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Ausgabe Nr. 1 | 2013<br />

<strong>Begegnungen</strong><br />

<strong>Zeitschrift</strong> für Kirche und Judentum<br />

Susanne Talabardon<br />

Eine Zwillingsgeburt –<br />

das frührabbinische Judentum<br />

und das werdende Christentum<br />

Barbara U. Meyer<br />

Was haben Christen heute<br />

mit der Beschneidung zu tun?<br />

Stefan Meißner<br />

Palästinensische Befreiungstheologie<br />

auf Kosten Israels?


Inhalt<br />

LIEBE LESERIN,<br />

LIEBER LESER<br />

Beiträge<br />

2 Eine Zwillingsgeburt –<br />

das frührabbinische Judentum<br />

und das werdende Christentum<br />

Susanne Talabardon<br />

14 Was haben Christen heute<br />

mit der Beschneidung zu tun?<br />

Barbara U. Meyer<br />

22 Palästinensische<br />

Befreiungstheologie<br />

auf Kosten Israels?<br />

Stefan Meißner<br />

34 Die Lehrhausbewegung<br />

Michael Volkmann<br />

52 Ein Bet- und Lehrhaus<br />

auf dem Petriplatz in Berlin<br />

Wolfgang Raupach-Rudnick<br />

54 Nachruf - David Hartman:<br />

Gelebte Leidenschaft<br />

Rachel Sabath Beit-Halachmi<br />

Rezension<br />

58 Gelobtes Land? –<br />

ein „rhetorisches“ Fragezeichen?<br />

Klaus Müller<br />

Vor 150 Jahren: „Saat auf Hoffnung“. Der Titel<br />

klingt fromm, und so war er auch gedacht, gewählt<br />

von Menschen, die überzeugt waren, dass es ihre<br />

Aufgabe war zu säen und dass diese Saat auf gehen<br />

wird. Der Titel ist noch immer treffend für die<br />

Arbeit des Zentralvereins und seiner Mitgliedsvereine.<br />

Heute halten Sie die erste Ausgabe der „<strong>Begegnungen</strong>“<br />

in ihrer neuen Gestalt in den Händen. Ich<br />

hoffe, dass Sie zu den neuen Heften genauso gerne<br />

greifen wie zu den bisherigen. Allen, die bei dieser<br />

Umstellung geholfen haben, vor allem der Agentur<br />

initiativ in Hannover, Herrn Hey und Herrn<br />

Urban, herzlichen Dank für ihr Engagement. Es<br />

galt, ganz prosaisch, bei erheblich reduzierten<br />

Mitteln eine Lösung zu finden, die das Erscheinen<br />

der <strong>Zeitschrift</strong> sicherstellt. Denn ein Zentralverein<br />

ohne diese Publikation ist kaum vorstellbar.<br />

Immerhin blicken wir in diesem Jahr auf 150 bzw.<br />

110 Jahre zurück: im Jahr 1903 erschien „Friede<br />

über Israel“ zum ersten Mal; im Jahr 1863 bereits<br />

die bis 1936 parallel erschienene <strong>Zeitschrift</strong> „Saat<br />

auf Hoffnung“.<br />

Saat auf Hoffnung! Deshalb wird sich bei den<br />

Beiträgen nichts ändern. Wir wollen nach wie vor<br />

ein wahrheitsgemäßes und differenziertes Bild<br />

vom Judentum in die christlichen Gemeinden vermitteln,<br />

und das möglichst durch jüdische Stimmen.<br />

Wir wollen den Prozess des Buchstabierens<br />

einer erneuerten Theologie und kirchlicher Praxis<br />

„in der Gegenwart Israels“ weiterhin begleiten und<br />

die Begegnung beider Gemeinschaften fördern.<br />

Am Anfang stehen zwei Beiträge, die Geschichte<br />

nahebringen und dabei auf die Gegenwart zielen:<br />

eine sehr schöne und gut lesbare Zusammenfassung<br />

der neueren Forschungen zum Auseinandergehen<br />

der Wege von Christentum und Judentum<br />

von Susanne Talabardon und ein Blick in die<br />

jüdische Tradition des Lehrhauses und die Versuche,<br />

heute an diese Tradition im interreligiösen<br />

Gespräch anzuknüpfen.<br />

Es folgen zwei Beiträge, die in aktuellen Streitfragen<br />

Position beziehen: von Barbara U. Meyer zur<br />

Beschneidungsdebatte und von Stefan Meißner<br />

zur palästinensischen Befreiungstheologie.<br />

Allen Autorinnen und Autoren sagen wir<br />

herzlichen Dank!<br />

Aus Hannover grüßt Sie Ihr


Jene Texte – das Neue Testament, die Schriften der Kirchenväter,<br />

die deuterokanonische Literatur 1 , die frühen rabbinischen Werke, Briefe,<br />

philosophische Abhandlungen u.a.m. – können nur ein fragmentarisches<br />

Bild jener aufregenden Jahrhunderte vermitteln, in denen<br />

sich Judentum und Christentum in gegenseitiger Abgrenzung<br />

voneinander entfalteten.<br />

Susanne Talabardon<br />

Eine Zwillingsgeburt – das frührabbinische Judentum und das werdende Christentum<br />

