermann Levin Goldschmidt, Die Botschaft des Judentums,<br />
Frankfurt am Main 1960, S. 189-220.<br />
45<br />
Brigitte A. A. Kern, „Freies Jüdisches Lehrhaus 1920 – Jüdischer<br />
Lehrhaus 1986“, in: Juden in Kassel 1808-1933. Eine Dokumentation<br />
anlässlich des 100. Geburtstags von Franz Rosenzweig, Kassel<br />
[1986], S. 119-126.<br />
46<br />
Lara Dämmig, Bet Debora – Eine Frauenbewegung als Ausdruck<br />
jüdischer Erneuerung in Europa, http://www.fit-for-gender.org/<br />
downloads/Daemmig_final.pdf.<br />
47<br />
Kammerer, Gabriele, In die Haare, in die Arme. 40 Jahre Arbeitsgemeinschaft<br />
„Juden und Christen“ beim Deutschen Evangelischen<br />
Kirchentag, Gütersloh 2001, S. 129-136.<br />
48<br />
Kornelis Heiko Miskotte, Biblisches ABC, Wittingen 1997,<br />
S 198ff.<br />
49<br />
Wolfram Liebster, Theologie im Lichte des Neuen Denkens,<br />
Ahrweiler 2010.<br />
50<br />
Bauer / Wöhle, Lehren und Lernen in jüdisch-christlicher<br />
Tradition (s.o. Anm. 15 und 24).<br />
Seite 44 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 45
„Es ist schwer,<br />
Islam in der Diaspora zu leben.<br />
Unsere jungen Leute<br />
wissen nicht, wer sie sind.“<br />
Oder: „Wir wissen selbst<br />
oft nicht, was es heißt,<br />
Jude zu sein und wer wir sind.“<br />
in einem Atemzug genannt worden. Jede der<br />
drei großen monotheistischen Religionen hat<br />
sich mit fundamentalistischen Strömungen auseinanderzusetzen,<br />
um nicht mit ihnen gleichgesetzt<br />
zu werden.<br />
Fundamentalismus, so lautet eine These zu seiner<br />
Erklärung, ist eine Reaktion auf Probleme<br />
mit der eigenen Identität und ethischen Orientierung.<br />
„Weißt du, wer ich bin?“ heißt das Motto<br />
einer interreligiösen Aktion der Arbeitsgemeinschaft<br />
Christlicher Kirchen (ACK) in<br />
Deutschland. Die Initiatorin Barbara Rudolph<br />
erzählt, dass sie in Gesprächen mit führenden<br />
Vertretern von Islam und Judentum zu hören<br />
bekam: „Es ist schwer, Islam in der Diaspora zu<br />
leben. Unsere jungen Leute wissen nicht, wer sie<br />
sind.“ Oder: „Wir wissen selbst oft nicht, was<br />
es heißt, Jude zu sein und wer wir sind.“ Und sie<br />
fragt: Geht es uns Christen nicht genauso? 51<br />
Sollen wir das eine religiöse Identitäts-Not<br />
nennen? Wir meinen, das Verständnis für die<br />
eigene religiöse Identität wird geschärft im Dialog<br />
mit anderen, Fremden. Wir brauchen dieses<br />
Gespräch auch, um Fremdheit zu überwinden<br />
und mehr übereinander zu erfahren. Angst voreinander<br />
hat ihren Grund oft in mangelnder<br />
gegenseitiger Kenntnis. Methodisch bedeutet<br />
das: Wir suchen nicht nach einfachen und<br />
raschen Antworten, sondern wir wollen lernen,<br />
Unterschiede auszuhalten, die richtigen Fragen<br />
zu stellen und zuzuhören.<br />
Das Stuttgarter Lehrhaus ist ausdrücklich kein<br />
Jüdisches Lehrhaus, sondern ein interreligiöses.<br />
Aber es ist ohne Juden nicht denkbar, und es ist<br />
ohne Beschäftigung mit der Tora nicht denkbar,<br />
wenn es ein Lehrhaus sein soll. Jüdische Diaspora-Existenz<br />
war und ist immer schon eine<br />
auf Dialog angelegte Existenz. Doch bis vor<br />
wenigen Jahrzehnten hat sich der christliche<br />
Partner dem echten Dialog mit dem Judentum<br />
verweigert. Dies hat sich inzwischen geändert<br />
und damit einher geht der schleichende Verlust<br />
der christlichen Mehrheitsposition. Der jüdische<br />
Vordenker Micha Brumlik sagt über die<br />
heutigen deutschen Juden: “Heute steht die in<br />
sich vielfältige Gemeinschaft vor der Herausforderung,<br />
das Selbst verständnis der pluralistischen<br />
Bundesrepublik unter Rückbesinnung und Neuinterpretation<br />
der vor allem religiösen Quellen<br />
des Judentums mitzugestalten.“ 52 Das trifft auch<br />
für uns Christen zu. Auch wir können diese Gesellschaft<br />
nur weiter mitgestalten, wenn wir uns<br />
auf unsere religiösen Quellen zurückbesinnen,<br />
deren älteste wir mit den Juden gemeinsam<br />
haben, wenn wir, mit Franz Rosenzweig gesprochen,<br />
alte Antworten auf neue Fragen suchen<br />
und finden, indem wir unsere Quellen neu interpretieren.<br />
Die spannendste Neuinterpretation<br />
unserer religiösen Quellen erleben wir derzeit<br />
im christlich-jüdischen Dialog. Und wenn sich<br />
auch Muslime dieser Herausforderung stellen,<br />
indem sie ihre religiösen Quellen nicht nur sich<br />
vergegenwärtigen, sondern ebenfalls neu interpretieren,<br />
darf man auf die Resultate aller dieser<br />
Versuche sehr gespannt sein.<br />
Ein interreligiöses Lehrhaus ist ein relativ neues<br />
Phänomen. Als im November 2009 die jüdische<br />
Gemeinde in Bamberg ihr neues Beit Midrasch<br />
eröffnete, sagte die Präsidentin des Zentralrats<br />
der Juden, Charlotte Knobloch, der Anspruch,<br />
den interreligiösen und interkulturellen Dialog<br />
zu pflegen, sei völlig neu für ein Jüdisches Lehrhaus<br />
53 . Doch soll dort der Dialog auf der Basis<br />
von Begegnung und gemeinsamen Lernen entfaltet<br />
werden. Die Forderung nach verstärktem<br />
interreligiösem Dialog ist eine logische Reaktion<br />
auf die Umbrüche, die mit der Chiffre<br />
„11. September“ bzw. „Nine-Eleven“ bezeichnet<br />
werden. Wir beschäftigen uns im Lehrhaus mit<br />
der Idee eines Weltethos, wie sie von Hans Küng<br />
und seinen Mitarbeitern in Tübingen entwickelt<br />
wird. Wir lassen uns ein auf das Gespräch zunächst<br />
der monotheistischen Religionen, das<br />
manche auch als Trialog oder als abrahamische<br />
Ökumene bezeichnen.<br />
Wichtige Voraussetzung zum Dialog ist der<br />
Respekt voreinander und vor der eigenen Tradition.<br />
Respekt vor dem jeweiligen Selbstverständnis<br />
einer Religion. Um einander zu respektieren,<br />
muss man sich gegenseitig besser kennen lernen.<br />
Es geht dabei um das Entdecken von Verbindendem,<br />
von Gemeinsamkeiten, aber auch von<br />