Der folgende Essay versteht sich als ein Versuch,<br />

die Ergebnisse der neueren religions-historischen<br />

Forschung zu den Anfängen von Judentum<br />

und Christentum allgemein- verständlich<br />

zusammenzufassen. Aus diesem Grund wird auf<br />

einen umfänglichen Apparat an Fußnoten, wie<br />

auch auf Zitate in Originalsprachen verzichtet.<br />

Anregungen zum Weiterlesen sowie Angaben<br />

zur Sekundärliteratur, auf die sich die Darstellung<br />

stützt, finden sich gebündelt am Ende<br />

dieser Ausführungen. Bei den angebotenen<br />

Zitaten aus Primärquellen wurde versucht, auf<br />

Übersetzungen zurückzugreifen, die im Internet<br />

verfügbar sind.<br />

Für eine Darstellung der Prozesse, die letztendlich<br />

zu einer Differenzierung zwischen dem<br />

werdenden Judentum und Christentum führten,<br />

kommt es wesentlich darauf an, die sehr unterschiedlichen<br />

Perspektiven in den Blick zu nehmen,<br />

die den damaligen Akteuren und Beobachtern zu<br />

eigen waren. Je nachdem, ob es sich bei den von<br />

den Forscher/innen verwendeten Quellen um<br />

Texte von jüdischen Jesusanhängern, von Juden<br />

ohne Bezug zu Jesus von Nazareth, von nichtjüdischen<br />

Angehörigen oder Sympathisanten der<br />

Jesusbewegung, von Menschen innerhalb oder<br />

außerhalb Judäas oder Galiläas, von Nichtjuden<br />

ohne Bezug zur Jesusbewegung handelte, wandelt<br />

sich die Sicht auf die Dinge erheblich.<br />

Hinzu kommt, dass jene Texte – das Neue Testament,<br />

die Schriften der Kirchenväter, die deuterokanonische<br />

Literatur 1 , die frühen rabbinischen<br />

Werke, Briefe, philosophische Abhandlungen<br />

u.a.m. – ein nur fragmentarisches Bild jener<br />

aufregenden Jahrhunderte vermitteln können, in<br />

denen sich Judentum und Christentum in gegenseitiger<br />

Abgrenzung voneinander entfalteten.<br />

Alles, was die Wissenschaft zu diesem Thema<br />

sagen kann, ist daher hypothetisch und vorläufig.<br />

Traditionelle Modelle der Abgrenzung<br />

Traditionelle jüdische Perspektiven<br />

Den rabbinischen Gelehrten 2 , die sich ab dem<br />

2. Jahrhundert zunächst als marginale Strömung<br />

innerhalb des werdenden Judentums formierten,<br />

präsentierte sich „das“ werdende Christentum<br />

keineswegs als eine einheitliche Gruppierung.<br />

Sie zeigten an den Auffassungen nichtjüdischer<br />

(„heidenchristlicher“) Anhänger Jesu kein Interesse,<br />

wohl aber an den Überzeugungen der jüdischen<br />

(„judenchristlichen“) Parteigänger des<br />

Nazareners.<br />

Was die „Heiden“ glaubten oder dachten, war in<br />

den Augen der Rabbinen vollkommen deren Angelegenheit;<br />

ihre Kulte und Religionen fielen als<br />

„Avoda Sara“ (d. i. Fremd- oder Götzendienst)<br />

nicht in das Ressort rabbinischer Zu ständigkeit.<br />

Nichtjuden waren kein Teil Israels und daher von<br />

der Verpflichtung auf die Tora ausgenommen.<br />

Was allerdings jüdische An hänger Jesu glaubten<br />

oder taten, betraf die Gelehrten unmittelbar. Sie<br />

vertraten die Auffassung, dass es sich bei den<br />

Nazarenern um eine Form von Abweichung<br />

(„Minut“) von dem von Mose vermittelten Weg<br />

der Gebote handelte. Zu den „Minim“ (Anhänger<br />

einer Minut) zählten neben den „Judenchristen“<br />

auch jüdische Gnostiker, welche die Identität von<br />

Schöpfer- und Erlösergott leugneten.<br />

Während die frühen rabbinischen Gelehrten also<br />

den „Heidenchristen“ gegenüber so etwas wie<br />

gleichgültige Duldsamkeit an den Tag legten,<br />

rieten sie dazu, allzu intensiven Kontakt mit den<br />

jüdischen Jesusanhängern zu vermeiden. Diese<br />

sollten keine Gelegenheit erhalten, ihre Lehren<br />

zu verbreiten.<br />

In den Augen der Rabbinen bildete ihre eigene<br />

Interpretation und Aktualisierung der Gebote<br />

der Tora, wie sie zuerst in der Mischna (Ende<br />

des 2. Jh.) zusammengefasst wurde, die einzig<br />

legitime Weiterführung der Traditionen Alt-<br />

Israels.<br />

1<br />

Als deuterokanonische Literatur bezeichnet man diejenigen<br />

Werke, die zeitlich parallel bzw. nach Abschluss des jeweiligen<br />

Kanons der Bibel verfasst worden sind. Ältere Begriffe für dieses<br />

gewaltige Korpus spätantiker Texte sind „Apokryphen“ oder<br />

„Pseudepigraphen“.<br />

2<br />

Als Rabbinen (von hebr. Rabbi, in etwa: „mein Meister“) bezeichnet<br />

man eine Gruppe von jüdischen Gelehrten, die etwa ab dem<br />

2. Jahrhundert versuchten, die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem<br />

zu kompensieren. Auffassungen und Methoden der Rabbinen kann<br />

man aus den Schriften dieser Strömung entnehmen, zu denen die<br />

Mischna, die Midraschim (Anmerkungen zur Bibel) und – allen<br />

voran – der (babylonische) Talmud gehören.<br />

Seite 2 — EINE ZWILLINGSGEBURT EINE ZWILLINGSGEBURT — Seite 3


Die Art und Weise, wie die Rabbinen die werdende<br />

christlichen Kirche wahrnahmen, wandelte<br />

sich indessen Jahrhunderte später, vermutlich<br />

auch unter dem Eindruck der Herrschaft<br />

Konstantins und seiner Nachfolger. Der Babylonische<br />

Talmud (6./7. Jh.) repräsentiert(e) möglicherweise<br />

wesentlich offensivere Formen der<br />

rabbinischen Auseinandersetzung mit „den<br />

Christen“. Deren genauer Umfang ist jedoch im<br />

Detail schwer zu bestimmen, da die literarische<br />

Gestalt der talmudischen Polemik eindeutige<br />

Identifizierungen meist nicht zulässt. Zudem<br />

wurde der Talmud im Mittelalter schweren<br />

Zensurmaßnahmen unterworfen, die sich gerade<br />

gegen dessen vermeintlich antichristliche Äußerungen<br />

richteten.<br />

Ein typisches Beispiel für die Polemik des babylonischen<br />

Talmud gegen frühchristliche Lehren,<br />

in diesem Fall mit indirektem Bezug auf Mt<br />

5,13, liefert bBekhorot 8b. Rabbi Jehoschu‘a ben<br />

Chananja begibt sich in das Athenäum [in Rom],<br />

um vorgeblich von den dortigen Weisen zu<br />

lernen. Es entspinnt sich eine Art Wettkampf, bei<br />

dem die Weisen dem Rabbi Aufgaben und Fangfragen<br />

vorlegen, die Jehoschu‘a jeweils souverän<br />

pariert.<br />

Sie [die nichtjüdischen Weisen] sagten zu ihm [Rabbi<br />

Jehoschu’a]: Erzähle uns eine fiktionale Geschichte!<br />

Sagte er ihnen: Da gab es jenes Maultier, das geboren<br />

hatte. Es hatte einen Zettel um den Hals zu hängen,<br />

auf dem stand geschrieben: Es gibt eine Forderung<br />

gegen das Haus meines Vaters [in Höhe von] hunderttausend<br />

Zuz. Sagten sie ihm: Wie soll denn ein Maul -<br />

tier gebären? Sagte er ihnen: Das ist doch eine fiktionale<br />

Geschichte! [Sie fragten ihn:] Salz, welches schwach<br />

geworden ist – womit soll man es salzen? Sagte er<br />

ihnen: Mit der Nachgeburt eines Maultiers. [Fragten<br />

sie:] Gibt es etwa eine Nachgeburt eines Maultiers?!<br />

– Und Salz, kann es schwach werden?! (bBekhorot 8b)<br />

Natürlich könnte man den kleinen Dialog als<br />

dasjenige nehmen, was er auf der Textoberfläche<br />

ist: Ein Wettstreit um pfiffige Reaktionen auf absurde<br />

Ansinnen. Das Bild vom Salz, das seinen<br />

Geschmack verloren hat und nur noch dazu taugt,<br />

herausgeworfen und zertreten zu werden (Mt<br />

5,13), ist jedoch ziemlich prägnant. Schließlich<br />

wurde es zumeist auf das „alte“ Volk des Bundes,<br />

auf Israel, bezogen, das „schwach geworden“ und<br />

deshalb durch das neue „Salz der Erde“ ersetzt<br />

werden musste. Der Talmud fragt nun (mit<br />

gewisser Berechtigung): Ja, geht denn das? Kann<br />

das Salz (des Alten Bundes) seine Kraft verlieren?<br />

Sicher, lautet die bissige Antwort: Leute, die an<br />

die Gebärfähigkeit eines Maultiers glauben,<br />

könnten auch die Entsalzung von Salz für möglich<br />

halten. Noch sardonischer wirkt die Passage,<br />

wenn man davon ausgeht (wofür einiges spricht) 3 ,<br />

dass das unverhofft fruchtbare Tier als Chiffre für<br />

die Jungfrau steht, die nach menschlichem<br />

Ermessen auch nicht zum Hervorbringen von<br />

Kindern taugt. Menschen, die absurden fiktionalen<br />

Geschichten aufsitzen, ist nicht zu helfen.<br />

Traditionelle Modelle der Abgrenzung<br />

Traditionelle christliche Perspektiven<br />

Für die frühen „christlichen“ Autoren war die<br />

Frage, wer als rechtmäßiger Interpret der (biblischen)<br />

Traditionen Alt-Israels gelten konnte,<br />

ebenso klar wie sie es für die Rabbinen war: Die<br />

werdende Christenheit erklärte sich zur einzig<br />

legitimen Erbin der Hebräischen Bibel. Sie war<br />

das „Neue Israel“; sie war als Partnerin des „Neuen<br />

Bundes“ mit dem Gott Israels verbunden und<br />

verdrängte das jüdische Volk, das „Alte Israel“, aus<br />

seiner einzigartigen Beziehung zum Ewigen.<br />

Das auf dem Horeb gegebene Gesetz ist bereits veraltet<br />

und gehört euch allein, das unsere aber ist für<br />

alle Menschen überhaupt. Ist aber ein Gesetz gegen<br />

ein anderes aufgestellt, so abrogiert es das frühere,<br />

und ein späteres Bündnis hebt in gleicher Weise das<br />

frühere auf. Als ewiges und endgültiges Gesetz ist<br />

uns Christus gegeben, und verlassen können wir uns<br />

auf den Bund, dem kein Gesetz, keine Verordnung,<br />

kein Gebot folgt. […] Das wahre, geistige Israel<br />

nämlich und die Nachkommen Judas, Jakobs, Isaaks<br />

und Abrahams, der trotz seiner Vorhaut, infolge<br />

seines Glaubens, von Gott sein Zeugnis erhielt, von<br />

ihm gesegnet und zum Vater vieler Völker ernannt<br />

wurde, das sind wir, die wir durch diesen gekreuzigten<br />

Christus zu Gott geführt wurden, wie sich<br />

noch im Laufe des weiteren Gespräches zeigen wird. 4<br />

Diese theologische Auffassung bezeichnet man<br />

in der Forschung als „Substitutionstheorie“. Im<br />

Grunde dominierte diese Sicht auf die Dinge<br />

sowohl die christliche Theologie, als auch die theologisch<br />

inspirierte religionshistorische Perspektive<br />

bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts.<br />

Wie in der rabbinischen Sicht gewissermaßen<br />

eine direkte Linie von der Tora Moses bis zu<br />

Mischna und Talmud führt, so sah sich die<br />

werdende Kirche in völliger Kontinuität zu<br />

„Mose“; das als überlebt interpretierte Judentum<br />

re präsentierte demgegenüber eine „Häresie“ –<br />

eine Irrlehre.<br />

Traditionelle Modelle der Abgrenzung<br />

Traditionelle pagane („heidnische“)<br />

Perspektiven<br />

Vielen paganen Außenbeobachtern, wie beispielsweise<br />

dem Philosophen Kelsos (Celsus;<br />

Ende des 2. Jh.), fehlte für diese heftigen Abgrenzungsprozesse<br />

zwischen „Juden“ und „Christen“<br />

jegliches Verständnis. Wenn überhaupt Unterschiede<br />

zwischen beiden wahrgenommen wurden<br />

(was längst nicht immer der Fall war), dann<br />

präsentierte sich das werdende Christentum als<br />

ein merkwürdig verdrehtes Judentum. Meistens<br />

nahm man beide Gemeinschaften als Konglomerat<br />

eines orientalischen Kultes wahr, der entweder<br />

als (synkretistisch) attraktiv oder als gefährlich<br />

bzw. absurd empfunden wurde.<br />

Wir wollen nun bedenken, was er den gläubig<br />

gewordenen Juden zu sagen hat. Er behauptet: „dass sie,<br />

verführt von Jesus, ihr von den Vätern ererbtes Gesetz<br />

verlassen hätten und in ganz lächerlicher Weise betrogen<br />

worden wären und zu einem andern Namen und zu<br />

einem andern Leben übergelaufen seien“ , wobei er nicht<br />

einmal dies bedenkt, dass die zum Glauben an Jesus<br />

bekehrten Juden „ihr von den Vätern ererbtes Gesetz“<br />

gar nicht „verlassen haben“. Denn sie leben nach dessen<br />

Vorschriften und haben auch von der Armut des<br />

Gesetzes, die dann vorhanden ist, wenn man es versteht,<br />

ihren Namen erhalten.[…] Hätte Celsus dies alles<br />

gewußt, so hätte er seinen Juden nicht diese Worte „zu<br />

den Bekehrten aus dem Judentume sprechen lassen; „Was<br />

ist euch widerfahren, ihr Bürger, dass ihr das von den<br />

Vätern ererbte Gesetz verlassen habt und von jenem,<br />

mit dem wir uns eben unter redet haben, verlockt, in<br />

ganz lächerlicher Weise betrogen worden, und von uns<br />

zu einem andern Namen und zu einem andern Leben<br />

übergelaufen seid? 5<br />

Es zeigt sich, dass die zeitgenössischen Autoren<br />

eine jeweils höchst eigene Sicht auf die Entwicklung<br />

der beiden Gruppierungen propagierten, die<br />

sich in der Regel nicht durch Feinfühligkeit und<br />

‚Objektivität‘ auszeichnete. Ein wesentlicher<br />

Unterschied zwischen den Rabbinen und ihren<br />

‚christlichen‘ Gegenspielern bestand darin, dass<br />

Erstere prinzipiell kein Interesse an nichtjüdischen<br />

Anhängern zeigten: Was die Heiden<br />

glaubten und praktizierten, war vollständig deren<br />

Angelegenheit. Nichtjuden wurden nicht missioniert.<br />

Ganz anders verhielt sich das werdende<br />

Christentum. Es entwickelte sich zu einer universal<br />

ausgerichteten Strömung, die alle Menschen<br />

erreichen und bekehren wollte.<br />

Für die spätantike Welt implizierte diese Weichenstellung<br />

nichts weniger als eine Revolution.<br />

Vor der universalen Ausrichtung des werdenden<br />

Christentums gab es im Wesentlichen zwei Arten<br />

von ‚Religionen‘ (besser: Kulten): Zum einen<br />

wurden die Götter im traditionellen Rahmen der<br />

eigenen Ethnie, der eigenen Stadt bzw. der<br />

eigenen Kultur gepflegt. 6 Man wurde also in eine<br />

3<br />

Vgl. Peter Schäfer, Jesus in the Talmud, Princeton, Oxford 2007, S. 23-24.<br />

4<br />

Justin Martyr (ca. 100-165), Dialog mit dem Juden Tryphon, XI, 2.5;<br />

zitiert nach: Bibliothek der Kirchenväter (BKV): http://www.unifr.ch/bkv/<br />

kapitel100-10.htm; letzter Zugriff: 04.10.2012, 17:36 Uhr.<br />

5<br />

Das Zitat bietet einen Auszug aus Origenes‘ Hauptwerk Contra Celsum,<br />

in welchem der alexandrinische Kirchenvater ausführlich (und zumeist<br />

werkgetreu) aus der Polemik des paganen Philosophen Kelsos (spätes<br />

2. Jh.), , „Wahre Lehre“, gegen das Christentum zitiert. Vgl.<br />

Origenes, Contra Celsum II,1.4; zitiert nach: Bibliothek der Kirchenväter,<br />

http://www.unifr.ch/bkv/kapitel139.htm; letzter Zugriff:<br />

04.10.2012, 18:08 Uhr<br />

6<br />

Zusätzlich zur regionalen und ethnischen Loyalität brachte man auch<br />

seine politische Zugehörigkeit beispielsweise zum Imperium Romanum<br />

kultisch zum Ausdruck. Es sind dies die sog. Herrscher- oder Kaiserkulte,<br />

die von den Bewohnern eines Landes in der Regel selbstverständlich geübt<br />

wurden. Nur das jüdische Volk war von dessen üblichen Formen dispensiert,<br />

musste aber im Tempel zu Jerusalem seine Loyalität zum Imperium Romanum<br />

durch eigenständige Opfer und Liturgien erweisen..<br />

Seite 4 — EINE ZWILLINGSGEBURT<br />

EINE ZWILLINGSGEBURT — Seite 5


Um die teilweise<br />

harschen Reaktionen<br />

der Umwelt auf diesen<br />

neu entstehenden ‚Kult‘<br />

zu verstehen, muss man<br />

sich vergegenwärtigen,<br />

dass das werdende<br />

Christentum im Grunde<br />

jede der bewährten<br />

und alten Konventionen<br />

kultischer Sozialisation<br />

in Frage stellte.<br />

‚Religion‘ hineingeboren, die man aufgrund der<br />

familiären Bindung und der politisch-sozialen<br />

Loyalität zu seinem Wohnumfeld selbstverständlich<br />

praktizierte. Zum anderen existierten zahlreiche<br />

überregionale ‚Religionen‘, wie zum Beispiel<br />

die sog. Mysterienkulte (zum Beispiel der<br />

Mithras- oder der Isiskult). Diese konnte man<br />

aus persönlicher Neigung, gewissermaßen privat,<br />

der heimatlichen öffentlichen ‚Religion‘ hinzu<br />

fügen. Im Ergebnis entstanden zahlreiche Synkretismen<br />

– Mischformen und Verschmelzungen<br />

regionaler und überregionaler Kulte oder individuelle<br />

Kombinationen aus privater und öffentlicher<br />

religiöser Praxis.<br />

Im Unterschied zum ‚Judentum‘, das sich als ethnisch<br />

ausgerichtete ‚Religion‘ beinahe nahtlos in<br />

den spätantiken Kontext fügte, brach das werdende<br />

Christentum mit vielen dieser Jahrhunderte<br />

alten Konventionen: Es ließ sich gerade nicht auf<br />

ethnische Begrenzungen ein, es verweigerte<br />

jedweden Synkretismus und nahm für sich die<br />

‚jüdischen‘ Privilegien in Anspruch, nicht am üblichen<br />

Herrscherkult teilzuhaben. Um die teilweise<br />

harschen Reaktionen der Umwelt auf<br />

diesen neu entstehenden ‚Kult‘ zu verstehen, muss<br />

man sich vergegenwärtigen, dass das werdende<br />

Christentum im Grunde jede der bewährten und<br />

alten Konventionen kultischer Sozialisation in<br />

Frage stellte. 7<br />

Exkurs: Paulus<br />

Wie kam es dazu? Wie konnte sich eine kleine<br />

Gruppe jüdischer Jesusanhänger zu einer universal<br />

missionierenden Strömung entwickeln? Eine<br />

erste Weichenstellung, die letztlich in die beschriebene<br />

Revolution mündete, vollzog sich<br />

schon recht früh. Man sieht sie bereits im theologischen<br />

Konzept des Paulus (starb ca. 65), dem<br />

die Christenheit die ältesten Stellungnahmen<br />

zum Wirken Jesu verdankt.<br />

Im Folgenden wird versucht, quasi im Telegrammstil,<br />

eine Sicht auf den ältesten Autor des<br />

Neuen Testament zu entwickeln, die ihn bewusst<br />

im Kontext der beschriebenen ‚kultischen Revolution‘<br />

verortet. 8 In Teilen der neutestamentlichen<br />

Wissenschaft hat sich die Auffassung durchgesetzt,<br />

Paulus als einen jüdischen Denker zu be-<br />

schreiben. Wie sich zeigen wird, kann diese Perspektive<br />

tatsächlich dazu verhelfen, sein Anliegen<br />

und seine Aktivitäten besser zu verstehen.<br />

Paulus, der mit seinem jüdischen Traditionsnamen<br />

Scha’ul (Saul) hieß, wurde in eine griechisch<br />

sprachige Familie in Tarsus hineingeboren. Es hat<br />

den Anschein, als habe er eine sorgfältige jüdische<br />

Ausbildung erfahren. Er kannte die Bibel, verstand<br />

sich auf jüdische Interpretationstechniken<br />

und beherrschte wohl auch die hebräische Sprache.<br />

In einem seiner autobiographischen Zeugnisse<br />

(Gal 1,13-14) bezeichnet er sich selbst als<br />

Traditionalisten und radikalen Eiferer für die<br />

Tora, der die frühe Jesusbewegung als gefährlich<br />

einstufte und verfolgte.<br />

An einem bestimmten Zeitpunkt erfuhr er eine<br />

Vision des auferstandenen Christus (1 Kor 15,8-<br />

9). 9 Dies Ereignis sollte zu seiner ultimativen Lebenswende<br />

werden. Für Paulus, den traditionell<br />

ausgebildeten Juden, konnte die Gewissheit, dass<br />

Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt<br />

worden war, nur eines bedeuten: Die Endzeit war<br />

angebrochen, die Auferstehung aller Toten und<br />

das Jüngste Gericht stand unmittelbar bevor.<br />

Nun galt es zu reagieren. Etliche prophetische<br />

Texte der Bibel setzen voraus, dass „am Ende der<br />

Tage“ auch die Weltvölker ihre Ablehnung des<br />

Gottes Israels aufgeben und zum Zion pilgern<br />

werden:<br />

Am Ende der Tage wird es geschehen:/ Gegründet steht<br />

der Berg mit dem Haus des Ewigen /als höchster der<br />

Berge/ überragt er die Hügel. /Es strömen zu ihm / alle<br />

Völker. / es gehen viele Nationen und sagen: / Auf, lasst<br />

uns zum Berg des Ewigen hinaufziehen, / zum Haus<br />

des Gottes Jakobs. / Er lehre uns Seine Wege, / auf<br />

Seinen Pfaden wollen wir gehen. / Denn von Zion<br />

zieht Weisung [Tora] aus, /und das Wort des Ewigen<br />

aus Jerusalem./ Er richtet unter den Völkern, / weist<br />

viele Nationen zurecht./ Dann schmieden sie ihre<br />

Schwerter zu Pflugscharen / und ihre Lanzen zu<br />

Winzermessern./ Kein Volk erhebt mehr/ gegen Volk<br />

ein Schwert. /Und man lernt nicht mehr den Krieg.<br />

( Jes 2,2-4)<br />

Für Paulus (wie übrigens auch für andere jüdische<br />

Denker zu anderen Zeiten) war klar, dass der Anbruch<br />

der Endzeit einen Paradigmenwechsel im<br />

Verhalten gegenüber den Nichtjuden bedeutete:<br />

Sie mussten jetzt so schnell wie möglich zum<br />

Gott Israels bekehrt werden, damit der Alte Äon<br />

so bald wie möglich an sein Ende kam und das<br />

eschatologische Friedensreich anbrechen konnte.<br />

So erklärt sich die fiebrige Hast, mit der Paulus<br />

von Stadt zu Stadt eilte, um möglichst vielen<br />

Heiden „sein Evangelium“, seine Variante der<br />

Frohen Botschaft zu überbringen, die davon<br />

handelte, dass ein erster Mensch vom Tode<br />

erweckt worden war:<br />

Ich erinnere euch aber, Brüder, der frohen Botschaft<br />

[des Evangeliums], die ich euch gefrohbotschaftet habe,<br />

die ihr auch angenommen habt […]:<br />

Ich habe euch nämlich zuerst überliefert, was auch<br />

ich empfangen habe: dass Christus gestorben ist für<br />

unsere Sünden entsprechend der Schriften und dass<br />

er begraben wurde und dass er am dritten Tage<br />

auferweckt wurde entsprechend der Schriften und<br />

dass er gesehen wurde von Kephas und danach von<br />

den Zwölf. (1Kor 15,1.3-5) Für Paulus war es<br />

ziemlich unwichtig, wie genau Jesus gelebt oder was<br />

er gelehrt hatte. Entscheidend für ihn war die Tatsache,<br />

dass ein Mensch (sündlos) gelebt hatte und tatsächlich<br />

gestorben war (schließlich wurde er ja begraben)<br />

und dass dieser selbe Mensch auferweckt wurde<br />

(schließlich wurde er von Kephas/Petrus und vielen<br />

anderen gesehen, darunter als letztem auch von<br />

Paulus). Damit war die Endzeit zweifelsfrei<br />

angebrochen.<br />

Der übliche Weg, die Nichtjuden zum Gott<br />

Israels zu bekehren, erforderte eine sorgfältige<br />

7<br />

Vgl. Guy Stroumsa, Doppelhelix, und Paula Frederikson,<br />

Christianity.<br />

8<br />

Der Kern der folgenden Ausführungen verdankt sich John Gager,<br />

Reinventing Paul.<br />

9<br />

An anderer Stelle (2 Kor 12,2-4) beschreibt er seine Erfahrung im<br />

Stile einer Himmelsreise, während derer er „in den dritten Himmel<br />

entrückt“ wurde und dort „unaussprechliche Worte“ hörte.<br />

EINE ZWILLINGSGEBURT — Seite 7


Instruktion in den jüdischen Traditionen, sodann<br />

mussten sich die Männer der Beschneidung<br />

unterziehen. Eben dieses Verfahren wurde auch<br />

von (fast) allen anderen Aposteln der frühen<br />

Jesus bewegung propagiert, die wie Paulus der<br />

Meinung waren, die Endzeit sei nun ange brochen,<br />

weswegen man die Heiden nun zum Zion<br />

bringen müsse.<br />

Paulus war völlig anderer Auffassung. Ihm drängte<br />

die Zeit so sehr, dass er sozusagen ein vereinfachtes<br />

Verfahren vorschlug, um den Heiden den<br />

Eintritt in das „alte“ (!) Gottesvolk zu ermöglichen.<br />

Die theologische Konstruktion, die diesen<br />

„Noteingang“ begründen sollte, bezeichnet man<br />

als Rechtfertigungslehre. Paulus zufolge hatten<br />

sowohl Juden (durch die Gebote der Tora),<br />

als auch Heiden (durch die wohlgeordnete<br />

Schöpfung) Kenntnis vom Willen des Ewigen.<br />

Wer diesen aber ignorierte oder ihm nicht<br />

entsprechen konnte, würde sich im Endgericht<br />

die Todesstrafe zuziehen. Jesus hatte nun – trotz<br />

seines sündlosen Lebens – den Kreuzestod<br />

er leiden müssen. Dies konnte man sich nur in der<br />

Weise erklären, dass er diese Strafe gewissermaßen<br />

freiwillig und stellvertretend für alle<br />

anderen auf sich genommen hatte („stellvertretender<br />

Sühnetod“). Paulus meinte nun, dass<br />

sich Nichtjuden auf diese durch Jesus bereits vorweg<br />

genommene Todesstrafe glaubend berufen<br />

könnten. Dies müssten sie durch die Taufe dokumentieren,<br />

wodurch sie durch den Heiligen Geist<br />

zu einer „neuen Kreatur“ würden und deshalb die<br />

Gebote der Tora einhalten könnten. Auf diese<br />

Weise sollten die Heiden auch ohne langwierige<br />

Belehrung und Beschneidung zu Mitgliedern des<br />

Volkes Israel werden.<br />

Für die Juden galt dieses Verfahren übrigens<br />

nicht. Sie waren ja bereits Teil des Gottesvolkes<br />

und glaubten schon an den Ewigen Israels und<br />

waren außerdem durch die Beschneidung auf die<br />

Einhaltung der Gebote der Tora verpflichtet.<br />

Allerdings wurde Paulus nicht müde zu betonen,<br />

dass der Zugang zu Israel durch die Taufe keineswegs<br />

eine Mitgliedschaft „zweiter Klasse“ implizierte.<br />

Niemand, weder Jude noch Heide, hätte<br />

qua Abstammung, wegen seiner Beschneidung<br />

oder aufgrund seiner Unbeschnittenheit irgendeinen<br />

Vorzug vor dem anderen.<br />

Der Universalismus der werdenden Christenheit<br />

verdankte sich also der Überzeugung, dass durch<br />

die Auferweckung Jesu die Endzeit angebrochen<br />

war und dass nun ein/e jede/r zum Einen Gott<br />

(Israels) bekehrt werden müsse. Der von Paulus<br />

sehr erfolgreich propagierte Sonderweg für die<br />

Heiden, dessen komplizierte theologische Begründung<br />

übrigens schon in der Generation nach<br />

ihm nicht mehr wirklich verstanden wurde, führte<br />

zu großen missionarischen Erfolgen des werdenden<br />

Christentums gerade unter Nichtjuden.<br />

In manchen („heidenchristlich“ dominierten)<br />

Gemeinden hatte der Verzicht auf die Unterweisung<br />

und die Beschneidung allerdings auf<br />

lange Sicht den Nebeneffekt, dass sie sich von der<br />

jüdischen Tradition zunehmend entfremdeten<br />

bzw. diese gar nicht erst kennenlernten.<br />

Wissenschaftliche Perspektiven<br />

Wendet man sich den wissenschaftlichen Modellen<br />

zu, die zur Beschreibung der Entwicklung des<br />

frühen Judentums bzw. des werdenden Christentums<br />

entwickelt wurden, so macht man zunächst<br />

die bestürzende Beobachtung, dass diese Konzepte<br />

hochgradig von den jeweils herrschenden<br />

theologischen Vorgaben abhängig sind. Mit der<br />

„Objektivität“ der Wissenschaft ist es eben nicht<br />

so weit her – was keineswegs nur für die Theologie<br />

gilt. Eigentlich wäre ja denn auch das Gegenteil<br />

erstaunlich: Wenn es nämlich den Forscher/<br />

innen gelänge, sich in ihrem Urteil von den<br />

Paradigmata ihrer jeweiligen gesellschaftlichen<br />

Kontexte gänzlich unabhängig zu halten.<br />

Frühjudentum als „Spätjudentum“‒<br />

verkappte Substitutionslehre<br />

Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts<br />

(und bei manchen christlichen Gelehrten noch<br />

darüber hinaus) importierte eine Mehrheit der<br />

Wissenschaftler/innen die Substitutionslehre in<br />

ihre Darstellungen der Vorgänge im ersten und<br />

zweiten Jahrhundert. Als besonders entlarvend<br />

erscheint in diesem Zusammenhang der Begriff<br />

„Spätjudentum“, der tatsächlich für das werdende<br />

Judentum der ersten Jahrhunderte (!) zum Einsatz<br />

kommt.<br />

Diesem Terminus liegt die Überzeugung zugrunde,<br />

dass sich die Entwicklung der ‚Religion‘<br />

Alt-Israels in mehreren Etappen gewissermaßen<br />

konsequent auf Jesus von Nazareth hin vollzog.<br />

Auf die „Religion des Moses“, repräsentiert durch<br />

die Tora, folgte nämlich (jenem Modell gemäß) die<br />

„Religion der Propheten“. Diese stellte gegenüber<br />

‚mosaischen‘ Entwicklungsstufe, die eher archaischen<br />

Vergeltungsmechanismen verpflichtet war,<br />

einen wesentlichen Fortschritt dar. Den Neuansätzen<br />

der „zwischentestamentarischen Zeit“, in<br />

der apokalyptische Konzepte und mit ihnen die<br />

Vorstellung von Auferstehung und eines Lebens<br />

nach dem Tode entstanden, folgte die Zeit Jesu<br />

und, parallel dazu, eben das „Spät judentum“.<br />

Der Begriff impliziert, es mit einem absterbenden<br />

Phänomen zu tun zu bekommen, das sich – eben<br />

wegen des zeitgleichen Auftretens Jesu – eigentlich<br />

schon von selbst erledigt hatte. Erstaunlich<br />

nur, dass diejenigen Autor/innen, die jenen Begriff<br />

im 20. Jahrhundert immer noch verwendeten,<br />

es inzwischen mit fast zwei Jahrtausenden<br />

„Spätjudentum“ zu tun gehabt hatten.<br />

„Parting of The Ways“ ‒<br />

das Modell der „getrennten Wege“<br />

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde das beschriebene<br />

Stufenmodell von der Überzeugung<br />

abgelöst, Judentum und Christentum wären zu<br />

einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung<br />

einfach „getrennte Wege“ gegangen („parting of<br />

the Ways“). Dabei wurde grundsätzlich vorausgesetzt,<br />

das ‚Christentum‘ hätte sich vom bereits<br />

bestehenden ‚Judentum‘ abgegrenzt. Das gegenseitige<br />

Verhältnis könnte man demzufolge als<br />

Mutter-und Tochter-Religionen beschreiben. 10<br />

Recht unterschiedlich wurden allerdings die Einsatzpunkte<br />

jener Trennung datiert. Manche sahen<br />

bereits in Jesus von Nazareth den „Begründer des<br />

Christentums“, da er es mit der Einhaltung mancher<br />

Gebote nicht so genau genommen und überdies<br />

eine den Heiden gegenüber aufgeschlossene<br />

Haltung an den Tag gelegt hätte. Andere erkoren<br />

Paulus zum „Religionsstifter“: Jesus habe als Jude<br />

gelebt und sei als Jude gestorben; bei seinem Tod<br />

wäre von einer Hinwendung zu Nichtjuden gar<br />

nichts zu sehen gewesen. Der Apostel aus Tarsus<br />

hätte indessen mit seiner Heidenmission ohne<br />

Beschneidung einen tiefen Keil zwischen die Anhänger<br />

Jesu und das jüdische Volk getrieben.<br />

Demgegenüber datieren wieder andere das<br />

Trennungsdatum noch später. Die Zerstörung<br />

Jerusalems und des Tempels im Gefolge des<br />

Großen Jüdischen Aufstandes (66-70) sei für die<br />

Trennung der Wege verantwortlich zu machen.<br />

Für beide Gemeinschaften wäre eine tief greifende<br />

Neuorientierung erforderlich gewesen, die<br />

letztlich gravierende Unterschiede zwischen<br />

beiden generiert hätte. Vielleicht aber muss das‚<br />

parting of the ways‘ noch später angesetzt werden<br />

– etwa in die Zeit des Bar-Kochba-Aufstandes<br />

(132-135). Immerhin berichtet Justin Martyr<br />

(ca. 100-165) in seiner Apologie (I,31), die Juden<br />

hätten die Christen verfolgt, weil sie an besagtem<br />

Aufstand nicht teilnehmen wollten. Eine Aufforderung<br />

zum Mitkämpfen wäre aber nur dann<br />

sinnvoll gewesen, wenn es noch nicht zu einer<br />

Trennung zwischen beiden gekommen wäre…<br />

„Wave-Theory“ – oder:<br />

Alles ist ein wenig komplexer<br />

Die Probleme einer solchen „Trennung der Wege“<br />

treten bei genauerem Hinsehen schnell zutage:<br />

Komplexe und diffuse Gebilde wie (religiöse)<br />

Strömungen, die sich aus vielen einzelnen Gruppen<br />

in unterschiedlichen Regionen zusammensetzen,<br />

sind keine Straßen, die sich mal eben<br />

gabeln können. Jede Art von ‚parting of the ways‘<br />

setzt jedoch voraus, dass es sich bei ‚Judentum‘<br />

und ‚Christentum‘ jeweils um homogene Größen<br />

handelt.<br />

Weiterhin erweist es sich als problematisch, dass<br />

die Wissenschaft ihren Denkmodellen allzu oft<br />

einen modernen Begriff von Religion (etwa im<br />

Sinne von „Konfession“) zugrunde legt. Dieser<br />

lässt sich jedoch auf die spätantiken Verhältnisse<br />

nicht übertragen. Die ‚Kulte‘ der ersten Jahrhunderte<br />

erfüllten eine ganze Reihe von öffentlichen<br />

10<br />

Vgl. Adam H. Becker, Annette Yoshiko Reed (Hg.), The Ways that<br />

Never Parted: Jews and Christians in Late Antiquity and the Early<br />

Middle Ages, Fortress Press 2007.<br />

Seite 8 — EINE ZWILLINGSGEBURT<br />

EINE ZWILLINGSGEBURT — Seite 9


Funktionen, die den ‚Religionen‘ Europas nach<br />

den Konfessionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts<br />

mit guten Gründen entzogen wurden.<br />

Sie waren keineswegs von theoretischen Lehrgebäuden<br />

(Theologien) geprägte Vereinigungen,<br />

die sich um die spirituellen Anliegen ihrer Mitglieder<br />

zu sorgen hatten.<br />

So ist es durchaus nicht plausibel, die Lehrmeinung<br />

eines bestimmten Gelehrten, zum Beispiel<br />

des nordafrikanischen Theologen Tertullian (um<br />

150-220), für besonders repräsentativ zu halten.<br />

Niemand vermag genau zu sagen, ob und, wenn ja,<br />

wie sehr die überlieferten Schriften der spätantiken<br />

Autoren die Bevölkerung erreichten. Immerhin<br />

konnten die weitaus meisten Menschen<br />

nicht lesen und schreiben; Handschriften waren<br />

zumeist teuer und daher in ihrer Reichweite begrenzt.<br />

Mit Sicherheit haben Predigten, öffentliche<br />