Unterschieden. Denn auch die Unterschiede<br />
zwischen uns können wir nur respektieren, wenn<br />
wir sie kennen.<br />
Reflexion des interreligiösen Dialogs<br />
im Lehrhaus<br />
Ziel ist es nicht, die Unterschiede zwischen uns<br />
zu nivellieren. Jede der fünf beteiligten Einrichtungen<br />
betreibt ihr Kerngeschäft weiter, während<br />
sie mit den anderen kooperiert. Der christlichjüdische<br />
Dialog verliert neben dem christlichjüdisch-muslimischen<br />
Dialog nicht seine Bedeutung<br />
und Eigenständigkeit. Vielmehr folgen<br />
wir den Berliner Thesen „Zeit zur Neuver<br />
pflichtung“des Internationalen Rates von<br />
Christen und Juden vom Juli 2009, wenn wir<br />
Gespräche, gemeinsames Lernen und Zusammenarbeit<br />
zwischen Christen, Juden und Muslimen<br />
verstärken und vertiefen. Auch im Züricher Lehrhaus<br />
wird das Thema Islam einbezogen. Seit<br />
November 2006 heißt die dortige Stiftung „Stiftung<br />
Zürcher Lehrhaus – Judentum, Christentum,<br />
Islam“. Das Zürcher Lehrhaus, so wird dort argumentiert,<br />
habe sich dem Anliegen des Friedens<br />
zwischen den Religionen verschrieben, daher sei<br />
die Weiterführung des Dialogs mit den verschiedenen<br />
anderen Religionen ohne Alternative.<br />
Das Stuttgarter Lehrhaus praktiziert und fördert<br />
den interreligiösen Dialog zwischen Christen<br />
und Juden, Christen und Muslimen und Juden<br />
und Muslimen nicht nur, sondern es reflektiert<br />
auch das Verhältnis der Dialoge zueinander, z. B.<br />
2011 mit der Vortragsreihe „Abrahamische<br />
Dialoge“.<br />
Der Praktische Theologe Prof. Dr. Bernd Schröder<br />
aus Göttingen betonte in seinem Beitrag zu den<br />
„Abrahamischen Dialogen“die Notwendigkeit<br />
der bilateralen Dialoge nebeneinander und die<br />
Erwartung an das Zusammenwirken aller drei<br />
Religionen, wenn es um bestimmte gesellschaftliche<br />
Wertefragen (Bewahrung der Schöpfung,<br />
51<br />
Mündliche Mitteilung bei einer Tagung der Evangelischen<br />
Akademie im Rheinland „Gottesdienst im Angesicht Israels“,<br />
Bonn-Bad Godesberg, vom 29. bis 30. Januar 2010.<br />
52<br />
Micha Brumlik, „Zur jüdischen Kultur der Bundesrepublik<br />
Deutschland“, in: Untergang und Neubeginn. Jüdische Gemeinden<br />
nach 1945 in Südwestdeutschland, hg. vom Haus der Geschichte<br />
Baden-Württemberg, Heidelberg 2009, S. 97.<br />
53<br />
www.ikg-bamberg.de/einweihung_lehrhaus.html<br />
DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 47
Umgang mit Fremden, Erhalt von kollektiven<br />
Traditionen wie dem wöchentlichen Ruhetag<br />
u. a.) geht. Aus der Sicht der Kirchen bestehe hier<br />
noch mehr Bedarf an Koordinierung beider Dialoge.<br />
Am Beispiel paralleler Themen (Monotheismus,<br />
Stellenwert der göttlichen Weisung, Wahrheitsanspruch<br />
und Gewaltbereitschaft, Umgang<br />
mit der je inneren Vielfalt), Prinzipien (Respekt<br />
und Toleranz, Geschichtsbewusstsein und Zukunftsorientierung,<br />
Authentizität, Identität und<br />
Verständigung, Konvivenz) und Anlässe (Nachbarschaftskontakte,<br />
Feste, Initiativen gegen<br />
Fremdenfeindlichkeit, gemeinsame Schulfeiern,<br />
Kooperation bei Konflikten bzw. Notlagen) beschrieb<br />
er die Nähe der drei Religionen zueinander.<br />
Jede Äußerung im Dialog sei perspektivisch<br />
gebunden, so Schröder, keine Position sei unstrittig<br />
oder alternativlos, darum sei Respekt gegen<br />
andere Positionen bzw. eine eigene „reflektierte<br />
Positionalität“ unabdingbar. Im Folgenden beschrieb<br />
er sechs Modelle bzw. Paradigmen für<br />
eine theologische Begründung des Dialogs:<br />
1. Das Alltagsparadigma hat nicht die theologische<br />
Annäherung, sondern die Schaffung von<br />
Vertrauen z. B. durch interreligiöse Gesprächskreise<br />
zum Ziel.<br />
2. Das israeltheologische Paradigma betont die<br />
Einzigartigkeit des christlichen Verhältnisses<br />
zum Judentum gegenüber den anderen Religionen<br />
und versäumt es, Kategorien für das<br />
Gespräch mit diesen zu entwickeln.<br />
3. Das theologisch reflektierte Abraham-Paradigma,<br />
für das Karl-Josef Kuschels Buch „Streit<br />
um Abraham“ (1994) exemplarisch steht,<br />
fristet ein Nischendasein. Seine Stärken: Es<br />
ermöglicht das theologische Gespräch, geht<br />
von der Selbigkeit des Einen Gottes aus und<br />
erlaubt die Unterscheidung von Judentum,<br />
Christentum und Islam von den anderen<br />
Religionen.<br />
4. Das humanistisch-ethische Paradigma (Hans<br />
Küng: Weltethos) bezieht die bilateralen<br />
Dialoge positiv aufeinander aufgrund ihrer –<br />
gemeinsamen ethischen Sache. Durch vier<br />
unverrückbare Weisungen (Gewaltlosigkeit,<br />
Solidarität, Toleranz, Gleichberechtigung von<br />
Mann und Frau) nimmt es das „Humanum“<br />
und eben nicht die jeweilige Lehre einer<br />
Religion in Anspruch. So erlaubt es allerdings<br />
keine Begründung besonderer Beziehungen<br />
zwischen den drei großen monotheistischen<br />
Religionen.<br />
5. Das Monotheismus-Paradigma zeigt die Verwandtschaft<br />
von Judentum, Christentum und<br />
Islam auf einer religiös abstrakten Ebene und<br />
lässt das Gespräch zwischen ihnen lohnend erscheinen,<br />
grenzt freilich andere Religionen aus.<br />
6. Das religiös-theologische Paradigma bestreitet<br />
den absoluten Wahrheitsanspruch jeder Religion<br />
und gesteht jeder einen Teil der Wahrheit<br />
zu. Es bietet keine Kategorien für eine Anerkennung<br />
der Besonderheit der drei monotheistischen<br />
Religionen Judentum, Christentum<br />
und Islam.<br />
Schröder rät zur differenzierten Dialogizität und<br />
dazu, sich bei den sechs Modellen eklektizistisch<br />
zu bedienen. Eine einzige Positionsbestimmung<br />
zwischen christlich-jüdischem, christlich-islamischem<br />
oder auch jüdisch-islamischem Dialog<br />
gebe es nicht. „Die unterschiedlichen Perspektiven<br />
jüdischer, christlicher und muslimischer<br />