Reden und Debatten sowie mündlich<br />

tradierte Erzählungen einen weitaus größeren<br />

Eindruck hinterlassen – leider sind diese wiederum<br />

selten im Nachhinein aufgeschrieben worden.<br />

Wer also versucht, die Anfänge von Judentum<br />

und Christentum auf der Basis der tradierten<br />

Texte zu rekonstruieren, muss vorsichtig sein: Es<br />

ist gut möglich, dass manche Äußerungen, die<br />

aufgrund des gegenwärtig vorliegenden Bildausschnittes<br />

repräsentativ erscheinen, es tatsächlich<br />

gar nicht waren. Die Konsequenz kann nur<br />

lauten, sämtliche Vorgänge für komplexer und<br />

diffuser zu halten, als sie auf den ersten Blick<br />

erscheinen.<br />

Diesem Anliegen versucht die gegenwärtige<br />

Forschung dadurch zu entsprechen, dass sie<br />

die Grenzen zwischen den beiden werdenden<br />

‚Religionen‘ durchlässig denkt. 11 Impulse und<br />

Innovationen – etwa platonische Konzepte oder<br />

magische Techniken – wurden aus der Umwelt<br />

aufgenommen und parallel verarbeitet. Ebenso<br />

beeinflussten sich die beiden permanent gegenseitig;<br />

die Abgrenzungsprozesse vollzogen sich<br />

eher osmotisch als hermetisch.<br />

Daniel Boyarin, einer der Exponenten dieses<br />

Paradigmenwechsels, hat vorgeschlagen, sich „das<br />

Judentum und das Christentum des zweiten und<br />

dritten Jahrhunderts als Markierungspunkte auf<br />

einer Skala“ zu denken, 12 die von der völligen Ablehnung<br />

der Hebräischen Bibel (und mit ihr der<br />

gemeinsamen Wurzel von Juden und Christen)<br />

durch die Marcioniten bis zur völligen Ablehnung<br />

Jesu durch manche jüdische Gruppen reicht.<br />

Zwischen diesen beiden Extremen existierten<br />

jedoch vielerlei Zwischenstufen, bei denen der<br />

Grad gegenseitiger Abgrenzung weit weniger<br />

deutlich war. Diese Perspektive bezeichnet<br />

Boyarin – unter Rückgriff auf linguistische Theoriebildungen<br />

– als Wave-Theory (Wellentheorie).<br />

Aus der Grundannahme eines breiten Spektrums<br />

mehr oder weniger interferierender judäo-christlicher<br />

Strömungen ergibt sich zum einen, dass mit<br />

sehr viel längeren Entwicklungs- und Trennungsprozessen<br />

zu rechnen ist, als es ältere Perspektiven<br />

suggerieren. Zum anderen muss wohl davon<br />

ausgegangen werden, dass sich die Ausprägung<br />

distinkter ‚jüdischer‘ und ‚christlicher‘ Identitäten<br />

in den verschiedenen Siedlungsräumen und<br />

Kulturkreisen in jeweils eigener Weise und zu<br />

unterschiedlichen Zeiten vollzog.<br />

Ein gutes Beispiel für die Komplexität dieser Vorgänge<br />

bildet Antiochia. Als eine der größten<br />

Metropolen des Imperium Romanum verfügte die<br />

Stadt sowohl über vitale jüdische, wie auch bedeutende<br />

christliche Gemeinschaften. In Antiochia<br />

wirkte von etwa 381 bis 397 Johannes Chrysostomus<br />

(344/349-407), der seinen griechischen Beinamen<br />

(„Goldmund“) außerordentlichen rhetorischen<br />

Fähigkeiten verdankte. In die Geschichte<br />

der jüdisch-christlichen Beziehungen ging er als<br />

einer derjenigen ein, der sich in seinen Predigten<br />

heftigster und wahrlich übler Invektiven gegen das<br />

jüdische Volk befleißigte. Tatsächlich bestand sein<br />

Problem darin, dass seine „christliche“ Gemeinde,<br />

die Hörer/innen seiner Predigten, nichts dabei<br />

fanden, am Schabbat in die Synagoge und am<br />

Sonntag in die Kirche zu gehen. Sie feierten jüdische<br />

und christliche Feste gleichermaßen – weil sie<br />

die ‚Grenze‘ zwischen den beiden Gemeinschaften<br />

nicht als ausschließend wahrnahmen. Sehr zum<br />

Ärger des Predigers Chrysostomus.<br />

Rekonstruktion:<br />

Der lange Weg zur eigenen Identität<br />

Dennoch braucht die Komplexität eines Prozesses<br />

niemanden davon abhalten, sich nicht an<br />

einer Darstellung der langwierigen Identitätsfindung<br />

zu versuchen. Auch in diesem Fall muss<br />

eine grobe Skizze genügen, wie sie im Rahmen<br />

eines Essays möglich ist.<br />

Das jüdische Volk (und in ihm etliche Jesusanhänger)<br />

erlebten die ersten Jahrhunderte als<br />

geprägt von schweren militärischen Katastrophen.<br />

Nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg wurde<br />

das Heilige Land von 66-70 (73) vom Großen<br />

Jüdischen Aufstand erschüttert, der für alle<br />

Bewohner – unabhängig welcher Ethnie und<br />

kultischer Zugehörigkeit – gravierende Konsequenzen<br />

hatte. Von 132 bis 135 tobte erneut ein<br />

blutiger Krieg im Lande. Dieses Mal vollzog sich<br />

das Kampfgeschehen wohl kleinräumiger, deswegen<br />

aber nicht minder heftig. In der Folgezeit<br />

kam es im gesamten Imperium zu jeweils massiven<br />

Restriktionen der Römer gegen das jüdische<br />

Volk, das beispielsweise mit einer Sondersteuer,<br />

dem fiscus iudaicus, belegt wurde.<br />

In den Jahren zwischen den beiden antirömischen<br />

Aufständen im Heiligen Land (ca. 114-117)<br />

rebellierten jüdische Gemeinschaften in der Diaspora,<br />

so in Ägypten und der Kyrenaika, auf<br />

Zypern und möglicher Weise in „Babylon“<br />

(Mesopotamien). In der Folge gingen einst<br />

blühende und bedeutende jüdische Gemeinden<br />

(wie die Alexandrias) unter; manche von ihnen<br />

für sehr lange Zeit.<br />

Im Umfeld Palästinas erfuhr das jüdische Leben<br />

schwere Beeinträchtigungen. Es scheint, dass<br />

viele Juden in den Jahrzehnten nach den Aufständen<br />

versuchten, in größtmöglicher Anpassung an<br />

die herrschende Kultur zu überleben. Mindestens<br />

deuten archäologische Befunde darauf hin, dass es<br />

im späten 2. Jahrhundert zu einer massiven Abkehr<br />

von den „väterlichen Traditionen“ in vielen<br />

jüdischen Städten Palästinas kam. 13 Eine kleine<br />

Anzahl von Gelehrten bemühte sich jedoch, ebendiese<br />

„väterlichen Traditionen“ zu erhalten, zu<br />

lehren, zu aktualisieren und im Alltag zu leben.<br />

Aus diesen marginalen, informell organisierten<br />

Gruppen entwickelte sich das sogenannte rabbinische<br />

Judentum, das zunehmenden Einfluss gewann<br />

und etwa ab dem 6. Jahrhundert die<br />

Führung des Volkes übernehmen sollte.<br />

11<br />

Vgl. Daniel Boyarin, Abgrenzungen.<br />

12<br />

Boyarin, Abgrenzungen, S. 23.<br />

13<br />

Vgl. Seth Schwartz, Imperialism and Jewish Society.<br />

Wer also versucht, die Anfänge von Judentum und Christentum<br />

auf der Basis der tradierten Texte zu rekonstruieren,<br />

muss vorsichtig sein: Es ist gut möglich, dass manche Äußerungen,<br />

die aufgrund des gegenwärtig vorliegenden Bildausschnittes<br />

repräsentativ erscheinen, es tatsächlich gar nicht waren.<br />

Seite 10 — EINE ZWILLINGSGEBURT


Zur gleichen Zeit prosperierten jüdische Gemeinden<br />

in anderen Teilen des Imperiums. Auch<br />

(zunehmend) ‚heidenchristliche‘ Gemeinschaften<br />

außerhalb Palästinas nahmen, trotz sporadischer<br />

lokaler Verfolgungen, an Bedeutung zu. Es ist<br />

wohl davon auszugehen, dass die rabbinische<br />

Lesart der „väterlichen Traditionen“, die recht<br />

eigentlich erst das „klassische Judentum“ ausprägen<br />

sollte, in jüdischen Gemeinden weiter<br />

Teile des Römischen Reiches unbekannt war bzw.<br />

keinen nennenswerten Einfluss hatte.<br />

Die „Konstantinische Wende“<br />

Die politischen Reformen Kaiser Konstantins<br />

(272/3-337) mündeten in einem (weiteren) Versuch,<br />

die Einheit des auseinander driftenden Imperiums<br />

durch kultische Reformen zu befördern.<br />

Im Jahre 313 promulgierten er und sein Mitkaiser<br />

Licinius die „Mailänder Vereinbarung“, die es den<br />

Bewohnern des Reiches – unter ihnen ausdrücklich<br />

auch den Christen – gestattete, einer religio<br />

ihrer Wahl anzuhängen. Die Aufwertung des<br />

Christentums zu einer „Staatsreligion“ war damit<br />

nicht impliziert, auch wenn Konstantin in den<br />

folgenden Jahren christliche Institutionen und<br />

Personen ausdrücklich förderte.<br />

Die erheblichen Konsequenzen, die sich aus den<br />

konstantinischen Reformen für das werdende<br />

Christentum ergaben, sind hinlänglich bekannt.<br />

Im Folgenden soll es deshalb vor allem darum gehen,<br />

welche Auswirkungen diese für das werdende<br />

Judentum und für das gegenseitige Verhältnis<br />

zeitigten.<br />

Die Privilegierung des Christentums brachte zunächst<br />

keine reale Verschlechterung der jüdischen<br />

Belange mit sich; es kam – im Gegenteil – zunächst<br />

zu einem Aufschwung jüdischen Lebens<br />

gerade in Palästina. Die Reformen Konstantins<br />

beinhalteten nämlich unter anderem eine Stärkung<br />

kultureller Selbstverwaltung, wovon reger<br />

Gebrauch gemacht wurde. Vermutlich kam es<br />

(erst jetzt) zur Ausprägung derjenigen Institutionen,<br />

die in der klassischen Literatur bereits mit<br />

den Anfängen der rabbinischen Bewegung in<br />

Verbindung gebracht wurden: zu einem Repräsentanten<br />

(Nassí) der palästinischen Judenheit,<br />

der zumeist etwas unglücklich als „Patriarch“<br />

bezeichnet wird, zu den Anfängen rabbinischer<br />

Rechtsprechung und eines (wie auch immer gearteten)<br />

Schulwesens.<br />

Auf der anderen Seite leitete die Herrschaft<br />

Konstantins auch eine paradoxe Entwicklung ein,<br />

in deren Verlauf Palästina stärker in den Mittelpunkt<br />

des christlichen Interesses rückte. Bis zu<br />

jener Zeit hatte das Heilige Land für das werdende<br />

Christentum eine erstaunlich geringe Rolle<br />

gespielt. Nach dem Untergang der Jerusalemer<br />

‚Urgemeinde‘ im Jahre 70 befanden sich die<br />

(demographischen und ideellen) Zentren christlichen<br />

Labens durchweg außerhalb Palästinas.<br />

Die Stätten des historischen Jesus fanden nach<br />

135 kaum mehr Aufmerksamkeit. Konstantins<br />

Mutter Helena (248/50-330) leitete durch ihren<br />

Besuch im Heiligen Land eine durchgreifende<br />

Änderung ein. Der Legende nach soll sie am Ort<br />

der späteren Grabeskirche das Kreuz Christi aufgefunden<br />

haben; neben der Grabeskirche gehen<br />

auch die Geburtskirche zu Bethlehem und ein<br />

Bau auf dem Ölberg auf ihre Initiative zurück.<br />

Diese Aktivitäten führten zu einer deutlich zunehmenden<br />

christlichen Präsenz im Heiligen<br />

Land. Pilger bereisten es, um die Stätten der<br />

Patriarchen und Propheten (!) zu besichtigen;<br />

manche von ihnen ließen sich dauerhaft dort nieder.<br />

Weitere Kirchen wurden gebaut – wie zum<br />

Beispiel die prachtvolle Marienkirche („Nea“) im<br />

Cardo zu Jerusalem durch Kaiser Justinian I.<br />

(482-565). All dies führte dazu, das sich die jüdische<br />

Bevölkerung des Heiligen Landes auf paradoxe<br />

Art und Weise mit den eigenen Traditionen<br />

konfrontiert sah: Beriefen sich doch die überwiegend<br />

heidnischen Anhänger Jesu auf biblische<br />

Erzählungen, suchten die Gräber Abrahams,<br />

Isaaks und Jakobs auf und behaupteten gleichzeitig,<br />

„die Juden“ würden ihr eigenes jahrhundertelanges<br />

Erbe falsch verstehen, weil sie in<br />

der Bibel keine Hinweise auf Jesus zu entdecken<br />

vermochten.<br />

Diese Faktoren, der Aufschwung jüdischer<br />

Selbstverwaltung begünstigt durch die konstantinischen<br />

Reformen sowie die deutlich erhöhte<br />

christliche Präsenz im Heiligen Land, führten zu<br />

einer Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen<br />

innerhalb der jüdischen Bevölkerung Palästinas.<br />

Jene Entwicklung manifestierte sich in einem<br />

deutlich zunehmenden Bau von Synagogen in<br />

Galiläa, der dem Errichten von Kirchen gewissermaßen<br />

parallel läuft. Zum anderen nahm im<br />

4. und 5. Jahrhundert die Produktion von rabbinischen<br />

Schriften (mindestens derer, die bis auf<br />

den heutigen Tag erhalten sind) einen klaren<br />

Aufschwung. Es entstanden Texte zur Aktualisierung<br />

der Bibel (Midraschim) und ein bedeutender<br />

Kommentar zur Mischna (der palästinische<br />

oder Jerusalemer Talmud).<br />

Die Epoche nach Konstantin<br />

Der Prozess der forcierten Selbstdefinition<br />

des Judentums wurde in der Epoche nach<br />

Konstantin durch zahlreiche Edikte und Gesetze<br />

der nunmehr zumeist christlichen Kaiser gestützt<br />

und erzwungen, die ‚das Judentum‘ als eine<br />

Sondergruppe innerhalb des Imperiums<br />

definierten und diskriminierten. Allein zwischen<br />

337 (Tod Konstantins) und 408/423 (Tod des<br />

Arcadius/Honorius) wurden fünfzig (!) die Juden<br />

betreffende Gesetze promulgiert. Insbesondere<br />

nach dem Jahr 380 geriet das Judentum sukzessive<br />

juristisch unter Druck: Es wurden Konversionsverbote<br />

erlassen, der Besitz christlicher<br />

Sklaven, das Eingehen Mischehen wurde untersagt<br />

(388). Ab dem frühem 5. Jahrhundert waren<br />

regionale Verbote von Bräuchen (Purim) zu verzeichnen.<br />

418/425 erfolgte der Ausschluss von<br />

Juden aus kaiserlichem Dienst. Die um das Jahr<br />

429 dekretierte Aufhebung des „Patriarchats“<br />

beendete die durch Konstantin begünstigte<br />

kultische Selbstverwaltung.<br />

Paradoxer Weise begünstigte also die Konstantinische<br />

Wende die Selbstfindung beider „Geschwister“:<br />

des werdenden Christentums ebenso,<br />

wie des werdenden Judentums. Letzteres wurde<br />

durch die Entwicklung des Christentums zur<br />

Staatsreligion zweifach auf sich selbst aufmerksam:<br />

Im Zuge der wachsenden Präsenz des<br />

Christentums in Palästina wurde die jüdische<br />

Bevölkerung zum Zeuge einer höchst eigenwilligen<br />

Verwendung ihrer Traditionen durch die<br />

Christen. Die wachsende rechtliche Diskriminierung<br />

von Juden nach 380 unterstützte Rückbesinnung<br />

und Gruppenbildung gewissermaßen<br />

auf negative Weise und „von außen“.<br />

Das vielerorts äußerst vitale Judentum bereitete<br />

den Kirchenvätern Kopfzerbrechen und verursachte<br />

so manche üble Invektiven (vgl. Melito von<br />

Sardes oder der erwähnte Chrysostomus). Das<br />

Judentum, welches eigentlich durch das Neue<br />

Gottesvolk abgelöst werden sollte, florierte munter<br />

weiter oder gar wieder. Es ist ebendiese Substitutionslehre,<br />

eine theologische Konstruktion,<br />

die sich mit der historischen Realität nicht in<br />

Übereinstimmung bringen ließ und daher immer<br />

wieder zum Anlass heftiger christlicher Angriffe<br />

auf das Judentum wurde und werden sollte.<br />

Literatur<br />

Daniel Boyarin, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des<br />

Judäo-Christentums, ANTZ 10, Berlin, Dortmund 2009.<br />

Paula Fredriksen, Oded Irshai, Christianity and Anti-Judaism<br />

in Late Antiquity: Polemics and Policies, from the Second to<br />

the Seventh Centuries, In: Steven T. Katz (Hg.) The<br />

Cambridge History of Judaism, Volume 4: The Late<br />

Roman-Rabbinic Period, Cambridge 2006, S. 977-1035; vgl.<br />

http://www.bu.edu/religion/files/pdf/Christianity-and-Anti-<br />

Judaism-in-Late-Antiquity-Polemics-and-Policies-from-the-<br />

Second-to-the-Seventh-Centuries.pdf<br />

John Gager, Reinventing Paul, Oxford u.a. 2002.<br />

Peter Schäfer, Jesus im Talmud, Tübingen 2007.<br />

Seth Schwartz, Imperialism and Jewish Society: 200 B.C.E.<br />

to 640 C.E., Princeton 2004.<br />

Guy Stroumsa, The Christian Hermeneutical Revolution and<br />

its Double Helix,“ in: Pieter W. van der Horst u.a. (Hg.),<br />

The Use of Sacred Books in the Ancient World, Leuven 1998,<br />

S. 9-28. Vgl. http://pluto.huji.ac.il/~stroumsa/Helix.pdf<br />

Prof. Dr. Susanne Talabardon promovierte 1996 nach dem Studium<br />

der Evangelischen Theologie an der Humboldt-Universität<br />

Berlin; 1996 Promotion am Fachbereich Altes Testament/Judaistik<br />

mit der Arbeit “Moshe ha- Naví. Studien zu Überlieferung<br />

und Deutung Moses als Prophet.” Anschl. Ausbildung zur evangelischen<br />

Religionslehrerin. 1997-2001 Habilitation zum Thema:<br />

“Zaddik Jesod Òlam. Untersuchungen zur osteuropäisch- jüdischen<br />

Hagiographie des 18. und 19. Jahrhunderts aufgrund von<br />

Erzählungen aus dem Umfeld des Chassidismus”.<br />

1997-2008 arbeite sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der<br />

Universität Potsdam. Seit 2008 ist sie Professorin für Judaistik an<br />

der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.<br />

susanne.talabardon@uni-bamberg.de<br />

Seite 12 — EINE ZWILLINGSGEBURT EINE ZWILLINGSGEBURT — Seite 13


In der gegenwärtigen deutschen<br />

Debatte um die Beschneidung<br />

zeigt sich immer wieder<br />

der Versuch, das Judentum<br />

in die Vergangenheit zu verlagern:<br />

Auch in seriösen Zeitungen,<br />

in denen sonst informative<br />

und informierte Artikel zu<br />

jüdischer Kultur zu finden sind,<br />

ist die Rede von einem ‘uralten Ritus’,<br />

fern von der aufgeklärten,<br />

zivilisierten Welt.<br />

Barbara U. Meyer<br />

Was haben Christen heute mit der Beschneidung zu tun?<br />

Viel, in jeder Hinsicht – um Paulus’ Antwort auf<br />

die Frage nach dem bleibenden Wert der Beschneidung<br />

zu zitieren (Röm 3,1). Zwar sollen<br />

nach Paulus Heidenchristen die Beschneidung<br />

nicht praktizieren, doch bleibt sie das körperliche<br />

Zeichen des Bundes zwischen Gott und<br />

dem jüdischen Volk. Diesen Bund aber bekennen<br />

alle großen christlichen Kirchen heute als<br />

ungekündigt und lebendig: Die Beschneidung –<br />

im Hebräischen dasselbe Wort wie Bund, nämlich<br />

brit – ist zwar nicht Teil aktueller christlicher<br />

Praxis, doch sind im Gedächtnis der Kirche ihre<br />

Bedeutungsspuren noch zu finden.<br />

In diesem Essay geht es um das gegenwärtige<br />

christliche Verhältnis zur Beschneidung aus<br />

systematisch-theologischer Sicht. Die Aufgabe<br />

für die Systematik besteht zunächst darin, die<br />

Thematik der Beschneidung einer theologischen<br />

Disziplin zuzuordnen, bzw. ihr Diskursfeld zu<br />

beschreiben. Auf den ersten Blick haben hier viele<br />

Christen das Verhältnis zu anderen Religionen<br />

angesprochen gesehen und dementsprechend für<br />

Religionstoleranz argumentiert. Doch die Beschneidung<br />

ist für Christen nicht nur ein Brauch<br />

einer fremden Religion. Zwar wird bis auf wenige<br />

Ausnahmen im gegenwärtigen Christentum<br />

nicht beschnitten, das Narrativ und die Thematik<br />

der Beschneidung jedoch stellen einen integralen<br />

Bestandteil der christlichen Tradition dar.<br />

Die Gegenwart der Beschneidung<br />

In der gegenwärtigen deutschen Debatte um<br />

die Beschneidung zeigt sich immer wieder der<br />

Versuch, das Judentum in die Vergangenheit zu<br />

verlagern: Auch in seriösen Zeitungen, in denen<br />

sonst informative und informierte Artikel zu<br />

jüdischer Kultur zu finden sind, ist die Rede von<br />

einem ,uralten Ritus’, fern von der aufgeklärten,<br />

zivilisierten Welt. Sicherlich handelt es sich bei<br />

der Beschneidung um eine uralte biblische Tradition;<br />

für Christen präsent in ihrem Alten sowie in<br />

ihrem Neuen Testament. Die Beschneidung der<br />

Söhne am achten Lebenstag ist aber auch in der<br />

Gegenwart Bestandteil des jüdischen Religionsgesetzes,<br />

und sie wird nicht nur im orthodoxen<br />

Judentum, sondern ebenso im halachisch nicht<br />

gebundenen Reformjudentum wie auch von der<br />

Mehrheit der säkularen Juden praktiziert. Im<br />

modernen Staat Israel, dessen Gesundheitssystem<br />

bei vielen Unterschieden dem amerikanischen<br />

oder deutschen in nichts nachsteht (es ist nicht so<br />

teuer wie das deutsche und sozialer als das amerikanische),<br />

ist die Beschneidung allgemein üblich.<br />

Diese Praxis kann nicht einfach in die Ecke der<br />

voraufklärerischen Bräuche geschoben werden.<br />

Das im Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland<br />

entstandene Reformjudentum, die weltweit<br />

größte religiöse Bewegung des Judentums, sowie<br />

das konservative Judentum und die moderne<br />

Orthodoxie setzen sich aktiv mit der Moderne<br />

auseinander. 1 Wenn es sich bei der Beschneidung<br />

des männlichen Babys um eine Körperverletzung<br />

handeln würde, so hätten jüdische Mediziner und<br />

Medizinerinnen in den USA und in Israel dies<br />

diagnostiziert, und Rabbiner aller Denominationen<br />

hätten einen Diskurs über halachische und<br />

medizinische Modifikationen begonnen.<br />

Die Idee, das Judentum mit dem Überkommenen<br />

zu identifizieren, sich selbst hingegen als aktuell<br />

und zukunftsträchtig einzuschätzen, war bis zum<br />

zwanzigsten Jahrhundert charakteristisch für die<br />

christliche Theologie. Geprägt vom Entsetzen<br />

über die Schoa – aber nicht von der Schoa verifiziert<br />

– wurden in den großen Kirchen seit der<br />

Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Stimmen<br />

lauter, die christlich bekannten, dass das Judentum<br />

nicht vom Christentum abgelöst worden ist.<br />

Um dieser Erkenntnis Ausdruck zu verleihen,<br />

wurde besonders im deutschsprachigen Raum<br />

und in den Niederlanden die Rede vom Bund<br />

entdeckt.<br />

Die Gegenwart des Bundes<br />

Die Bundestheologie war bis zum zwanzigsten<br />

Jahrhundert vor allem in der reformierten<br />

Tradition präsent, und erst Karl Barth hat sie wiederentdeckt<br />

und weltweit für die ökumenische<br />

Theologie zugänglich gemacht. Zum zentralen<br />

Theologumenon wurde der Bund bei dem amerikanisch-anglikanischen<br />

Theologen Paul van<br />

1<br />

Eine hervorragende Einführung in die Auseinandersetzung<br />

des Reformjudentums mit der Moderne bietet Michael A. Meyer,<br />

Response to Modernity: A History of the Reform Movement in<br />

Judaism, New York: Oxford University Press 1988; Detroit,<br />

Michigan: Wayne State University Press 1995.<br />

Seite 14 — WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? — Seite 15


Buren; inzwischen argumentieren aber auch die<br />

wichtigsten katholischen Theologen im jüdischchristlichen<br />

Dialog bundestheologisch, so Kardinal<br />

Walter Kasper, Hans Hermann Henrix und<br />

zuletzt überzeugend Philipp Cunningham und<br />

Didier Pollefeyt. 2 Für die zahlreichen kirchlichen<br />

Erklärungen zum jüdisch-christlichen Verhältnis<br />

wurde der Bund zum Schlüsselbegriff. Trotz der<br />

schwerwiegenden Tradition der Substitutionstheologie,<br />

nach der ein neuer Bund einen alten abgelöst<br />

habe, konnte die Rede vom Bund zu einer<br />

Sprache der Anerkennung entwickelt werden:<br />

Dass Christen den ungekündigten Gottesbund<br />

Israels bekennen, bedeutet, dass sie eine andere<br />

als die eigene Gottesbeziehung anerkennen. Dies<br />

ist nicht gleichbedeutend mit einer allgemeinen<br />

Offenheit und Toleranz, nach der Christen<br />

andere, nicht-christliche Gottesbeziehungen<br />

akzeptieren. Vielmehr handelt es sich um eine<br />

Anerkennung der jüdischen Gottesbeziehung, die<br />

auf einer spezifisch christlichen Kenntnis dieser<br />

besonderen anderen Beziehung beruht.<br />

Obwohl vor allem im deutschsprachigen Raum<br />

die Rede vom Bund durch Synodalerklärungen,<br />

Bischofsworte und sogar kirchliche Verfassungsänderungen<br />

stärker gemeinverständlich verbreitet<br />

worden ist, wurde offensichtlich von theologischer<br />

Seite noch zu wenig dechiffriert und erklärt. Was<br />

bedeutet es denn, dass die Kirche den Israelbund<br />

als ungekündigt und in Kraft verkündet? Und vor<br />

allem: In welcher Weise verpflichtet eine solche<br />

theologische Aussage die bundbekennenden<br />

Christen? Sehr allgemein verbinden die Kirchen<br />

die Anerkennung Israels mit einer grundsätzlichen<br />

Ablehnung von Antisemitismus und<br />

Judenfeindlichkeit, und in der wissenschaftlichen<br />

Theologie hat sich eine Kritik der Substitutionstheologien<br />

Gehör verschafft. Doch die unmittelbarste<br />

Konsequenz einer christlichen Anerkennung<br />

des Bundes wäre eine Verteidigung der<br />

jüdischen Beschneidungspraxis. David Novak,<br />

Professor an der Universität Toronto und Mitverfasser<br />

von Dabru Emet, äußerte diese Idee auf<br />

einer frühen Konferenz zu Dabru Emet 2001 in<br />

Minneapolis. 3 Es hatte in Kanada Kritik an der<br />

Beschneidungspraxis gegeben, und ein gesetzliches<br />

Verbot war nicht mehr undenkbar.<br />

Der Gedanke von David Novak soll hier christlich-theologisch<br />

weiterentwickelt werden. Die<br />

christliche Anerkennung des Israelbundes, also<br />

des jüdischen Gottesverhältnisses, war bisher vor<br />

allem auf die göttliche Seite dieser Beziehung<br />

fixiert: Christen erklärten und bekannten, Gott<br />

habe das Volk Israel nicht verlassen. (Röm 11,1)<br />

Für Christen stellte das Lernen der Bejahung und<br />

Bekräftigung dieses Bundes einen großen Schritt<br />

dar. Die plötzliche christliche Betonung der Lebendigkeit<br />

jüdischer Gottesbeziehung steht allerdings<br />

in eigentümlichen Kontrast zu jüdischen<br />

Post-Schoa Theologien, in denen vor allem enttäuschte<br />

Bundeserwartungen reflektiert werden.<br />

Besonders Irving Greenberg ist es gelungen, die<br />

jüdische Enttäuschung über Gott theologisch zur<br />

Sprache zu bringen. Nach der gottzentrierten<br />

biblischen und der interaktiven rabbinischen<br />

Bundesphase habe nach der Schoa das Volk Israel<br />

die leitende, aktive Rolle in der Bundesbeziehung<br />

übernommen, so Greenberg.<br />

Was haben Christen übersehen?<br />

Die christliche Rede vom ungekündigten Bund<br />

war ja nicht nur eine würdigende Geste, sondern<br />

ist auch theologisch richtig gedacht und zudem<br />

paulinisch fundiert. Der Blick auf Greenbergs<br />

Post-Schoa Theologie legt allerdings die unreflektierte<br />

Einseitigkeit zeitgenössischer christlicher<br />

Bundestheologie offen. Greenberg wählt<br />

die Veränderung in der Dynamik und Aktivität<br />

der Bundespartner, um Kontinuität und Enttäuschung<br />

zusammenzudenken. So gelingt es<br />

ihm, Enttäuschung in bleibender Intensität zu<br />

denken. In Greenbergs Ansatz wird jeglicher Versuch<br />

einer Theodizee erfolgreich vermieden, und<br />

es unterbleibt eine Interpretation des so bitterlich<br />

vermissten Handeln Gottes.<br />

Eine christliche Betonung des ungekündigten<br />

Israelbundes stellt zwar eine kritische Selbstbegrenzung<br />

dar, doch schwingt hier insofern eine<br />

gewisse theologische Anmaßung mit, als die<br />

christliche Affirmation über jüdische Ambivalenz<br />

hinweggeht. Die christliche Bundesbestätigung<br />

ist theologisch nicht verfehlt, nur war sie bisher<br />

einseitig auf die Seite Gottes fixiert. Vielleicht<br />

kann diese Einseitigkeit auch die Schieflage in<br />

der aktuellen Beschneidungsdiskussion erklären.<br />

Die menschliche Seite des Israelbundes wurde<br />

von Christen nicht wahrgenommen, zumindest<br />

nicht in ihrer Komplexität. Der Zugehörigkeit<br />

zum Bund wird von jüdischer Seite zunächst und<br />

vor allem durch das Beschnittensein Ausdruck<br />

verliehen. Theologien wie die Greenbergs betonen<br />

die menschlich jüdische Seite des Bundes.<br />

Während das Bundesverhalten Gottes demonstrativ<br />

nicht kommentiert wird, konzentriert sich<br />

jüdisches Post-Schoa-Denken auf das menschliche<br />

Handeln. Auch die ungleich bekanntere<br />

Post-Schoa-Theologie Emil Fackenheims weist<br />

diese Struktur auf. 5 Wie können nun Christen<br />

ihrer Unterstützung des jüdischen Gottesbundes<br />

Ausdruck verleihen, ohne diesen zentralen Charakterzug<br />

zeitgenössischer jüdischer Bundestheologie<br />

zu ignorieren? Die Beschneidungsdebatte<br />

von 2012 stellt ein interessantes Bewährungsfeld<br />

für die hier entwickelten bundestheologischen<br />

Überlegungen dar.<br />

Das Zeichen der Anderen<br />

An der aktuellen Diskussion um das Beschneidungsrecht<br />

in Deutschland waren zunächst<br />

Juristen und Mediziner beteiligt, genauer: nichtjüdische<br />

Juristen und nicht-jüdische Mediziner.<br />

Schließlich ist das Recht zur Beschneidung ein<br />

politisches Thema geworden, das im Bundesrat<br />

und im Bundestag von vielen deutschen Poli tikern<br />

und Politikerinnen diskutiert wurde – darunter<br />

nur sehr wenige jüdischer oder islamischer Religion<br />

oder nichtreligiös bestimmter Zugehörigkeit<br />

zu Judentum oder Islam. Die Kirchen haben sich<br />

zu Wort gemeldet und ein klares Votum für die<br />

Freiheit der Beschneidung abgegeben. Das Hauptargument<br />

war hier die Toleranz gegenüber jüdischer<br />

und muslimischer Tradition.<br />

Unter Theologen und Theologinnen war die<br />

Beschneidung bisher vor allem ein exegetisches<br />

Thema: Hat Paulus die Beschneidung abgeschafft?<br />

Dank der Neutestamentler Ed Parish Sanders und<br />

Krister Stendahl wurden seit den siebziger Jahren<br />

neue Perspektiven in der Paulus Exegese entwickelt,<br />

die sich inzwischen in der neutestamentlichen<br />

Forschung durchgesetzt haben. John Gager,<br />

der die Argumentation der neuen Paulus forschung<br />

übersichtlich zusammengestellt hat, verdeutlicht<br />

wie anachronistisch Paulus zuvor gelesen wurde,<br />

nämlich unter der Voraussetzung eines bereits klar<br />

konturierten und abgegrenzten Christentums, das<br />

zu seiner Zeit noch gar nicht existierte. 6 In der<br />

traditionellen Exegese wurde Paulus als Gegner<br />

der Beschneidung verstanden, während heute betont<br />

wird, dass Paulus nur die Beschneidung von<br />

Heidenchristen ablehnte.<br />

Der wichtigste Textzeuge einer fortgesetzten<br />

Bedeutung der Beschneidung für das nicht<br />

beschneidende Christentum ist der Römerbrief.<br />

Dort stellt die Hochschätzung der Beschneidung<br />

nicht eine plötzliche Kehrtwende im paulinischen<br />

Denken dar oder den Gegenpol zu seinem Ärger<br />

über die Beschneidung von Heidenchristen im<br />

Galaterbrief.<br />

Vielmehr fällt Paulus im Römerbrief ein grundsätzliches<br />

Urteil zur Beschneidung, das untrennbar<br />

verbunden ist mit anderen theologischen<br />

Einsichten. Die Mitte seiner Erkenntnisse bildet<br />

die tiefgehende und weitreichende Einsicht, dass<br />

Gottes Bindung an sein Volk Israel nicht von dessen<br />

Christusbeziehung abhängig ist. (Röm 11,1).<br />

Die Bedeutung dieser theologischen Erkenntnis<br />

ist Christen erst im zwanzigsten Jahrhundert<br />

deutlich geworden, und auch im 21. Jahrhundert<br />

scheint das Ausmaß dieser Erkenntnis unterschätzt<br />

zu werden. Im Römerbrief steht die Frage<br />

2<br />

Philip A. Cunningham and Didier Pollefeyt, The Triune One, the<br />

Incarnate Logos, and Israel’s Covenantal Life, in: Christ Jesus and<br />

the Jewish People Today. New Explorations of Theological Interrelationships,<br />

hg. v. Philip A. Cunningham, Joseph Sievers, Mary<br />

C. Boys, Hans Hermann Henrix, Jesper Svartvik, Grand Rapids,<br />

Michigan / Cambridge, U.K.: William B. Eerdmans Publishing<br />

Company 2011, S. 183-201.<br />

3<br />

Vgl. Barbara U. Meyer, Christologie im Schatten der Shoah – im<br />

Lichte Israels. Studien zu Paul van Buren und Friedrich-Wilhelm<br />

Marquardt, Zürich: TVZ 2004, S. 234.<br />

4<br />

Die verschiedenen Veröffentlichungen Greenbergs zum Thema<br />

sind gesammelt und gut zugänglich in dem großen Sammelband<br />

jüdischer Post-Shoah Theologie Wrestling with God. Jewish<br />

Theological Responses during and after the Holocaust, hg. v. Steven<br />

T. Katz, Shlomo Biderman, Gershon Greenberg, Oxford University<br />

Press 2007, S. 497-555.<br />

5<br />

Emil Fackenheim, To Mend the World. Foundations of Post-<br />

Holocaust Jewish Thought, New York: Schocken Books, 1989²<br />

6<br />

John G. Gager, Re-Inventing Paul, Oxford University Press, 2002.<br />

Seite 16 — WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? — Seite 17


nach der bleibenden Gültigkeit der Gottesbeziehung<br />

von Juden, die Jesus nicht nachfolgen, in<br />

einer Linie mit den Fragen nach dem bleibenden<br />

Wert des Gesetzes und der Beschneidung. Die<br />

Antworten stehen in einem theologischen Gesamtzusammenhang:<br />

Gott hat sein Volk nicht<br />

verlassen. Gottes Gaben und seine Berufung sind<br />

unwiderruflich (Röm 11,29). Das Gesetz ist<br />

heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut<br />

(Röm 7,12). Die Beschneidung ist Zeichen des<br />

anvertrauten Gotteswortes (Röm 3,2). Sicherlich<br />

erwähnt Paulus im Philipperbrief sein eigenes<br />

Beschnittensein mit Stolz (Phil 3,5). Im Römerbrief<br />

aber ist das Beschnittensein vor allem das<br />

Zeichen der Anderen, auch wenn Paulus selbst<br />

diesen Anderen bleibend zugehörig ist.<br />

Die Würdigung und Affirmation der Beschneidung<br />

im Römerbrief beruht nicht auf Identi<br />

fikation. Es geht hier nicht um ein Zeichen der<br />

Christusgläubigen, sondern um das Kennzeichen<br />

der Juden – vor allem derjenigen Juden, die sich<br />

nicht zu Jesus bekennen.<br />

Der beschnittene Jesus<br />

Christen haben sich der Thematik<br />

der Beschneidung entfremdet,<br />

grundsätzlich aber ist sie<br />

dem Christentum nicht fremd.<br />

Neben der Bundestheologie stellt die Christologie<br />

ein weiteres Bewährungsfeld der Bundesthematik<br />

in der Systematischen Theologie dar.<br />

Welche Bedeutung hat das Beschnittensein Jesu?<br />

Zunächst kennzeichnet es Jesus als Juden. Das<br />

Beschnittensein Jesu ist für Christen das<br />

Zeichen seines bleibenden Judeseins. Weiterhin<br />

kennzeichnet die Beschneidung Jesus als jüdischen<br />

Mann. Weder in den Evangelientexten<br />

noch in den Paulusbriefen wird das Mannsein<br />

Jesu thematisiert. In der protestantischen<br />

Gegenwart kommt der Männlichkeit Jesu abgesehen<br />

von einzelnen feministischen Versuchen<br />

keine spezielle Bedeutung zu. Die katholische<br />

Kirche hingegen hat in der Debatte um die<br />

Frauenordination erstaunlicherweise den biologischen<br />

Unterschied bemüht. Sollte für die<br />

sakra mentale Repräsentationsfähigkeit der Priester<br />

aber dieses kleine Körperteil, von dem Frauen<br />

frei sind, konstitutiv sein, so fragt sich, warum die<br />

spezifische Beschaffenheit dieses Körperteils<br />

nicht wichtig genommen wird. Jesu Männlichkeit<br />

hat auch in den Glaubensbekenntnissen der<br />

Alten Kirche keine Heilsbedeutung. Tatsächlich<br />

ist das einzige männliche Zeichen, das theologisch<br />

signifikant ist, seine Beschneidung. Allein<br />

als jüdischer Mann hat sein Mannsein Bedeutung.<br />

Dieser Zusammenhang ist im zeitgenössischen<br />

Gender-Diskurs erst ansatzweise<br />

Sein Beschnittensein kennzeichnet Jesus als Juden<br />

und damit als zugehörig zum Bundesgott<br />

Abrahams, Isaaks und Jakobs. So kann seine Beschneidung<br />

auch als »Antimarkionitikum« beschrieben<br />

werden: Es ist genau dieses körperliche<br />

Zeichen, das auf die Zugehörigkeit zum Gott Israels<br />

hinweist und der markionitischen Behauptung<br />

eines neuen, bisher unbekannten Gottes<br />

entgegensteht.<br />

Karl Barth hat in den Dogmatikvorlesungen von<br />

1947 betont, dass die christliche Kirche sich nicht<br />

etwa „zu diesem Jesus Christus” bekennt „obwohl<br />

(sic) Jesus ein Jude war (wie wenn dieses Judesein<br />

ein pudendum war, über das man hinwegsehen<br />

könnte und müsste!)” oder dass Jesus Christus<br />

„zufällig ein Israelit war, der aber ebenso gut auch<br />

einem anderen Volk hätte entstammen können“,<br />

sondern dass er vielmehr „notwendig Jude“ war.<br />

In Anlehnung an diese eindringlichen Worte von<br />

Karl Barth ließe sich theologisch folgerichtig<br />

sagen, dass Jesus Christus nicht zufällig, sondern<br />

dass er notwendig beschnitten war. 8 Vielleicht<br />

würde es zu weit führen, hier auch Bonhoeffer in<br />

einer Formulierung von 1942 aufzunehmen: „Die<br />

Vertreibung der Juden aus dem Abendland wird<br />

zur Vertreibung Jesu Christi führen. Denn Jesus<br />

Christus war Jude.“ Das hieße, übertragen auf unser<br />

Thema: ,Die Verbannung der Beschneidung<br />

aus dem Abendland wird die Verbannung Jesu<br />

Christi mit sich führen. Denn Jesus Christus war<br />

beschnitten.’ Auf den ersten Blick mag dies als<br />

übertriebene Dramatisierung erscheinen. Doch<br />

hat Alfred Bodenheimer in seiner sehr klaren und<br />

nüchternen Schrift Haut ab! dargestellt, weshalb<br />

ein abendländisches Verbot der Beschneidung in<br />

der jüdischen Erinnerung tatsächlich eine dramatische<br />

Wende bedeutet. 9<br />

angesprochen worden. 7 WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? — Seite 19<br />

Beschneidungserinnerung<br />

Jesus ist beschnitten; der Tag seiner Beschneidung,<br />

nämlich der 1. Januar, gehörte bis zum zweiten<br />

Vaticanum zum katholischen Festkalender und hat<br />

noch 2000 im Evangelischen Gottesdienstbuch<br />

ein eigenes Proprium. 10 Eine bizarre Geschichte<br />

umspannt die Reliquienverehrung der Vorhaut<br />

Jesu seit dem Mittelalter – bis 1987, da diese Reliquie<br />

auf ungeklärte Weise verschwand! Bemerkenswert<br />

ist daran, wie sehr das Beschnittensein<br />

Jesu im Gedächtnis der katholischen Kirche<br />

präsent war. In den Glaubensbekenntnissen der<br />

Alten Kirche findet die Beschneidung keine<br />

Erwähnung. Laut dem ökumenischen Glaubensbekenntnis<br />

von Chalcedon (451) war Jesus vollkommen<br />

nicht nur in seiner Göttlichkeit sondern<br />

auch in seiner Menschlichkeit. Nach ökumenischer<br />

Überzeugung also tut die Beschneidung der<br />

Menschlichkeit keinen Abbruch, sie ist der<br />

klassisch christlichen Auffassung nach keine<br />

Verstümmelung. Der französische Philosoph<br />

Derrida hat die Beschneidung sogar als Zeichen<br />

der Menschlichkeit schlechthin interpretiert. 11<br />

Christen haben sich der Thematik der Beschneidung<br />

entfremdet, grundsätzlich aber ist sie dem<br />

Christentum nicht fremd. Denn Christen wissen<br />

von der Beschneidung aus beiden Teilen ihrer<br />

Bibel; sowohl die Geschichte der Beschneidung<br />

und Beschneidungsgeschichten als auch polemische<br />

und theologische Diskurse zur Beschneidung<br />

gehören zur biblischen Grundlage des<br />

Christentums. Daher kann die Kategorie der<br />

Erinnerung den Ort der Beschneidung im Christentum<br />

zutreffend beschreiben: Das Phänomen<br />

der Beschneidung ist im Gedächtnis des Christentums<br />

bewahrt. Im populären wie auch im<br />

akademisch reflektierten christlichen Glauben<br />

allerdings wird sie eher verdrängt als erinnert.<br />

Da, wo die Diskussion der Beschneidung präsent<br />

7<br />

Barbara U. Meyer, The Dogmatic Significance of Christ Being<br />

Jewish, in: Christ Jesus and the Jewish People Today. New Explorations<br />

of Theological Interrelationships, hg. v. Philip A. Cunningham,<br />

Joseph Sievers, Mary C. Boys, Hans Hermann Henrix, Jesper<br />

Svartvik, Grand Rapids, Michigan / Cambridge, U.K.: William B.<br />

Eerdmans Publishing Company 2011, S. 144-156.<br />

8<br />

Karl Barth, Dogmatik im Grundriß, Zürich: TVZ 19988, S. 89.<br />

9<br />

Alfred Bodenheimer, Haut ab! Die Juden in der Beschneidungsdebatte,<br />

Göttingen: Wallstein Verlag 2012.<br />

10<br />

Philipp Cunningham unterstützt offizielle Erwägungen, das Gedenken<br />

der Beschneidung Jesu im Festkalender wieder aufzunehmen.<br />

Vgl. Philipp Cunningham, Reviving the Catholic Observance<br />

of the Feast of the Circumcision, of Jesus, in: Toward the Future.<br />

Essays on Catholic-Jewish Relations in Memory of Rabbi Leon<br />

Klenicki, Paulist Press, erscheint 2013.<br />

11<br />

Elisabeth Weber, Zeugnis, Gabe. Jacques Derrida, in: Dies. (Hg.),<br />

Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt a.M. : Jüdischer Verlag<br />

im Suhrkamp Verlag 1994, 63-90, S. 65.