Theo logie auf das Verhältnis untereinander<br />
können und sollen ihrerseits Thema des theologischen<br />
Gesprächs unter ihnen sein oder werden!“<br />
„Wir brauchen so viel trialogische Abstimmung<br />
wie möglich und so viel bilaterale Abstimmung<br />
wie nötig.“ 54 Sinnvoller als ein permanenter Trialog<br />
sei die Vernetzung der Dialoge im Sinne einer<br />
„abrahamischen Gastfreundschaft“, die Gegensätze<br />
und Unterschiede anerkennt, <strong>Begegnungen</strong><br />
unter das Gebot der Freundlichkeit stellt und<br />
Nähe, nicht Fremdheit, zum Vorzeichen von<br />
Begegnung macht.<br />
Mit der Universität Tübingen gibt es in der<br />
unmittelbaren Nachbarschaft des Stuttgarter<br />
Lehrhauses eine der weltbesten Forschungs- und<br />
Bildungseinrichtungen gerade für den interreligiösen<br />
Dialog – mit Prof. Hans Küng und der<br />
Stiftung Weltethos, mit Prof. Karl-Josef Kuschel<br />
und seiner Theologie einer abrahamischen Ökumene,<br />
mit Prof. Christoph Schwöbel und seinen<br />
Gedanken zu einer christlichen Theologie der<br />
Religionen, die davon ausgeht, dass das Christentum<br />
verpflichtet ist, den Dialog mit den anderen<br />
Religionen zu führen, mit dem Institut für Religionswissenschaft<br />
und Judaistik, von wo aus Prof.<br />
Stefan Schreiner das „Europäische Abrahamische<br />
Forum“ koordiniert. Zudem wurde 2012 an der<br />
Universität Tübingen das Zentrum für islamische<br />
„Die unterschiedlichen Perspektiven jüdischer,<br />
christlicher und muslimischer Theologie<br />
auf das Verhältnis untereinander können<br />
und sollen ihrerseits Thema des theologischen Gesprächs<br />
unter ihnen sein oder werden!“<br />
Seite 48 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG
Theologie eröffnet, dessen Direktor Prof. Omar<br />
Hamdan bereits im Stuttgarter Lehrhaus und bei<br />
einer Toralernwoche über Abraham in Bad Boll<br />
aufgetreten ist.<br />
Das Stuttgarter Lehrhaus praktiziert nicht nur<br />
den Dialog, es setzt sich auch permanent mit<br />
der wissenschaftlichen Theorie des interreligiösen<br />
Dialogs auseinander. Die diesbezüglichen Erfahrungen<br />
aus dem christlich-jüdischen Dialog<br />
werden sich im interreligiösen Dialog bewähren.<br />
[…]<br />
„Leben mit großen Texten“ -<br />
der Toralernkreis im Stuttgarter Lehrhaus<br />
Sinnbild jüdischen Lernens ist der Gerechte aus<br />
dem ersten Psalm, der bei Tag und Nacht über der<br />
Tora murmelt, der lernende Mensch. Die Begriffe<br />
Tora („Weisung“) und „Gerechter“ verweisen<br />
darauf, dass es im Lehrhaus um Orientierungslernen<br />
und die Ausbildung eines ethischen<br />
Urteilsvermögens geht. Lehrhäuser üben, in<br />
Martha Friedenthal-Haases Worten ausgedrückt,<br />
das „Leben mit großen Texten“ ein, den Umgang<br />
mit „alt-neue[n] Fragen nach dem Wesentlichen“.<br />
55 Das Lehrhaus bietet erwachsenen<br />
Menschen aller Altersgruppen einen Rahmen,<br />
um Lebenserfahrungen im Gespräch mitein ander<br />
zu reflektieren und anhand überlieferter religiöser<br />
Texte zu interpretieren. Der Horizont der Texte<br />
weist über die Deutung der eigenen Existenz<br />
hinaus auf die Interpretation der Welt. Die hohe<br />
literarische Qualität der Texte in formaler wie inhaltlicher<br />
Hinsicht hebt das Niveau der an diesen<br />
Texten orientierten Gespräche. In solchen Gesprächen<br />
können sowohl die Würde menschlicher<br />
Fehlbarkeit als auch die lebenslange Chance und<br />
das Recht sich zu ändern thematisiert werden.<br />
Jüdische Toraauslegung betont die erzieherische<br />
Absicht der heiligen Schriften. Toralernen zielt<br />
auf reflektiertes und verantwortetes Handeln. Als<br />
Methode leitet das jüdische Toralernen dazu an,<br />
es mit intellektuellen Herausforderungen jeder<br />
Art aufzunehmen.<br />
Franz Rosenzweig riet im Brief an Martin Buber<br />
vom 12.1.1923, Buber solle im Rahmen seines<br />
Lehrauftrags für jüdische Religionswissenschaft<br />
und Ethik an der Frankfurter Universität in seiner<br />
Übung Quellentexte „von den Apokryphen<br />
bis zum Chassidismus“ behandeln: „Die biblischen<br />
Themen versparen Sie sich für den Abend<br />
6 – ½ 9 im Lehrhaus.“ 56 Auch im Stuttgarter<br />
Lehrhaus nimmt die Beschäftigung mit der Bibel<br />
einen zentralen Platz ein.<br />
Im Herbst 2010 nahm dort ein Toralernkreis<br />
seine Arbeit auf. Die Tora, der Pentateuch, ist der<br />
älteste Teil der Bibel, die heiligste Schrift des<br />
Judentums und Grundlage auch des Neuen Testaments.<br />
Im Toralernkreis lernen Christen bzw.<br />
Menschen christlicher Prägung jüdische Quellen<br />
mit Hilfe jüdischer Kommentare als interreligiös<br />
Lernende. Der Kreis trifft sich so regelmäßig wie<br />
möglich wöchentlich an einem Werktag und<br />
behandelt jeweils ein Thema aus dem Wochenabschnitt<br />
(Parascha), der am benachbarten Sabbat in<br />
der Synagoge zur Lesung kommt. Die Lesungen<br />
beginnen mit bereschit (1. Mose 1,1-6,8) und<br />
enden mit wesot habracha (5. Mose 33,1-34,12).<br />
Im ersten Jahr traf sich der Kreis zweiunddreißig<br />
Mal. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lesen<br />
den gesamten Wochenabschnitt zu Hause. Im<br />
Lernkreis wird nach einer überblicksartigen Einführung<br />
ein Stück daraus auf Hebräisch und in<br />
deutscher Übersetzung gelesen. Dann werden<br />
Fragen zum Text gesammelt. Diese werden mit<br />
Hilfe jüdischer Kommentare aus allen Epochen<br />
von der Antike bis zur Gegenwart bedacht und<br />
im Blick auf ihre Aktualität in offener Atmosphäre<br />
diskutiert.<br />
Im ersten Jahr nahmen insgesamt sechzehn Personen,<br />
fünf Männer und elf Frauen, regelmäßig<br />
am Toralernkreis teil. Durchschnittlich erscheinen<br />
zwölf Personen zu jedem Treffen. Ihre Motive<br />
sind so unterschiedlich wie ihre Individualität.<br />
54<br />
Bernd Schröder, Abrahamische Ökumene? Modelle der theologischen<br />