ist, ist die polemische Erinnerung stärker als<br />

die affirmative. Dies galt bis weit in das<br />

zwanzigste Jahrhundert hinein für das christliche<br />

Verhältnis zum Judentum insgesamt: Aus der<br />

Nähe zwischen Judentum und Christentum ergab<br />

sich eher Ablehnung und Abwertung als Hochschätzung.<br />

Erstaunlich bzw. bedauernswert ist<br />

nun, dass die neu oder wieder erlernte Wertschätzung<br />

des Judentums theoretisch bleibt und damit<br />

der theologischen Tiefe entbehrt. Dabei haben<br />

die Christen der großen Kirchen ihr Gottesverständnis<br />

erfolgreich revidiert: Sie sind von<br />

einem unbiblischen Götzen, der sein erwähltes<br />

Volk verlassen würde, umgekehrt zu dem<br />

bundestreuen Gott Israels. Doch die jüdische<br />

Weise, diesem Bund treu zu sein, ist dem<br />

Christentum offensichtlich weiterhin fremd.<br />

Dabei liegt die Problematik nicht im Fremdsein<br />

selbst, sondern in der Delegitimierung der<br />

fremden Praxis.<br />

Zeugen des Bundes<br />

Wenn die zahlreichen Erklärungen der großen<br />

Kirchen zum ungekündigten Gottesbund Israels<br />

ernst gemeint und daher ernst zu nehmen sind,<br />

dann wissen sich Christen heute als Zeugen dieses<br />

Bundes. Ihr Christsein ist nicht isoliert und<br />

unabhängig sondern geschichtlich und gegenwärtig<br />

gebunden an das jüdische Gottesverhältnis.<br />

Dass die Gotteszugehörigkeit von Nichtchristen<br />

für Christen Bedeutung hat, ist nicht<br />

eine pluralistische Idee des zwanzigsten Jahrhunderts<br />

sondern paulinische Theologie. Diese<br />

paulinische Spur in die Gegenwart zu verfolgen,<br />

stellt eine Herausforderung dar.<br />

Dass die Beschneidung nicht nur von observanten<br />

Juden, sondern auch von nichtreligiösen<br />

und überzeugt säkularen Juden praktiziert wird,<br />

ist für die christliche Bundestheologie ein höchst<br />

interessantes Phänomen. Der amerikanische<br />

Systematiker Paul van Buren hat ausdrücklich<br />

darauf hingewiesen, dass Gott sein Bundesvolk<br />

nicht in religiöse und säkulare Juden einteilt! 12<br />

Für die juristische Debatte in Deutschland bedeutet<br />

dies, dass die Einteilung der Motivationen<br />

zur Beschneidung in religiöse, die zu tolerieren<br />

und nichtreligiöse, die nicht zu tolerieren seien, in<br />

theologischer Sicht unsinnig ist.<br />

Alfred Bodenheimer hat in seiner hier bereits<br />

erwähnten Schrift mit dem Titel Haut ab die<br />

historische Entwicklung der Beschneidung zum<br />

primären Differenzmerkmal des Judentums nachge<br />

zeichnet. In Bezug auf das europäische Judentum<br />

hat Bodenheimer hier sicherlich Recht. In<br />

den USA hingegen ist die Beschneidung keineswegs<br />

das alleinige Merkmal der Juden. Auch steht<br />

das Beschnittensein in der israelischen Gesellschaft<br />

nicht auf der Seite der Differenz sondern<br />

der Einheitlichkeit. Es handelt sich somit um ein<br />

Differenzmerkmal das keinesfalls durch ein<br />

anderes ersetzt werden könnte.<br />

Für Derrida stellt die Beschneidung “das einzigartige<br />

Bündnis des jüdischen Volkes mit seinem<br />

Gott” dar, “andererseits aber auch eine Art universaler<br />

Markierung...“. 13<br />

Die so unterschiedlichen jüdischen Diskurse zur<br />

Beschneidung zeigen, wie schwierig es ist, das<br />

Ausmaß ihrer Bedeutung hinreichend zu erklären<br />

oder gar auf den Punkt zu bringen. Für Christen<br />

ist festzuhalten und vor allem zunächst wahrzunehmen,<br />

dass es diese Diskurse gibt. Juden<br />

diskutieren und reflektieren die Beschneidung in<br />

ihrer kulturhistorischen und religionsgesetzlichen<br />

Bedeutung. Das christliche Verhältnis zum jüdischen<br />

Religionsgesetz, der Halacha ist weiterhin<br />

unterentwickelt und ungeklärt.<br />

Christliche Kenntnis der Halacha<br />

Nicht nur säkulare und liberale, sondern auch<br />

orthodoxe Juden sind der modernen Medizin gegenüber<br />

aufgeschlossen. Da sich die Halacha auf<br />

alle Bereiche des Lebens bezieht, stellt der<br />

menschliche Körper ein wichtiges Thema jüdischen<br />

Interesses dar. Die für das Religionsgesetz<br />

verantwortlichen Gesetzesgelehrten und mit der<br />

Rechtsfindung Beauftragten, Poskei Halakha 14<br />

sind in medizinischen Fragen außerordentlich<br />

gut informiert und auf dem neuesten Stand<br />

der Forschung. In manchen Bereichen ist die<br />

Fortschrittlichkeit der orthodoxen Orthodoxie<br />

geradezu erstaunlich, auch im Vergleich zu christlichen<br />

Positionen: So z.B. erlauben manche<br />

rabbinische Rechtsautoritäten nicht verheirateten<br />

Frauen mit Kinderwunsch die intrauterine<br />

Insemination. Auch ultraorthodoxe Rabbiner<br />

er lauben IVF (in vitro Fertilisation) bei Ferti-<br />

litätsproblemen. Diese beeindruckende Fortschrittlichkeit<br />

ist anhand zweier fundamentaler<br />

Grundprinzipien der jüdischen Rechtsfindung zu<br />

erklären, nämlich die der Lebensrettung und der<br />

Lebensbejahung.<br />

Die Halacha steht grundsätzlich<br />

auf der Seite des Lebens.<br />

Wenn sich die Beschneidung also als gesundheitsgefährdend<br />

herausgestellt hätte, dann hätten<br />

jüdische Mediziner hier eine Modifikation der<br />

Praxis bewirkt. Jüdische Religionsgesetze sind<br />

nicht notwendigerweise gesundheitlich motiviert,<br />

und die koschere Ernährung ist nicht mit gesundem<br />

Essen gleichzusetzen. Wichtig ist aber, dass<br />

die koschere Ernährung keinesfalls ungesund ist.<br />

Das Gesetz der Trennung kann nicht zu einem<br />

Mangel an bestimmten Nährstoffen führen. Dass<br />

die Beschneidung die Infektionsgefahr mit HIV<br />

einschränkt, ist eine neue Erkenntnis. Nicht dafür<br />

ist die Beschneidung erfunden worden. Wäre es<br />

aber anders, und die Beschneidung würde die<br />

Ansteckungsgefahr erhöhen, so würden sich<br />

Rabbiner gefordert sehen, darauf halachisch zu<br />

reagieren.<br />

Es ist nicht die Aufgabe der christlichen Theologie,<br />

die jüdische Halacha zu idealisieren.<br />

Tatsächlich gibt es religionsgesetzliche Probleme,<br />

deren zufriedenstellende Lösung noch aussteht<br />

(z. B. die Wiederheirat einer Frau deren Mann verschollen<br />

ist – ein halachisches Problem, mit dem<br />

sich orthodoxe Fraueninitiativen beschäf tigen).<br />

Das Verständnis der Grundlogik der Halacha als<br />

lebensbejahend ist für Christen jedoch theologischer<br />

Erkenntnisgewinn. Denn wenn Christen<br />

den Israelbund als lebendig bekennen – und um<br />

dies zur Sprache zu bringen, sogar die Präambeln<br />

ihrer Kirchenverfassungen ändern – dann ist ein<br />

christliches Grundverständnis der Wege dieser<br />

Lebendigkeit unabdingbar. Auch der Akt der Beschneidung<br />

bedarf keiner Idealisierung. Christen<br />

sind nicht aufgefordert, sich für diese Praxis zu<br />

begeistern, sie werden sogar explizit aufgefordert,<br />

sich diese Praxis nicht selbst zueigen zu machen.<br />

Das christliche Bekenntnis allerdings, zu dem<br />

einen Bundesgott und zum ungekündigten Bund<br />

Israels, impliziert ein christliches Zeugnis der<br />

Beschneidung als Akt jüdischer Bundestreue.<br />

Die Kenntnis der Halacha als lebensbejahend<br />

und das Vertrauen in real existierende Juden als<br />

kompetente Mediziner und Medizinerinnen – ob<br />

religiös oder säkular, ob liberal, konservativ oder<br />

orthodox – kann Christen helfen, gesellschaftliche<br />

und politische Entscheidungen ihrem<br />

Bekenntnis entsprechen zu lassen.<br />

Dr. Barbara U. Meyer lehrt christliche Dogmengeschichte<br />

an der Universität Tel Aviv und der Privatuniversität Herzliya.<br />

Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Theologie und Recht in<br />

den Abrahamsreligionen, jüdisches und christliches Denken<br />

nach der Schoa und zeitgenössische Christologie.<br />

barbarumeyer@gmail.com<br />

12<br />

Paul van Buren, A Christian Theology of the People Israel,<br />

San Francisco: Harper&Row 1983, S. 316-317. Für Paulus stellte<br />

sich nicht die Thematik der Säkularität, sondern die des richtigen<br />

Glaubens. Explizit bekundet Paulus, dass die jüdische Bundeszugehörigkeit<br />

nicht vom richtigen Glauben abhängig ist (Röm 9-11).<br />

13<br />

Elisabeth Weber, Zeugnis, Gabe. Jacques Derrida, in: Dies. (Hg.),<br />

Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag im<br />

Suhrkamp Verlag 1994, 63-90, 64. Elisabeth Weber hat die Thematik<br />

als Leitmotiv seiner Philosophie erkannt, was Derrida hier auch selbst<br />

bestätigt hat.<br />

14<br />

Poskei Halacha, auf Englisch “decisors” – es ist bezeichnend, dass<br />

diese Berufsbezeichnung so schwer ins Deutsche zu übersetzen ist.<br />

Seite 20 — WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN?<br />

WAS HABEN CHRISTEN HEUTE MIT DER BESCHNEIDUNG ZU TUN? — Seite 21


Wer wie Ateek Jesus vom Juden zum Palästinenser umetikettiert,<br />

der tut dies nicht aufgrund historischer Evidenz,<br />

sondern der verfolgt damit ein klares politisches Interesse:<br />

Er eignet sich Jesus für die eigene palästinensische Sache an<br />

– auf Kosten des Jude-Seins Jesu.<br />

Stefan Meißner<br />

Palästinensische Befreiungstheologie – auf Kosten Israels?<br />

Der gekreuzigte Jesus ‒ ein palästinensischer<br />

Märtyrer? Entgegen einer langen antijudaistischen<br />

Traditionslinie innerhalb des Christentums,<br />

wonach Jesus mit seiner Mutterreligion<br />

gebrochen und etwas völlig Neues gebracht<br />

habe, bricht sich in den letzten Jahrzehnten die<br />

Erkenntnis Bahn, dass Jesus nicht nur als Jude<br />

geboren wurde, sondern dass er dies auch zeitlebens<br />

blieb. Vieles, was er nach dem Zeugnis der<br />

Evangelien tat oder sagte, zeigt seine Verwurzelung<br />

im Glauben und den Ritualen seiner Väter.<br />

Dies im Einzelnen nachzuweisen, sollte heute<br />

eigentlich überflüssig sein. Und doch gibt es<br />

Vertreter einer palästinensischen Befreiungstheologie,<br />

die Jesus auf Kosten seines Jude-Seins<br />

als einen der Ihren reklamieren. So betont der<br />

anglikanische Geistliche Nain S. Ateek ausdrücklich,<br />

Jesus sei ein Palästinenser gewesen<br />

und habe wie er selbst unter einer Besatzungsmacht<br />

gelebt. 1<br />

Jesus als Palästinenser, das ist zunächst einmal in<br />

mehrerer Hinsicht ein Anachronismus: Als Jesus<br />

geboren wurde, regierte Herodes der Große über<br />

ein Territorium, das damals den Namen der ehemals<br />

persischen Provinz Judäa trug. Dieser Name<br />

blieb auch erhalten, als sein Königreich zerfiel<br />

und zur Römischen Provinz wurde. Erst mit<br />

der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes<br />

durch Kaiser Hadrian (135 n.Chr.) wurde Jerusalem<br />

zu Aelia Capitolina umbenannt und die<br />

Provinz erhielt zur Strafe den Namen der einstigen<br />

Erzfeinde Israels: Palästina, Land der<br />

Philister. Man muss sich das historisch klar<br />

machen: Als dieser Landstrich in der südlichen<br />

Levante rund einhundert Jahre nach Jesu Tod<br />

erstmals offiziell als „Philisterland“ bezeichnet<br />

wurde, war das eine Kampfansage gegen das<br />

jüdische Volk und eine bewusste Provokation.<br />

„Palästina“ bürgerte sich, nicht zuletzt auch durch<br />

das Zutun christlicher Autoren, im weiteren Verlauf<br />

der Geschichte als geografische Bezeichnung<br />

ein. Ein palästinensisches Volk hingegen, das sich<br />

so bezeichnet hätte, oder das sich gar bewusst in<br />

eine Kontinuität mit den Philistern gestellt hätte,<br />

gab es bis in das 20. Jahrhunderts hinein nicht.<br />

Wer wie Ateek Jesus vom Juden zum Palästinenser<br />

umetikettiert, der tut dies nicht aufgrund<br />

historischer Evidenz, sondern der verfolgt damit<br />

ein klares politisches Interesse: Er eignet sich Jesus<br />

für die eigene palästinensische Sache an – auf Kosten<br />

des Jude-Seins Jesu.<br />

Die antijüdische Stoßrichtung dieser Aneignung<br />

Jesu zeigt sich auch daran, dass Ateek eine<br />

Parallele zwischen der römischen Besatzungsmacht<br />

von damals und der heutigen israelischen<br />

Okkupation Palästinas herstellt. Ist schon dieser<br />

Vergleich historisch fragwürdig, so wird die<br />

Argumentation des anglikanischen Geistlichen<br />

völlig abwegig, wenn er die israelische Regierung<br />

mit dem Kindermörder Herodes identifiziert. 2<br />

Zu behaupten, der Judenstaat betreibe täglich<br />

ein „Kreuzigungssystem“, 3 unterscheidet sich<br />

kaum mehr vom klassischen Vorwurf des Gottesmordes.<br />

Dass diese antijüdische Rhetorik, die in bestimmten<br />

Gruppen der westlichen Kirchen auf<br />

ungeteilte Zustimmung stößt, nicht ohne Folgen<br />

für den christlich-jüdischen Dialog bleiben kann,<br />

soll die Reaktion eines amerikanischen Rabbiners<br />

veranschaulichen: Yehiel Poupko, ein angesehener<br />

Gelehrter der „Jewish Federation of<br />

Metropolitan Chicago“, sieht diese fragwürdige<br />

Gleichsetzung in einer Linie mit den schlimmsten<br />

Elementen christlicher Judenverachtung und<br />

bedauert: „Wir haben gerade in den letzten Jahrzehnten<br />

begonnen, neue Beziehungen mit dem<br />

Christentum zu genießen, die tief greifende<br />

Veränderungen in dessen Haltung uns gegenüber<br />

gebracht haben. Und jetzt, durch die Worte<br />

dieser Autoren, sind die Uhren wieder zurück<br />

gestellt worden.“ Rabbiner Poupko hat sehr einfühlsam<br />

die Psychologie erfasst, die hinter dieser<br />

Rhetorik steht: Diese Befreiungstheologie befreit<br />

in der Tat: Sie befreit von Selbstzweifeln<br />

und dem Verdacht einer möglichen Mitschuld an<br />

der ausweglosen Situation im Heiligen Land.<br />

Das Opfer ist immer „frei von Sünde und schuldlos,<br />

ohne Fehler. Daher hat dieser sündlose Tod<br />

für den Christen erlösende Wirkung. Der Vorgang<br />

[der Kreuzigung] ist erlösend, [gerade] weil<br />

er ungerecht ist und derjenige, der kreuzigt, ist<br />

[..] dämonisch.“<br />

Der jüdische Gelehrte schließt mit der nachvollziehbaren<br />

Einschätzung: „Dieses Paradigma wird<br />

1<br />

Gerechtigkeit und Versöhnung. Eine palästinensische Stimme,<br />

Berlin 2010, S. 24.<br />

2<br />

„..modern day ‚Herods’ who are represented in the Israeli<br />

government.“; http://en.wikipedia.org/wiki/Naim_Ateek.<br />

3<br />

„The Israeli government crucifixion system is operating daily”, ebd.<br />

Seite 22 — PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? — Seite 23


dem israelisch-palästinensischen Konflikt nicht<br />

gerecht. Es zu beschwören, bedeutet die Juden zu<br />

verteufeln.“ 4<br />

Wer bisher meinte, es seien nur christliche Theologen,<br />

die in Palästina Jesus als einen der ihren<br />

reklamieren, rieb sich vermutlich erstaunt die<br />

Augen, als der palästinensische Religionsführer<br />

Mufti Muhammad Hussein 2009 im palästinensischen<br />

Fatah-Fernsehen verkündete: „Jesus<br />

wurde in diesem Land geboren, er machte seine<br />

ersten Schritte in diesem Land und verbreitete<br />

seine Lehre, den Islam, in diesem Land. Er und<br />

seine Mutter Maria, waren Palästinenser par<br />

excellence! “ 5<br />

In diesem muslimischen Kontext wird Jesus als<br />

Märtyrer (shahid) gepriesen, dessen selbstlose<br />

Lebenshingabe anderen zum Vorbild dienen soll.<br />

Dass auch Muslime sich positiv auf Jesus beziehen,<br />

ist an sich nicht neu, wird ihm doch auch<br />

im Koran als Prophet großer Respekt gezollt.<br />

Einigermaßen kurios ist allerdings die Betonung<br />

der Passion, denn ein leidender Erlöser passt (zumindest<br />

nach sunnitischer Auffassung) nicht in<br />

die Vorstellungswelt des Islam. Nach dem Koran<br />

ist Jesus nicht am Kreuz gestorben, sondern (wie<br />

es in Sure 4:157 heißt) „es wurde ihnen [den<br />

Juden] nur der Anschein erweckt“.<br />

Das Selbstopfer des Shahid kann erbracht<br />

werden, indem man geduldig das Leiden erträgt,<br />

das andere einem auferlegen. Es kann aber auch<br />

bedeuten, dass man als Selbstmordattentäter im<br />

Kampf gegen die Ungläubigen (jihad) sich und<br />

andere aktiv in den Tod reißt. Dass Jesus als Vorbild<br />

auch in diesem Sinne verstanden werden<br />

kann, wird zumindest von radikalen Muslimen<br />

billigend in Kauf genommen. So wird aus dem<br />

Friedensstifter, der die Menschen ermahnte,<br />

„auch die andere Backe hinzuhalten“, der<br />

Gotteskämpfer (mujahed), der um der gerechten<br />

Sache willen auch über Leichen geht. Um keine<br />

Missverständnisse aufkommen zu lassen: Diese<br />

Sichtweise ist nicht die von Naim S. Ateek oder<br />

Mitri Raheb. Beide betonen unmissverständlich<br />

den Gewaltverzicht.<br />

Weniger pazifistisch äußerte sich der griechischorthodoxe<br />

Erbischof Attallah Hanna, einer der<br />

Unterzeichner des Kairos-Dokuments. Er wurde<br />

2002 von Gulf News, einer Zeitung in den Vereinigten<br />

Arabischen Emiraten, mit folgenden<br />

Worten zitiert:<br />

„Wie Sie wissen, stimmen die politischen Parteien<br />

in Palästina überein in der Fortsetzung der Intifada,<br />

die unterschiedliche Ansätze des Kampfes umfasst.<br />

Einige Freiheitskämpfer nehmen das Martyrium<br />

auf sich oder Selbstmordattentate, während andere<br />

[Leute] andere Maßnahmen unterstützen.<br />

Aber alle diese Kämpfe dienen der fortgesetzten<br />

Intifada für die Freiheit. Deshalb unterstützen<br />

wir alle diese Fälle (…) Es ist das zionistische<br />

Regime Israels, das Genozid begeht in Palästina,<br />

indem es unschuldige Frauen und Kinder tötet.<br />

Das palästinensische Volk hat das Recht sich zu<br />

verteidigen gegen die israelische Barbarei und<br />

Gräueltaten. Wir sind Teil der Intifada,<br />

erwarten Sie also bitte nicht, dass wir Abstand<br />

halten und zuschauen. Wir sind Teil des Kampfes,<br />

ob es Martyrium bedeutet oder andere Mittel,<br />

wir sind Teil davon.“ 6<br />

Atallah Hanna spielte die Äußerungen als Teil<br />

einer von Israel ausgehenden Diffamierungskampagne<br />

gegen seine Person herunter. Ganz so haltlos<br />

dürften die gegen ihn erhobenen Vorwürfe<br />

nicht gewesen sein. Immerhin traf er sich am<br />

Rande einer Konferenz für christlich-muslimischen<br />

Dialog im Libanon mit dem dortigen Hisbolla-Führer<br />

Sheikh Nasrallah. Für den griechisch-orthodoxen<br />

Patriarchen in Jerusalem war<br />

das Maß schließlich voll und Atallah Hanna<br />

musste seinen Posten als Sprecher seiner Kirche<br />

abgeben.<br />

Spätestens der „Fall Hanna“ wirft die Frage auf,<br />

wie glaubwürdig sich die palästinensische Befreiungstheologie<br />

von einer Aneignung Jesu als Shahid<br />

distanziert. Kann es sein, dass man hier doch<br />

wenigstens partiell von der islamistischen „Kultur<br />

des Todes“ beeinflusst ist, von der man sich im<br />

Kairos-Papier distanziert hat. Bleibt zu hoffen,<br />

dass die dort ausgesprochene „Hochachtung vor<br />

allen, die ihr Leben für unsere Nation hingegeben<br />

haben“, nicht als Verklärung von Selbstmordattentäter<br />

missverstanden wird.<br />

Die Palästinenser - die wahren Juden?<br />

Naim Ateeks Gleichsetzung des heutigen Staates<br />

Israel mit den römischen Besatzern zur Zeit Jesu<br />

stellt unter palästinensischen Theologen kein<br />

Einzelfall dar. Mitri Raheb, lutherischer Pfarrer<br />

in Bethlehem, sieht ebenfalls Parallelen. Er geht<br />

sogar noch weiter, wenn er meint, die palästinensischen<br />

Christen seien „die einzigen in der Welt,<br />

die, wenn sie über ihre Vorväter sprechen, ihre<br />

wirklichen Vorfahren meinen, ebenso wie ihre<br />

Vorväter im Glauben.“ „Es waren unsere Vorväter,“<br />

so hebt er hervor, „denen die Offenbarung<br />

gegeben wurde.“ 7<br />

Raheb stellt in seiner Rede auf der Konferenz<br />

„Christ at the Checkpoint“ die Palästinenser<br />

als die einzigen legitimen Erben des biblischen<br />

Israel hin. Seine Rechtfertigung für diese theologische<br />

Enteignung der Juden: Nicht Israel,<br />

sondern nur die Palästinenser könnten die Erfahrung<br />

der Entrechtung und Unterdrückung<br />

verstehen, von der die Bibel berichtet. Man<br />

könnte es noch nachvollziehen, dass ein Palästinenser<br />

die biblische „Perspektive von unten“<br />

stark macht zugunsten seines in der Tat geschundenen<br />

Volkes, auch dass er hier Affinitäten zu<br />

seiner eigenen Situation entdeckt und für sich<br />

und seine christlichen Glaubensgeschwister die<br />

geistliche Gotteskindschaft reklamiert.<br />

Aber Mitri Raheb will mehr: Er sieht die Palästinenser<br />

nicht nur spirituell, sondern auch „nach dem<br />

Fleisch“ in der Nachfolge des biblischen Israel.<br />

Mit dieser ethnischen Argumentation begibt er<br />

sich aber auf ein ganz gefährliches Terrain. Er<br />

entzieht den heutigen Juden ihre Legitimität<br />

nicht nur aus historischen oder theologischen<br />

Über legungen, sondern er argumentiert mit der<br />

rassischen Ab stammung: „Ich bin sicher,“ so führt<br />

Raheb in seinem Vortrag aus, „wenn wir einen<br />

DNA-Ab gleich von David, der aus Beth lehem<br />

war, und Jesus, der in Bethlehem geboren wurde,<br />

sowie Mitri machen, der gegenüber von dort<br />

geboren wurde, wo Jesus geboren wurde, dann bin<br />

ich sicher, dass die DNA zeigen wird, dass es eine<br />

Spur gibt. Aber wenn man König David, Jesus<br />

und Netanyahu abgleicht, wird man nichts finden,<br />

denn Netanyahu kommt aus einem osteuropäischen<br />

Stamm, der im Mittelalter zum Judentum<br />

übertrat.“<br />

In der Geschichte des Rassenantisemitismus gibt<br />

es die Unterstellung, die Juden seien aufgrund<br />

ihrer durch die Tora angeordneten „tausendjährigen<br />

Inzucht“ (Adolf Hitler) besonders reinrassig.<br />

Es gibt freilich auch die andere Variante, wonach<br />

der weitaus größere Teil der heute lebenden Juden<br />

im ethnischen Sinn überhaupt keine Juden<br />

seien. Diese weit weniger bekannte Variante des<br />

Rassenantisemitismus findet heute in islamistischen<br />

sowie in rechtsradikalen Kreisen Anhänger.<br />

Um mich klar auszudrücken: Ich halte Mitri<br />

Raheb für keinen Antisemiten – in seinem Buch<br />

„Christ und Palästinenser“ distanziert er sich<br />

ausdrücklich von der Vorstellung einer palästinensischen<br />

Rasse 8 - aber er befördert mit dieser<br />

Argumentation ein antisemitisches Denk schema,<br />

das in der arabischen Welt ohnehin weit verbreitet<br />

ist.<br />

Die Kunstfigur eines wahren gojischen ‚Juden’,<br />

der in Konkurrenz zu und Abgrenzung gegen die<br />

wirklichen Juden aufgebaut wird, ist, wie F. W.<br />

Marquardt richtig bemerkt hat, eine „antijüdische<br />

Vernichtungsfigur“, 9 von der wir Christen<br />

nach den Erfahrungen der Geschichte besser die<br />

Finger lassen würden. Dass sich Raheb dabei angeblich<br />

auf die Thesen des jüdischen Historikers<br />

Shlomo Sand stützt, macht die Sache nicht<br />

besser. Erstens ist es in der Geschichte der<br />

Judenfeindschaft ein weithin praktizierter Usus,<br />

sich durch den Hinweis auf jüdische Gewährsmänner<br />

abzusichern – um nicht zu sagen: zu<br />

exkulpieren. Zweitens sind Sands Vermutungen,<br />

wonach der Großteil der heutigen Juden Nachfahren<br />

von Konvertiten – also im ethnischen<br />

4<br />

Phttp://livingjourney.wordpress.com/2006/07/11/palestiniansdepicted-as-christ-crucified/<br />

5<br />

http://www.israelheute.com/default.aspx?tabid=179&nid=22507<br />

6<br />

http://www.christianitytoday.com/ct/2002/juneweb-only/6-17-<br />

51.0.html.<br />

7<br />

Das engl. Original findet sich unter: http://www.christatthecheckpoint.com/lectures/Mitri_Raheb.pdf.<br />

Hier wird die deutsche<br />

Übersetzung zitiert von: http://ahuvaisrael.com/2012/02/08/herzoghalt-laudatio-fur-antisemitischen-pastor-raheb/,<br />

Hervorhebung von<br />

mir (S.M.).<br />

8<br />

Christ und Palästinenser, Berlin 2004, S.24.<br />

9<br />

Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie,<br />

Bd.2, Gütersloh 1994, S. 281.<br />

Seite 24 — PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS?<br />

PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? — Seite 25


Sinne gar keine Juden – seien, nichts weiter als<br />

eine abstruse, von der heutigen Populationsgenetik<br />

widerlegte These. 10<br />

„Das gegenwärtige Israel ist nicht das Israel der<br />

Bibel oder das Israel des Bundes.” 11 Das ist auch<br />

die Meinung von Alex Awad, Professor am Bethlehem<br />

Bible College, Baptistenprediger in Ostjerusalem<br />

und Organisator von „Christ at the<br />

Checkpoint“. Das neue Gottesvolk, das neue Israel<br />

bzw. die wahren Juden, das sind nach Auffassung<br />

der palästinensischen Befreiungstheologie die<br />

Christen. Ob dieser Anspruch nur in geistlichem<br />

oder auch in ethnischem Sinne gemeint ist, darüber<br />

herrscht offenbar noch Uneinigkeit. Wie<br />

auch immer: In beiden Fällen handelt es sich um<br />

Varianten einer christlichen Enterbungslehre, die<br />

wir eigentlich hinter uns gelassen haben sollten.<br />

Das Alte Testament ‒<br />

nur eine unverbindliche Vorfassung?<br />

Ist schon das Jude-Sein Jesu ein empfindlicher<br />

Stachel im Fleisch der palästinensischen Christen,<br />

so muss die Tatsache, dass der größere Teil<br />

ihrer Heiligen Schrift vom Ursprung her ein jüdisches<br />

Buch ist, eine regelrechte Anfechtung bedeuten.<br />

Mitri Raheb spricht in seinen insgesamt<br />

recht ausgewogenen Ausführungen zu einer<br />

„Bibelauslegung im israelisch- palästinensischen<br />

Kontext“ 12 von einem „Entfremdungsprozess“<br />

zwischen ihm und seiner Bibel, der sich während<br />

seines Studiums in Deutschland vollzogen habe.<br />

Hier begegnete er einer Holocaust-Theologie, die<br />

erstmals Ernst machte mit der doppelten Nachgeschichte<br />

des sog. Alten Testaments. Wieder<br />

zurück im Nahen Osten begegnete er offenbar<br />

aber auch christlichen Zionisten und jüdischen<br />

Siedlern, die die Bibel für ihre politischen Zwecke<br />

instrumentalisierten und Gebietsansprüche<br />

damit rechtfertigen wollten. Spätestens hier regte<br />

sich sein Widerstand. Er wollte die Bibel seiner<br />

Kindheit nicht so kampflos seinen politischen<br />

Gegnern überlassen und entwickelte eine eigene<br />

Hermeneutik, die versucht, dem spezifisch palästinensischen<br />

Kontext Rechnung zu tragen. Diese<br />

Hermeneutik, die ausdrücklich auch das Erste<br />

Testament gleichberechtigt zu Wort kommen<br />

lässt, sieht die Bibel als ein „Buch von Verfolgten“.<br />

Doch darf er sich deshalb anmaßen zu sagen:<br />

„In Wirklichkeit waren es unsere Vorfahren, die<br />

die Bibel geschrieben haben“? 13 Die Bibel ist, von<br />

wenigen Ausnahmen vielleicht abgesehen, als<br />

Buch von Juden für Juden geschrieben worden,<br />

nicht aber von Palästinensern.<br />

Mitri Rahebs Weggefährte Naim S. Ateek spricht<br />

zwar auch davon, dass er das Alte Testament wert<br />

schätze, weil es den „Hintergrund“ seines Glaubens<br />

darstelle. Aber an seiner Autorität macht<br />

er doch erhebliche Abstriche: Mehr als eine unverbindliche<br />

„Vorfassung“ ist die Hebräische<br />

Bibel für ihn nicht. Seine Aussagen kommen nur<br />

dann zum Tragen, wenn sie mit der „Christus-<br />

Sicht“ des Neuen Testaments korrespondieren.<br />

Wo dies nicht der Fall ist, handle es sich nach<br />

Ateek um „ungefähre, vorläufige Positionen, die<br />

nicht als verbindlich gelten“. 14<br />

Diesem eklektischen Umgang mit der Bibel, den<br />

er ganz offen als „Ent-Zionisierung“ propagiert,<br />

fällt vor allem die Tora zum Opfer. Die fünf<br />

Bücher Mose sind für ihn „Geschichte, aber ...<br />

nicht bindende Theologie“. Es ist vor allem<br />

der angebliche Exklusivismus, der ihn an den<br />

Schriften des Pentateuch stört. Die Tora kenne<br />

„nur zwei Modelle des Umgangs mit den einheimischen<br />

Völkern: Vertreibung oder Vernichtung“.<br />

15 Mit Verachtung spricht er von ihrem<br />

Nationalismus, ihrer Bigotterie und ihrem Stammesdenken.<br />

16 Positiv anknüpfen könne er als<br />

Christ angeblich nur bei den alttestamentlichen<br />

Propheten, die bereits eine langsame Entwicklung<br />

hin zu einem universalistischen Verständnis<br />

Gottes durchgemacht hätten.<br />

Diese „Prophetenanschlusstheologie“ (Klaus<br />

Koch) ist noch immer im Denkschema Verheißung-Erfüllung<br />

befangen. Das Alte Testament<br />

ist ein veraltetes Testament, das seine Bedeutung<br />

nur vom Neuen Testament her erhält: Von diesem<br />

korrigiert, überboten oder vollendet. Doch erstens<br />

wäre es eine Verkürzung der Hebräischen<br />

Bibel, sie auf den Aspekt der Verheißungen reduzieren<br />

zu wollen. Sie enthält auch Trost, Mahnung,<br />

Lob, Weisung, Klage und vieles andere<br />

mehr. Zweitens kommen einige Verheißungen<br />

durchaus bereits innerhalb des Alten Testaments<br />

zu ihrem Ziel. So erfüllt sich das Versprechen gegenüber<br />

den Ahnvätern, einmal zu einem großen<br />

Volk zu werden, bereits während der Knechtschaft<br />

in Ägypten. Drittens sollten Christen<br />

realistisch genug sein anzuerkennen, dass die<br />

meisten eschatologischen Verheißungen noch<br />

keineswegs Realität geworden sind. Auch nach<br />

dem Kommen Christi führen die Völker Krieg<br />

gegeneinander und das Kind spielt noch immer<br />

nicht am Loch der Otter. Nein, das Entscheidende<br />

steht noch aus, das Neue Testament hat das<br />

Alte Testament weniger erfüllt, als bestätigt. Das<br />

Evangelium setzt die Schriften des Alten Bundes<br />

neu in Kraft. So jedenfalls verstehe ich meine<br />

Bibel.<br />

Anders die Sicht von Bishara Awad, Dozent am<br />

Bethlehem Bible College und Bruder des bereits<br />

erwähnten Alex Awad. Nach seiner Überzeugung<br />

kam im Alten Testament die göttliche Offenbarung<br />

nur als „Schatten, Vorabbild und Prophezeiung,“<br />

17 im Neuen Testament hingegen als<br />

„Realität, Substanz und Erfüllung.” 18 Das erinnert<br />

sehr an die „Abschattungen“ und „Vorausdarstellungen“,<br />

die auch Gerhard von Rad in<br />

Blick auf die hebräische Bibel gesehen hat. Bei<br />

dieser Kombination von Entsprechung und Steigerung<br />

zwischen den beiden Testamenten, die<br />

eigentlich der Hermeneutik einer vergangenen<br />

Generation angehört, kann es nicht verwundern,<br />

wenn Awad zu dem Schluss kommt, dass der<br />

neue Bund den alten aufhebt, schlicht annulliert. 20<br />

Hier ist Mitri Raheb deutlich weiter, wenn er das<br />

betont: „Das Alte Testament und das Neue Testament<br />

sind eine Einheit.“ 21 In gewisser Nähe zu<br />

10<br />

Vgl. zu diesem Themenkomplex S. Meißner: Sind die Palästinenser<br />

die wahren Juden? – Mitri Raheb, Shlomo Sand<br />

und der Chasarenmythos, <strong>Begegnungen</strong>2/2012, S. 21ff.<br />

11<br />

Through the Eyes of the Victims, http://www.alexawad.org/<br />

download/VICTIMSE.PDF, S.78.<br />

12<br />

Christ und Palästinenser, S. 90ff.<br />

13<br />

Siehe Fußnote.7.<br />

14<br />

A.a.O., S. 90<br />

15<br />

A.a.O., S.97.<br />

18<br />

A.a.O., S.96.<br />

17<br />

„shadow, image, and prophecy”; http://www.sabeelskandinavien.org/<br />

index.php?option=com_content&view=article&id=100&Itemid=113.<br />

18<br />

„reality, substance, and fulfillment”; ebd.<br />

19<br />

Verkündigung und Forschung, 1940, S.64.<br />

20<br />

Ebd.<br />

21<br />

A.a.O., S.99.<br />

Nein, das Entscheidende steht noch aus,<br />

das Neue Testament hat das Alte Testament<br />

weniger erfüllt, als bestätigt.<br />

Das Evangelium setzt die Schriften des<br />

Alten Bundes neu in Kraft.<br />

Seite 26 — PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS?