Zuordnung von christlich-jüdischem und christlich-islamischem<br />
Dialog, in: <strong>Zeitschrift</strong> für Theologie und Kirche (ZThK) Bd.<br />
105/2008, S. 485f..<br />
55<br />
Martha Friedenthal-Haase, Wissensgesellschaft und lebenslanges<br />
Lernen, S. 216f.<br />
56<br />
Grete Schaeder, G. (Hg.): Martin Buber Briefwechsel aus sieben<br />
Jahrzehnten Bd. II: 1918-1938, Heidelberg 1973, S. 149.<br />
57<br />
Jürgen van Oorschot, „Das Alter als Spiegel des Lebens – Altern<br />
im Horizont der Bibel“ in: Friedenthal-Haase, M. u. a. (Hrsg.), Alt<br />
werden – alt sein, S. 65-78.<br />
Die einzige Vorbedingung für die Teilnahme ist<br />
das Interesse mitzulernen. Die Motive des Leiters<br />
des Kreises und Autors dieses Beitrags sind in<br />
seinem vitalen Interesse am christlich-jüdischen<br />
Dialog begründet. Christen sollen die im Christentum<br />
vernachlässigte Grundschrift der Bibel als<br />
heilige Schrift des Judentums besser kennen lernen.<br />
Nach jüdischer Weise sollen sie dazu Kommentare<br />
heranziehen und die von den Kirchen<br />
erst seit kurzer Zeit akzeptierte jüdische Auslegungsperspektive<br />
mit einbeziehen. Der Lernrhythmus<br />
richtet sich nach der Stellung, die die<br />
Tora im jüdischen gottesdienstlichen Leben einnimmt.<br />
So lernen Christen darauf zu achten, was<br />
sich parallel zum Kirchenjahr in den Synagogen<br />
ereignet und entdecken die enge Bezogenheit<br />
und Zusammengehörigkeit von Judentum und<br />
Christentum, deren gemeinsame Wurzel im biblischen<br />
Israel liegt. Sie erfassen etwas vom jüdischen<br />
Lernen der Tora – der göttlichen Weisung –<br />
um ihrer selbst willen, für das Ben Bagbag im<br />
abschließenden Satz des Mischnatraktats Avot<br />
(Sprüche der Väter 6,11) folgende Begründung<br />
gibt: „Wende sie hin und wende sie her, denn alles<br />
ist in ihr und in ihr verweile und von ihr weiche<br />
nicht, denn du hast kein besseres Maß als sie.“<br />
Hier eine kurze Charakterisierung der Lerngruppe:<br />
Von den sechzehn Teilnehmerinnen und<br />
Teilnehmern kommen sieben aus Stuttgart, neun<br />
aus Orten im Umkreis von bis zu 40 km. Vier<br />
Männer und drei Frauen sind erwerbstätig, die<br />
anderen im Ruhestand. Die Altersspanne reicht<br />
von Anfang vierzig bis etwa achtzig.<br />
In der Lerngruppe mit Altersunterschieden von<br />
bis zu vier Jahrzehnten kommen praktisch alle<br />
Lebensbereiche zur Sprache, werden Erfahrungen<br />
und Einsichten ausgetauscht und befragt, unterschiedliche<br />
Wertorientierungen mit Respekt<br />
behandelt und widersprüchliche Toraauslegungen<br />
als Chance zum Gespräch genutzt. Im Rahmen<br />
neuerer gerontagogischer Forschungen untersucht<br />
Jürgen van Oorschot das Thema Altern im<br />
Horizont der Bibel und identifiziert Leitbilder,<br />
die durch die Praxis gemeinschaftlichen Toralernens<br />
bestätigt werden. Toralernende begleiten ihr<br />
lebenslanges Altern mit lebenslangem Lernen.<br />
Im Toralernkreis geht es um Orientierungslernen,<br />
um individuelle Sinnsuche unter dem Leitbild<br />
erfüllten Lebens, um die Bedeutung kollektiver<br />
Werte und um soziale Bezogenheit, nicht nur<br />
horizontal in Bezug auf die heute lebenden Mitmenschen,<br />
sondern auch vertikal in Bezug auf die<br />
früheren Generationen und das geistige Erbe,<br />
das sie uns in den großen Texten der Tora und<br />
ihrer Kommentierungen hinterlassen haben. In<br />
der Beschäftigung mit biblischen Texten stellen<br />
sich nach van Oorschot alternden bzw. älteren<br />
Menschen besonders zwei Gestaltungsaufgaben:<br />
„das Miteinander und die Ablösung der Generationen<br />
sowie Lebensbilanz und Schuld“. 57 Das<br />
kritische Potenzial der Tora, die niemanden idealisiert<br />
und ein nicht geschöntes Bild menschlicher<br />
Größe und Grenzen vermittelt, regt an zur Reflexion<br />
eigener Grenzerfahrungen, eigenen<br />
Scheiterns, eigener Neuorientierung – in biblischer<br />
Sprache Umkehr genannt – und eigenen<br />
Versöhntseins mit dem Leben und den Menschen.<br />
Die Tora öffnet den sie Lernenden auch<br />
den Blick dafür, dass Menschen in ihren Unzulänglichkeiten<br />
und in ihrer Fehlbarkeit zugleich<br />
Empfänger und Träger göttlichen Segens sind.<br />
[…]<br />
Schluss<br />
Franz Rosenzweig nannte das Jüdische Lehrhaus<br />
in Frankfurt „frei“. Das bedeutet: es war offen für<br />
alle, die bereit zu konstruktiver Mitarbeit waren,<br />
und es war autonom. Diese beiden Freiheiten hat<br />
auch das Stuttgarter Lehrhaus. Es lädt offen ein,<br />
wünscht sich Neugier von denen, die kommen.<br />
Und es ist dank einer Stiftung unabhängig von<br />
allen Religionsgemeinschaften. Gleichwohl sind<br />
wir – man denke an die eingangs zitierte Auslegung<br />
des Psalmmotivs „von einer Kraft zur<br />
andern“ – an guten Beziehungen zur jüdischen<br />
Gemeinde, zu den Kirchen und zu muslimischen<br />
Verbänden sehr interessiert. Wir hoffen, dass wir<br />
das Interesse an den eigenen religiösen Wurzeln<br />
und am Gespräch mit Menschen anderer Religionen<br />
fördern und einen Beitrag zum friedlichen<br />
Zusammenleben in Stuttgart leisten können.<br />
Dr. Michael Volkmann ist Pfarrer für das Gespräch<br />
zwischen Christen und Juden in der württembergischen<br />
Landeskirche und Vorsitzender der Konferenz<br />
Landeskirchlicher Arbeitskreise Kirche und Judentum (KLAK).<br />
michael.volkmann@elk-wue.de<br />
Seite 50 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG<br />
DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 51
C<br />
Anordnung der vier Innenräume:<br />
A Zentraler Kuppelsaal B Moscheeraum<br />
C Kirchenraum<br />
D Synagogenraum<br />
B<br />
A<br />
D<br />
„Wie soll in drei abgegrenzten Räumen Dialog möglich sein? Im<br />
Dazwischen. Unter einem Dach entsteht zwischen den Religionen<br />
quasi automatisch etwas Viertes, verbindende Räume, Leerstellen,<br />
in denen Austausch stattfinden kann.“ (Wilfried Kuehn)<br />
Wolfgang Raupach-Rudnick<br />
Ein Bet- und Lehrhaus auf dem Petriplatz in Berlin<br />
Misstraut den Grünanlagen, schrieb der Berliner<br />
Stadtspaziergänger und Schriftsteller Heinz<br />
Knobloch. In Berlin verbirgt sich unter ihnen<br />
fast immer Beachtenswertes. Auch am Petriplatz<br />
in Berlin Mitte empfängt uns heute eine eingezäunte<br />
Grünfläche. Noch vor fünf Jahren befand<br />
sich am selben Ort ein trister Parkplatz und<br />
darauf ein einsames Straßenschild: Petriplatz.<br />
Hier wo einmal der Kern des mittelalterlichen<br />
Cölln war, dessen letzten Rest die DDR mit der<br />
Ruine der Petrikirche sprengte, ist heute ein<br />
Nichts – asphaltierte Brache, Grünfläche. Umrandet<br />
von kahlen Plattenbauten, ordinärer Investorenarchitektur,<br />
eingeschnürt von den lauten<br />
Verkehrsschneisen der Breiten Straße und der<br />
Gertraudenstraße. Die drei winzigen aus ihrem<br />
Zusammenhang gerissenen Barockhäuser nahe<br />
der Gertraudenbrücke und das isolierte ehemalige<br />
Kaufhaus Hertzog von 1908 machen die<br />
Szenerie noch trübseliger.<br />
Als ab 2007 der Petriplatz freigelegt wurde und<br />
archäologische Grabungen begannen, wurde<br />
Berlin wieder der großen Bedeutung dieser<br />
Keimzelle der Stadt gewahr. So viel war unter<br />
dem Platz noch vorhanden! Reste einer alten<br />
Lateinschule, Reste des Rathauses, über 3.000<br />
Bestattungen, 220.000 Fundstücke aus der<br />
Geschichte Berlins und Fundamente und Steine<br />
von drei Petrikirchen.<br />
Die Petrikirchengemeinde, der das Grundstück<br />
rückübertragen wurde, begann sich zu fragen:<br />
Was braucht Berlin an diesem Ort – mitten in der<br />
Stadt? An diesem Ort, an dem das Miteinander<br />
von Religion und Stadt vor über 800 Jahren<br />
seinen Ausgang nahm? Welche Bedeutung hat<br />
die stadtgeschichtlich noch freizulegende Tiefenschicht<br />
in ihren Bezügen zur Geschichte von<br />
Judentum und Christentum seit dem 13. Jahrhundert<br />
und zum Islam seit dem 18. Jahrhundert<br />
in Berlin?<br />
Eine Geschichte, zu der auch der Lehrer an<br />
der Lateinschule Heinrich Knaust gehört, der<br />
1542 eine Schmähschrift gegen den Propheten<br />
Mohammed drucken ließ, ein noch immer lehrreiches<br />
Stück einer populistischen Manipulierung<br />
der Öffentlichkeit. Oder soll man daran erinnern,<br />
dass Gotthold Ephraim Lessing, es für unmöglich<br />
hielt, dass sein „Nathan der Weise“ jemals<br />
aufgeführt werden könnte, dass es aber Berlin<br />
war, wo im April 1783 die Uraufführung stattfand?<br />
Kurz: Es entstand der Plan, auf dem Petriplatz<br />
etwas Neues entstehen zu lassen – ein Haus, das<br />
die drei Religionen, Judentum, Islam und Christentum<br />
gemeinsam konzipieren, bauen, verantworten<br />
und betreiben, ohne ihre je eigene Identität<br />
zu verwischen.<br />
Ein Haus, das für die drei Religionen drei getrennte<br />
Sakralräume für das je eigene gottesdienstliche<br />
Handeln und einen gemeinsamen Bereich<br />
für Gespräch und Lehre enthält.<br />
Ein Haus, das dem wachsenden Bedürfnis nach<br />
einem Miteinander von Menschen unterschiedlicher<br />
religiöser oder weltanschaulicher Prägung<br />
Raum gibt. Wobei es nicht um die Verwässerung<br />
oder gar Aufgabe des je Eigenen geht, sondern<br />
darum, den eigenen Glauben im Angesicht der<br />
Anderen zu leben – und sich gemeinsam der säkularen<br />
Mehrheitsgesellschaft dieser Stadt auszusetzen<br />
und den Dialog und Diskurs miteinander<br />
zu suchen.<br />
Ein Haus des Gebetes, ein Haus der interdisziplinären<br />
Lehre über die Religionen, ihre Geschichte<br />
und ihre heutige Rolle in Berlin. Seine Anbindung<br />
an Berlins Vergangenheit soll durch ein<br />
„archäologisches Fenster“ im Boden des Neubaus<br />
gewährleistet werden.<br />
Ein viel beachteter internationaler Architektenwettbewerb<br />
wurde ausgeschrieben und 2012 mit<br />
dem Siegerentwurf des Architektenbüros Kuehn<br />
Malvezzi entschieden. Inzwischen ist auch ein<br />
Trägerverein für das Projekt gegründet worden:<br />
Bet- und Lehrhaus Petriplatz Berlin e. V. Ihm gehören<br />
an: das Abraham-Geiger-Kolleg, die Evangelische<br />
Kirchengemeinde St. Petri – St. Marien,<br />
das Forum für interkulturellen Dialog e. V. und<br />
die Jüdische Gemeinde Berlin.<br />
Nun bleibt nur noch zu hoffen, dass diese großartige<br />
Idee auch Wirklichkeit wird!<br />
Quellen: Infoschrift und Homepage des Vereins und ein Gespräch<br />
mit Roland Stolte von der Petrigemeinde.<br />
Schnitt durch das Gebäude<br />
A Archäologisches Feld. Im Untergeschoss birgt eine acht Meter<br />
hohe Halle die archäologischen Funde der ehemaligen<br />
Petrikirchen.<br />
B Empfangsbereich. Durch die archäologische Halle gelangt der<br />
Besucher in den zweigeschossigen, zylindrischen Empfangsbereich<br />
(mit Café), der von einer spiralförmigen Treppenanlage<br />
umschlossen wird.<br />
C Kuppelsaal und Sakralräume. Der Kuppelsaal fungiert als<br />
übersichtlicher Zentralraum der Begegnung und als Veranstaltungssaal<br />
für Lesungen, Konzerte, Ausstellungen. Er versammelt<br />
die drei separaten Sakralräume, die in regelmäßiger Form um<br />
ihn angeordnet sind und jeweils von ihm erschlossen werden.<br />
D Stadtloggia. Den Abschluss des Solitärbaus bildet der geschützte<br />
Turmraum der Stadtloggia in 32 Metern Höhe. Als letzte Ebene<br />
des Zentralraums ist die Stadtloggia ein weiterer Ort der<br />
Versammlung und der Meditation. Die sich abzeichnende<br />
Belichtungskuppel des Zentralraums verbindet die Loggia mit<br />
dem Kuppelsaal und lässt diesen in den Stadtraum hinein<br />
wirken.<br />
D<br />
C<br />
Seite 52 — BET- UND LEHRHAUS AUF DEM PETRIPLATZ<br />
B<br />
A<br />
A
Nachruf<br />
David Hartman ist gestorben<br />
Rabbiner Prof. David Hartman, einer der großen jüdischen Denker<br />
seiner Generation und Gründer des Shalom Hartman Institutes, ist<br />
am 10. Februar 2012 im Alter von 81 Jahren gestorben. Er gilt als<br />
einer der führenden Köpfe der liberalen Orthodoxie; sein Denken<br />
beeinflusste Zehn tausende von Juden in Israel und der Welt.<br />
Zum Gedächtnis an seinen Vater gründete David Hartman 1976 in<br />
Jerusalem das Shalom Hartman Institute. Seitdem ist das Institute<br />
zu einem Zentrum geworden, das eine pluralistische jüdische Weltsicht<br />
etablierte, den auf die Heraus forderungen antwortet, denen<br />
sich das gegenwärtige Judentum ausgesetzt sieht. Im Verlauf von<br />
vier Jahrzehnten unterrichtete und begleitete Rabbiner Hartman<br />
Gene rationen von Studierenden, die heute eine wichtige Rolle in<br />
jüdischer Erziehung und jüdischem Denken einnehmen. Als Mann<br />
der Tat wusste David Hartman, dass der Weg zu Veränderungen<br />
über ein pluralistisches Studienprogramm und Erziehungsinitiativen<br />
führt, in denen herausfordernde Fragen an die Tradition<br />
nicht nur erlaubt, sondern ermutigt werden. Das Hartman Institute<br />
hat ein pluralistisches jüdisches Gespräch begründet – kritisch und<br />
bedeutsam für das moderne Leben.<br />
Rabbiner Prof. David Hartman<br />
1931-2012<br />
David Hartman wurde 1931 in Brooklyn, N.Y., in eine<br />
ultra-orthodoxe Familie geboren. Er wurde in der Litauischen<br />
Lakewood Jeschiwa erzogen, die als wichtigste und angesehenste<br />
Jeschiwa Nordamerikas galt. Später studierte er bei Rabbiner Joseph<br />
B. Soloveitchik, der ihn auch zum Rabbiner ordinierte. Er schloss<br />
seine Studien mit dem Doktorgrad in Philosophie an der McGill<br />
Universität in Montreal, Kanada, ab. Nachdem er als Gemeinderabbiner<br />
in einer Anzahl von nordamerikanischen Gemeinden<br />
gearbeitet hatte, zog er nach dem Sechs-Tage-Krieg mit seiner<br />
Familie nach Israel. Er war Professor für Jewish Thought an der<br />
Hebräischen Universität in Jerusalem und diente als Berater<br />
mehrerer Ministerpräsidenten in den Fragen des religiösen Pluralismus<br />
in Israel. Sein Denken konzentriere sich auf die Schnittstelle<br />
der Traditionen der Vergangenheit mit den Herausforderungen der<br />
Gegenwart.<br />
In <strong>Begegnungen</strong> sind in den vergangenen Jahren folgende Beiträge von David Hartman<br />
erschienen: Religiöse Vielfalt und das Millenium, Heft 2, 2003, S. 15 – 17 | Gebet und<br />
religiöses Bewusstsein. Eine Untersuchung zum jüdischen Gebet in den Werken von<br />
Joseph B. Soloveitchik, Yeshajahu Leibowitz und Abraham J. Heschel, Heft 2, 2007,<br />
S. 14 – 25 | Israels Bedeutung für die Zukunft des Judentums, Heft 3, 2009, S. 12 – 19.
Rachel Sabath Beit-Halachmi<br />
David Hartman: Gelebte Leidenschaft<br />
David Hartman war ein starker und fordernder,<br />
brillanter, unruhiger und ungeduldiger, inspirierender<br />
und liebevoller Gigant. Es war nichts als<br />
Leidenschaft an ihm, einem der einflussreichsten<br />
Meinungsführer unserer Zeit. Seine Leidenschaft<br />
für die jüdische Tradition, den Staat Israel,<br />
das jüdische Volk, für Christen und Muslime und<br />
jedes menschliche Wesen war zugleich leidenschaftlich<br />
zugewandt als auch unbedingt fordernd.<br />
Ungeduldig nahm er jeden Text und jeden<br />
Menschen mit einer dringlichen Frage, die sofort<br />
beantwortet werden musste, in Anspruch – so<br />
als ob das ganze Judentum und die Zukunft des<br />
jüdischen Volkes und der Menschheit insgesamt<br />
von der Antwort abhinge.<br />
Jedes Jahr, über fast vierzig Jahre, kamen Hunderte<br />
– und inzwischen mehr als Zehntausend –<br />
Akademiker, Rabbiner, Laien, christliche und<br />
muslimische Wissenschaftler, israelische Erzieher,<br />
High School Studenten und Offiziere der<br />
Armee, um zu seinen Füßen im Shalom Hartman<br />
Institute zu sitzen. Durch ihn sind Millionen<br />
Menschen beeinflusst und durch sein Denken<br />
und seine versöhnende Vision eines religiösen<br />
Pluralismus, des Staates Israel und des jüdischen<br />
Volkes herausgefordert worden. Es ist fast<br />
25 Jahre her, als ich zum ersten Mal mit David<br />
Hartman an der Hebräischen Universität in Jerusalem<br />
Talmud studierte. Er nahm einen Talmudband,<br />
hielt ihn an seine Nase und schrie: „Können<br />
Sie das riechen? Können Sie die Ungereimtheiten<br />
und Zwiespältigkeit der Weisen in Bezug auf<br />
Frauen riechen?“ Und dann knallte er den<br />
schweren Talmudband auf den Tisch und las die<br />
gleichen Zeilen erneut, immer wieder. Erschöpft<br />
pflegte er dann einen Studenten zu bitten,<br />
sie noch weitere zehn Mal zu lesen, bis er der Ansicht<br />
war, dass wir anfingen, den Missklang in den<br />
Stimmen der Weisen in ihrem jahrhundertelangen<br />
Argumentieren zu hören, die Logik und<br />
Unlogik ihrer Argumente zu begreifen, und die<br />
Interpretationsaufgabe klar war.<br />
Es brauchte weitere zehn Jahre des Studiums,<br />
der Ordination zur Rabbinerin und zahlreicher<br />
Seminare zu Talmud und Philosophie mit anderen<br />
Wissenschaftlern, bevor ich nach Israel zog<br />
und es wagte, sein Beit Midrasch im Hartman<br />
Institute zu betreten. Die verbindlichen Regeln<br />
verlangten eine vollständige Bereitschaft zu<br />
lernen, sich anzustrengen und aus Liebe zur<br />
Sache zu kritisieren und ernsthaft über jeden<br />
Text und jeden Aspekt menschlichen Lebens<br />
nachzudenken. Er hasste es, wenn wir ihm zustimmten.<br />
Wenn wir ihn nicht herausfordern<br />
konnten, konnte er uns nicht respektieren. Sein<br />
Beit Midrasch pflegte eine Kultur ständiger<br />
Debatte, gegenseitigen Respekts, scharfer Kritik<br />
und großer Leidenschaft. Yeshayahu Leibowitz,<br />
der brillante Gelehrte und Bilderstürmer, und<br />
Krister Stendahl, der radikale Dean der christlichen<br />
Harvard Divinity School, nahmen ebenfalls<br />
teil, nicht nur durch ihre Texte, sondern leibhaftig.<br />
David lehrte und diskutierte mit ihnen<br />
allen in der gleichen ungeduldigen, herausfordernden,<br />
zugewandten Art. In seinem Beit<br />
Midrasch zu sein, bedeutete alles zugleich:<br />
verzehrend, erschreckend und höchst anregend.<br />
Er schrie, lachte und weinte – manchmal gleichzeitig<br />
– in einer Vorlesung oder beim täglichen<br />
Zusammentreffen über die Nachrichten oder ein<br />
neues Buch. Er kam fast täglich in mein Büro, um<br />
über irgendetwas zu diskutieren. Wenn Raketen<br />
auf Israel niedergingen oder Selbstmordattentäter<br />
Busse und Cafés in der Nachbarschaft in die Luft<br />
sprengten, kam er mehr als einmal herein und<br />
schrie mich an: „Warum hassen sie uns so sehr?!“<br />
Oder, in ruhigeren Zeiten, kam er herein, griff<br />
eine theologische Neuerscheinung, die auf<br />
meinem Tisch lag und sagte: „Warum können sie<br />
keine ernsthafte Theologie treiben?“ Aber er<br />
hörte auch genau zu, wenn ich eine herausfordernde<br />
Antwort gab, und dann – aufgebracht<br />
oder beruhigt über meine Antwort – schoss er<br />
eine Salve weiterer Fragen ab – fragte nach meinem<br />
Mann oder den Kindern, deren Namen er<br />
kannte, wie unsere kleine Reformgemeinde lief<br />
und warum ich nicht mehr akademisches Zeug<br />
schrieb und wie ich mich fühlte. Mit David Hartman<br />
zusammen zu sein, mit ihm zu studieren und<br />
für ihn zu arbeiten war die einzigartige Erfahrung,<br />
gleichzeitig beständig herausgefordert zu<br />
sein, gerüffelt zu werden und akzeptiert zu sein.<br />
Nichts konnte inspirierender sein.<br />
Während die meisten von uns seinen Anforderungen<br />
wohl nicht genügt haben, können wir<br />
dennoch die Visionen erfüllen, die er in uns<br />
geweckt hat. Und so wird seine Tora und die<br />
liebevolle Kraft seiner Leidenschaft weiter von<br />
Jerusalem ausgehen.<br />
Seite 56 — NACHRUF NACHRUF — Seite 57
Zu orientieren vermag die neue Studie in der<br />
Diskussion um Land und Staat Israel allemal.<br />
Klaus Müller<br />
Gelobtes Land? – ein „rhetorisches“ Fragezeichen?<br />
In der Tat: „Die hier vorgelegte Orientierungshilfe<br />
greift ein ebenso akutes wie sensibles und<br />
zugleich herausforderndes Thema auf. Viele<br />
Christinnen und Christen sind angesichts der<br />
ungelösten politischen Konflikte – insbesondere<br />
zwischen Israelis und Palästinensern – verunsichert.<br />
Sie fragen ebenso nach politischen<br />
Lösungswegen wie nach einem angemessenen<br />
Verständnis des Staates Israel aus christlicher<br />
Sicht und einer theologisch verantworteten und<br />
zeitgemäßen Deutung biblischer Landverheißungen.“<br />
(Vorwort, 9)<br />
Zu orientieren vermag die neue Studie in der<br />
Diskussion um Land und Staat Israel allemal. Informativ<br />
und pointiert führt sie in neun Schritten<br />
durch das vielfältige Spektrum der Bezugnahmen<br />
auf das „Heilige Land“, das „Gelobte Land“ –<br />
Konfliktfeld zwischen Israelis und Palästinensern.<br />
Die Studie – beauftragt durch die Kirchenbünde<br />
EKD, UEK und VELKD - beeilt sich in einem<br />
ersten Abschnitt ihre vorgängigen Grundpositionen<br />
zu klären: „die bleibende Verbundenheit<br />
der Christen mit Israel als dem erstberufenen<br />
Gottesvolk“, den Respekt für „jüdisches Selbstverständnis,<br />
auch im Bezug auf das Land“ sowie<br />
das Ja zum „Existenzrecht des Staates Israel.“ (16)<br />
Sofort tritt neben diese Klärungen die Betonung<br />
der ökumenischen Verbundenheit mit den<br />
Kirchen vor Ort und das „Bewusstsein für die Not<br />
der palästinensischen Bevölkerung …, deren<br />
Forderung nach einem eigenen Staat sich bisher<br />
nicht erfüllt hat.“ (20/21) Ein zweiter Abschnitt<br />
beschreibt in knappen Zügen die Bezüge der<br />
Bibel beider Testamente auf das Land Israel. Der<br />
dritte vergleichsweise ausführliche Abschnitt<br />
erweist sich unter der Überschrift „Land Israel im<br />
nachbiblischen Judentum“ als Fundgrube nicht<br />
immer leicht zugänglicher Quellentexte für die<br />
vielfältige jüdische Bezugnahme auf das Land<br />
durch die Geschichte hindurch bis in unsere Tage.<br />
Summarisch schließt dieser Abschnitt:<br />
„Heute gibt es nirgends auf der Welt jüdisches Leben,<br />
das nicht in irgendeiner Beziehung zum jüdischen<br />
Staat stünde.“ (49)<br />
Freilich gibt es auch – und dies trägt zur Brisanz<br />
des Themas bei – eine „Kirchengeschichte des<br />
Heiligen Landes‘“, so die Ausführungen im vierten<br />
Abschnitt. Die Kirche Jesu Christi nimmt<br />
ihren Ausgang von Jerusalem im biblischen Lande<br />
Israel, dem Wirkungsort des irdischen und<br />
auferweckten Herrn. Wenngleich das Gelobte<br />
Land unter den Chiffren „Heiliges Land“ oder<br />
„Terra Sancta“ als spiritualisiertes Ziel frommer<br />
Pilgerschaft in den Blick kommt, so wird es doch<br />
auch nicht zuletzt unter den Kreuzfahrern zum<br />
Objekt sehr realer Zugriffe. Nach der jüdischen<br />
und der christlichen Affinität zum Land Israel<br />
widmet sich der fünfte Abschnitt knapp und<br />
doch präzise der Bedeutung des Landes in der<br />
islamischen Welt. Dass der Verweis auf die antisemitischen<br />
„Protokolle der Weisen vom Zion“<br />
nun aber ausgerechnet innerhalb dieses Kapitels<br />
erfolgt (68), kann als vermeidbarer und irreführender<br />
Lapsus vermerkt werden. Dass dieser<br />
Abschnitt indes schließt mit einer Erinnerung an<br />
die Alexandria-Erklärung von 2002, ist wichtig;<br />
denn in der Tat geht es dabei um ein interreli<br />
giöses profiliertes „Beispiel für eine auf gegenseitigem<br />
Respekt beruhende Haltung zum Land<br />
Israel“. (69) Nach einem Blick im sechsten Abschnitt<br />
auf das kirchliche Leben im „Heiligen<br />
Land“ – mit Fug und Recht zu bezeichnen als<br />
„Mikrokosmos der christlichen Welt“ (70) –<br />
widmet sich Abschnitt sieben den konzeptionellen<br />
Entwürfen zum Verständnis von „Land und<br />
Staat Israel“ in neuerer Zeit. Unter dem Stichwort<br />
der „Israeltheologien im 20. Jahrhundert“<br />
(78) mag die Auswahl von Karl Barth bis Bertold<br />
Klappert etwas einlinig ausgefallen erscheinen –<br />
jedenfalls wird der theologische Entwicklungsgang<br />
bis hin zum später intensiver diskutierten<br />
Zeichencharakter des Staates Israel einigermaßen<br />
deutlich. Kurz und prägnant figurieren die Informationen<br />
zur „Haltung des Vatikans“ (81/82), um<br />
sodann dem sogenannten „Christlichen Zionismus“<br />
und seiner sozusagen apokalyptisch-verzweckten<br />
Israelsympathie ein klares Nein entgegenzusetzen.<br />
Dieses Nein hat nicht zuletzt seine<br />
Funktion auch im Gespräch mit der seit den 80er<br />
Jahren sich entwickelnden kontextuellen Theologie<br />
palästinensischer Provenienz, die gerade in<br />
einer Position unkritisch-fundamentalistischer<br />
Israelbegeisterung in der westlichen Frömmigkeit<br />
einen Hauptgegner benannt hat. Palästinensische<br />
Theologen von Naim Ateek bis Mitri Raheb<br />
werden in ihren Entwürfen den Umrissen nach<br />
beschrieben und bezogen auf das in neuester Zeit<br />
wirkungskräftigste Zeugnis palästinensischer<br />
Theologie, das „Kairos-Palästina-Dokument“ von<br />
Seite 58 — GELOBTES LAND? – EIN „RHETORISCHES“ FRAGEZEICHEN? GELOBTES LAND? – EIN „RHETORISCHES“ FRAGEZEICHEN? — Seite 59
Anschriften<br />
2009. In kritischer Replik auf „Kairos“ erinnert die<br />
Studie an die Position der EKD-Studien sowie<br />
der Erklärung der GEKE, eine Universalisierung<br />
der Landverheißung dürfe die Besonderheit der<br />
Erwählung Israels nicht überspringen. Mit diesen<br />
Überlegungen ist die Orientierungshilfe zu einem<br />
ihrer entscheidenden Anliegen vor gedrungen,<br />
nämlich die bekannte und viel diskutierte Formel<br />
des rheinischen Synodalbeschlusses kritischpräzisierend<br />
zu unterstreichen: eben die „Einsicht,<br />
daß die fortdauernde Existenz des jüdischen<br />
Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung<br />
und auch die Errichtung des Staates Israel<br />
Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk<br />
sind“ (89). Diese Formulierung nötigt die Verfasserinnen<br />
und Verfasser zu einem achten Abschnitt<br />
mit dem Thema „Evangelisches Staatsverständnis<br />
und der Staat Israel“. Die naturgemäß nicht spannungsfreie<br />
Bipolarität des Staates Israel als<br />
„jüdisch“ und „demokratisch“ wird benannt und<br />
mit der Verpflichtung auf Freiheit, Gerechtigkeit<br />
und Frieden der entscheidende Kriterienkatalog<br />
für die Legitimität jedweder Staatlichkeit – auch<br />
derjenigen Israels - formuliert (100). Biblischtheologisch<br />
sieht die Studie die Landverheißung<br />
sozusagen im Gefälle der Zusage der Bewahrung<br />
des Gottesvolkes. Unter Wahrung der notwendigen<br />
Distinktionen zwischen Verheißung und<br />
staatspolitischer Realität sagt die Orientierungshilfe<br />
Grundsätzliches: „Die Rückkehr von<br />
Jüdinnen und Juden in das Land Israel und dem<br />
folgend die Gründung des Staates im Jahr 1948<br />
sind damit für Christen kein unmittelbares religiöses<br />
Ereignis. Wohl aber sind sie Grund zur<br />
Mitfreude am Überleben des von Gott erwählten<br />
jüdischen Volkes und Grund zur Dankbarkeit<br />
Gott gegenüber, der sein Volk bewahrt hat und bis<br />
heute bewahrt. Auch die Gründung des Staates<br />
kann als ein Mittel erscheinen, um unter den Bedingungen<br />
der unerlösten Welt und angesichts der<br />
realen Konflikte im Nahen Osten Jüdinnen und<br />
Juden ein Leben in Recht und Frieden zu ermöglichen.<br />
In diesem Sinn kann die Gründung des<br />
Staates Israel als ‚Zeichen der Treue Gottes zu<br />
seinem Volk‘ gedeutet werden“ (107/108).<br />
„Gelobtes Land?“ – Ja, bitte! Der Versuch einer<br />
Orientierung auf schwierigem Terrain kann getrost<br />
verzichten auf das Stilmittel der rhetorischen<br />
Frage. Dieses Land ist „gelobt“, „versprochen“ und<br />
„verheißen“ – auch wenn das Tun derer, die es<br />
bewohnen, längst (noch) nicht das Prädikat<br />
„lobenswert“ verdient.<br />
Prof. Dr. Klaus Müller ist Beauftragter der Ev. Landeskirche in<br />
Baden für das christlich-jüdische Gespräch<br />
Mueller-kl@t-online.de<br />
Impressum<br />
<strong>Begegnungen</strong> / gegr. 1903 als Friede über Israel<br />
<strong>Zeitschrift</strong> für Kirche und Judentum<br />
Erscheint zweimal jährlich 96. Jahrgang, Heft 1<br />
ISSN 1612-4340<br />
Herausgeber Wolfgang Raupach-Rudnick im<br />
Auftrag des Evangelisch-lutherischen Zentralvereins<br />
für Begegnung von Christen und Juden e. V.<br />
Redaktion Wolfgang Raupach-Rudnick (verantw.),<br />
Hans-Jürgen Müller, Dr. Ursula Rudnick<br />
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Telefon 05 11/ 44 12 04<br />
wolfgang.raupach@gmx.de<br />
Vertrieb und Abonnement<br />
Geschäftsstelle des Zentralvereins<br />
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Telefon 05 11/ 12 41-5 87<br />
rudnick@kirchliche-dienste.de<br />
Evangelisch-lutherischer Zentralverein<br />
für Begegnung von Christen und Juden e. V.<br />
Vorsitzende<br />
Pastorin Dr. Ursula Rudnick<br />
Archivstr. 3, 30169 Hannover<br />
Telefon 0511 / 1241- 434<br />
rudnick@kirchliche-dienste.de<br />
Begegnung von Christen und Juden (<strong>BCJ</strong>),<br />
Verein zur Förderung des christlich-jüdischen Gesprächs<br />
in der Ev.-luth. Kirche in Bayern e.V.<br />
Vorsitzender<br />
Pfarrer Dr. Johannes Wachowski<br />
Wernsbach 32, 91629 Weihenzell<br />
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pfarrer@wachowski-online.de<br />
Begegnung – Christen und Juden. Niedersachsen e. V.<br />
Vorsitzende<br />
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Kirchstr. 18, 27324 Eystrup<br />
karin.musiol@gmx.de<br />
Selbständig Ev.-luth. Kirche<br />
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