Bonhoeffer, der die Weltlichkeit des Alten Testaments<br />

durchaus schätzte, meint der Bethlehemer<br />

Pfarrer, dieses könne uns in besonderer Weise<br />

„die soziopolitische Bezogenheit des Glaubens<br />

deutlich machen.“ 22<br />

Das Kairos-Dokument ist gegenüber dem Ersten<br />

Testament zwar nicht ganz so abwertend wie<br />

Bishara Awad, es betont aber doch auch die die<br />

Diskontinuität zwischen den beiden Teilen der<br />

Bibel: Jesus habe „eine neue Lehre“ (Mk 1,27)<br />

gebracht, die „ein neues Licht“ auf das Alte Testament<br />

werfe (2-2-2). Mit dieser Relativierung des<br />

Alten durch das Neue Testament werden nun<br />

auch „Themen wie die Verheißungen, die Erwählung,<br />

das Volk Gottes und das Land“ abgeschwächt<br />

– um nicht zu sagen: zur Disposition<br />

gestellt. Es gehe weniger darum, „was Gott in der<br />

fernen Vergangenheit gesagt haben mag“, sondern<br />

es komme darauf an, „was Gott uns hier und<br />

heute sagt“. Was Gott hier und heute sagt, ist offenbar<br />

stets das, was der eigenen Sache nützt. Wer<br />

auf dem bleibenden Wert des Alten Testaments<br />

besteht, wird als Fundamentalist gebrandmarkt,<br />

der aus Gottes lebendigem Wort einen „toten<br />

Buchstaben“ macht. Dabei wird die westliche<br />

Holocaust-Theologie mit dem naiven Biblizismus<br />

radikaler jüdischer Siedler in Eins gesetzt. Raheb<br />

und Ateek – beide haben im Westen Theologie<br />

studiert - sollten es eigentlich besser wissen!<br />

Diese Schere im Kopf, der große Teile des Alten<br />

Testaments zum Opfer fallen und die einen quasi<br />

judenfreien Bibelkanon zur Folge hat, erinnert in<br />

mancher Hinsicht an Marcion. Dessen Haltung<br />

entspringt einem gnostischen Dualismus, für<br />

den der Gott des Alten Bundes ein grausamer<br />

Demiurg ist. Bishara Awad ist kein Gnostiker,<br />

aber auch er löst die dialektische Spannung von<br />

Gesetz und Evangelium einseitig zuungunsten<br />

des ersteren auf. Seine Hermeneutik des Alten<br />

Testaments ist zumindest anfällig für eine Lesart<br />

der Bibel, deren Opfer in der Geschichte mehr als<br />

einmal die Juden wurden.<br />

Erwählung – eine rassistische Kampflehre?<br />

Wenn Jesus kein Jude, sondern Palästinenser war,<br />

wenn die Palästinenser die wahren Juden sind und<br />

die Hebräische Bibel nur eine unverbindliche<br />

Vorgeschichte zum Neuen Testament ist, - Sie<br />

ahnen es bereits - dann kann es auch keine<br />

bleibende Erwählung des jüdischen Volkes geben.<br />

Jedenfalls keine, an der nicht auch die Palästinenser<br />

Anteil hätten.<br />

Tatsächlich meinte der katholische Erzbischof<br />

von Israel Elias Chacour jüngst: „Wir glauben<br />

nicht mehr, dass die Juden das erwählte Volk<br />

sind“. 24 Auch der melekitische Erzbischof<br />

Cyrille Bustros, kein Palästinenser, sondern ein<br />

Libanese, äußerte sich in diese Richtung: „Es<br />

gibt kein erwähltes Volk mehr – alle Männer und<br />

Frauen aus allen Ländern sind das erwählte Volk<br />

geworden.“ 25 Ähnlich klingt es auch beim Führer<br />

der koptischen Kirche in Ägypten, Papst<br />

Shenouda III., der erklärte: „Die modernen<br />

Juden sind nicht das auserwählte Volk Gottes“.<br />

Fast alle Vertreter der orientalischen Kirchen<br />

scheinen sich hier einig zu sein.<br />

Interessant sind bei diesen Verlautbarungen die<br />

kleinen Füllwörter: Die modernen Juden sind<br />

nicht mehr das erwählte Volk. Waren sie es einmal<br />

in der Vergangenheit? Offenbar gab es einmal<br />

Juden, die erwählt waren. Aber – so darf man<br />

wohl ergänzen – sie haben diese Erwählung<br />

durch ihren Unglauben Christus gegenüber<br />

verspielt. Jetzt sind die Christen das neue Gottesvolk,<br />

das alte Israel hat ausgedient. Das ist theologisch<br />

die gleiche Enterbungstheologie, die uns<br />

bereits oben im Zusammenhang mit den Palästinensern<br />

als den wahren Juden begegnete. Auch<br />

dort wurde der Begriff des Juden so erweitert,<br />

dass ein Christ aus Bethlehem, Bet Jala oder<br />

Ostjerusalem sich problemlos als Erbe des Alten<br />

Bundes ansehen kann. Wer ist auch schon gerne<br />

Gottes zweite Wahl?<br />

Auch das Kairos-Papier fordert, die Bedeutung<br />

der Verheißungen, des Landes, der Erwählung<br />

und des Volkes Gottes“ so zu erweitern, dass sie<br />

die ganze Menschheit mit einschließt (2-3). Ob<br />

die heutigen Juden erwählt bleiben, bleibt hier<br />

offen. Zumindest gehen sie ihrer besonderen Erwählungsprärogative<br />

verlustig, die der Apostel<br />

Paulus in Röm 9,4f. noch als bleibende Kennzeichen<br />

seiner „Stammverwandten“ festhielt:<br />

Ihnen gehören die Kindschaft, die Herrlichkeit,<br />

die Bundesschlüsse, das Gesetz, der Gottesdienst,<br />

die Verheißungen, sowie die Väter, „aus denen<br />

Christus herkommt nach dem Fleisch.“ Das alles<br />

wird ihnen von den palästinensischen Theologen<br />

abgesprochen, bzw. sie müssen es zumindest mit<br />

dem Rest der Menschheit teilen.<br />

Schon sprachlich erscheint mir die Rede von einer<br />

Erwählung der ganzen Menschheit irreführend<br />

zu sein. Wählen bedeutet doch aus verschiedenen<br />

Möglichkeiten eine auszusuchen. Wenn aber alle<br />

Menschen erwählt sind, dann ist niemand<br />

erwählt. Alttestamentlich jedenfalls bedeutet<br />

Erwählung nach Rolf Rendtorff eine „besondere<br />

Zuwendung Gottes zu dem einen Volk Israel“.<br />

Es geht also nicht um eine Erwählung aller<br />

Völker, sondern um die Erwählung Israels „aus<br />

allen Völkern“ (Dtn 7,6). Das macht – wie ich<br />

finde – einen gewissen Unterschied.<br />

Wie nun: Haben die Juden etwa ein Privileg,<br />

auf die sie sich etwas einbilden können? Bedeutet<br />

eine solche Erwählung nicht, wie Marc<br />

Braverman argwöhnt, „die Rückkehr zu einem<br />

archaischen Gottesbild, zu einem Gott, der sich<br />

an einen bestimmten geografischen Ort bindet<br />

und einem bestimmten Volk den Vorzug gibt“?<br />

Handelt es sich gar, wie man immer wieder zu<br />

lesen bekommt, um eine „rassistische Kampflehre“ ?<br />

In diese Richtung gehen die Hasstiraden des in<br />

die USA emigrierten Palästinensers Elias Akleh.<br />

Auf die Frage, warum die Juden so oft in der<br />

Geschichte Verfolgung durch andere Völker<br />

erleiden mussten, hat er eine ganz einfache Antwort:<br />

Die antijüdischen Gefühle kommen her<br />

„von der jüdischen Haltung anderen gegenüber.<br />

Ihr Glaube, Gottes erwähltes Volk zu sein, bestärkt<br />

sie in dem Glauben, sich selbst als globale<br />

Herrenrasse anzusehen, sich selbst zurückzuziehen<br />

in geschützten Gemeinschaften (Ghettos),<br />

weg von allen unreinen Völkern, auf andere<br />

Völker herab zu schauen und die anderen als<br />

Sklaven oder Tiere anzusehen, deren einzige<br />

Existenz darin besteht, den Juden zu dienen.“ 27<br />

Spätestens an diesem Beispiel ist die Grenze<br />

zum offenen Antisemitismus überschritten. Die<br />

„Argumente“ Aklehs unterscheiden sich in nichts<br />

mehr von dem, was die Propagandamaschinerie<br />

der Nationalsozialisten zum Thema Erwählung<br />

zu sagen hatte. Eine inhaltliche Auseinandersetzung<br />

mit diesen Stereotypen würde sich<br />

eigentlich erübrigen, würden sie nicht in abgemilderter<br />

Form immer wieder neu belebt.<br />

Zum Glück gibt es unter den palästinensischen<br />

Christen auch zurückhaltendere Stimmen. Zwar<br />

warnt auch Mitri Raheb vor einer Objektivierung<br />

von Erwählung, die aus einem Glaubenssatz ein<br />

Dogma, eine Ideologie macht. Auch er meint, Israel<br />

dürfe aufgrund dieser biblischen Denkfigur<br />

keine Sonderrechte für sich beanspruchen und er<br />

beklagt sich über die jüdischen Einwanderer, die<br />

um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert den<br />

Palästinensern mit der „Überheblichkeit von<br />

Kolonialisten“ gegenüber getreten sind. 28 Aber es<br />

klingt (zumindest im Vergleich zu dem zuvor<br />

Gehörten) wohltuend sachlich, wenn er festhält:<br />

„Der Glaube an die Erwählung Israels und die<br />

Befreiung der Palästinenser müssen sich (...)<br />

nicht widersprechen.“ 29 Anders als etwa Alex<br />

Awad, der aufgrund des moralischen Versagens<br />

der heutigen Juden diesen abspricht, weiter Volk<br />

Gottes zu sein, schließt Raheb aufgrund von<br />

Römer 11,17-25: „Diese Treue Gottes kennt<br />

keine Grenzen. Auch nicht die des Unglaubens<br />

Israels.“ 30<br />

Hier macht Mitri Raheb erfreulicherweise keine<br />

Abstriche an der Einsicht des Paulus, dass am<br />

Ende, wenn der Erlöser im Zion kommen wird,<br />

„ganz Israel“ gerettet werden wird. Das ist die<br />

Pointe des Ölbaumgleichnisses, das die Heiden vor<br />

Überheblichkeit warnen soll und ihnen vor Augen<br />

führt: Ihr seid „nur“ ein wilder Zweig, der<br />

von der edlen Wurzel, dem biblischen Israel her,<br />

sein Kraft bezieht.<br />

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt<br />

dich“ (11,18).<br />

22<br />

Ebd.<br />

23<br />

Vgl. dazu F. Crüsemann: Das Alte Testament als Wahrheitsraum<br />

des Neuen, v.a. Kap.1<br />

24<br />

www.juedische-allgemeine.de/article/print/id/12731.<br />

25<br />

http://rt.com/politics/vatican-israel-palestinians-catholic/.<br />

26<br />

R. Rendtorff, Theologie des Alten Testaments Bd. 1, S. 27. Ähnlich<br />

H.J: Hermisson: Altes Testament, Neukirchen 1983, S. 236.<br />

27<br />

Israeli Myths, Part II, http://ziomania.com/articles2010/09/<br />

Israeli%20Myths-%20Part%20II.htm<br />

Seite 28 — PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? — Seite 29


Die palästinensischen Autoren heben zumeist<br />

nur darauf ab, dass der heilsgeschichtliche Fokus<br />

sich durch das Kommen Christi geweitet hat und<br />

nun auch die Heidenvölker mit einschließt. Sie<br />

ersparen ihrer Klientel aber die andere, nicht<br />

minder wichtige Seite der Medaille: dass die Juden<br />

weiter das erstberufene Volk Gottes bleiben<br />

und wir Christen „nur“ gnadenhalber in diese<br />

Verheißungsgeschichte hineingenommen sind.<br />

Wir sind die jüngere der beiden Geschwisterreligionen,<br />

deren gemeinsame Mutter das biblische<br />

Israel ist.<br />

Erwählung, da hat Raheb sicher Recht, ist immer<br />

eine unverfügbare Tat Gottes, die sich Israel mit<br />

nichts verdient hat.<br />

„Nicht hat euch der HERR angenommen und<br />

euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker -<br />

denn du bist das kleinste unter allen Völkern -,<br />

sondern weil er euch geliebt hat und damit<br />

er seinen Eid hielte, den er euren Vätern<br />

geschworen hat“ (Dtn 7,7).<br />

Erwählung kann man sich nicht verdienen, deshalb<br />

kann man sie aber auch nicht verwirken.<br />

Den letzten der beiden Halbsätze hört man bei<br />

palästinensischen Autoren zu selten. Die Tatsache,<br />

dass das Verhältnis zwischen Christen und<br />

Juden ein asymmetrisches ist, will man nicht<br />

sehen. Wir sind bei unserer Selbstdefinition sehr<br />

wohl auf das Judentum angewiesen sind, umgekehrt<br />

aber die Juden nicht auf uns.<br />

Die Spannung zwischen partikularistischen und<br />

universalistischen Aussagen darf nicht einseitig<br />

aufgehoben werden, wie das bei vielen Autoren<br />

aus dem palästinensischen Kontext geschieht.<br />

Beide ergänzen einander und sind unverzichtbar<br />

für den Heilsplan Gottes mit der Welt. Nur ein<br />

Israel, das seine Sonderexistenz inmitten der<br />

Völkerwelt bewahrt, sich also nicht assimiliert, ist<br />

in der Lage, „Licht für die Völker“ zu sein, d. h.<br />

den Gott Israels in der Welt bekannt zu machen.<br />

So entspringt die Lehre von der Erwählung<br />

Israels keinem archaischen „Stammesdenken“,<br />

sondern sie enthält, wie Emil Fackenheim richtig<br />

gesehen hat, „ein ‚universales‘ als auch ein ‚partikulares‘<br />

Element“. 31 Sie begründet auch „keinen<br />

Triumphalismus, sondern sie wird im Gegenteil<br />

oft sogar als „eine besondere Verantwortung und<br />

Die Erwählung Israels besteht genau darin,<br />

das Bewusstsein der Partikularität jeder Universalität wach zu halten. Nur so kann sicher gestellt werden,<br />

dass Allgemeingültigkeit nicht auf Kosten des Einzelnen und seines Anders-Seins geht.<br />

Bürde“ verstanden. 32 So flehten Juden nicht<br />

selten angesichts dieser Herausforderung: „Bitte<br />

Gott, wenn Du ein Volk wählen musst, wähle ein<br />

anderes!“ 33<br />

Vielleicht sehen wir heute mit einer gewissen<br />

Distanz zu dem, was man Moderne nennt, besser<br />

als noch vor ein paar Jahren, dass der ‚reine‘ Universalismus,<br />

den das palästinensische Christentum<br />

so gerne propagiert, nicht nur unbiblisch ist,<br />

sondern auch ein gefährliches Gewaltpotential<br />

birgt. Es war der jüdische Philosoph Emanuel<br />

Levinas, der nicht müde wurde, entgegen einem<br />

weit verbreiteten „modernistischen Vorurteil“ 34<br />

zu betonen: Universalität muss dem Einzelnen,<br />

dem Singulären, gerecht werden, um nicht<br />

gewalttätig zu werden. Die Erwählung Israels<br />

besteht genau darin, das Bewusstsein der Partikularität<br />

jeder Universalität wach zu halten. Nur<br />

so kann sicher gestellt werden, dass Allgemeingültigkeit<br />

nicht auf Kosten des Einzelnen und<br />

seines Anders-Seins geht.<br />

Zusammenfassung und Ausblick<br />

Anhand von vier Themenkomplexen habe ich<br />

versucht, Ihnen Einblicke zu ermöglichen in die<br />

sog. palästinensische Befreiungstheologie, die,<br />

wie wir gesehen haben, alles andere als eine einheitliche<br />

Größe ist. Wenn man sich den konfessionellen<br />

Hintergrund der behandelten Autoren<br />

vor Augen führt, kann das auch kaum anders<br />

sein: Das Spektrum reicht von den klassischen<br />

orientalischen Kirchen (Papst Shenouda III),<br />

über den Katholizismus (Elias Chacour) und die<br />

protestantischen Kirchen (Mitri Raheb, Naim S.<br />

Ateek) bis hin zum evangelikal-pfingstlerischen<br />

Lager (Alex und Bishara Awad).<br />

Was sich aber bei aller Vielstimmigkeit doch bei<br />

allen Vertretern beobachten lässt, sind Anleihen<br />

an die christliche Enterbungslehre. Sie zeigen sich<br />

daran, dass man Jesus zu einem Palästinenser umzudeuten<br />

versucht. Manche sehen in ihm – dabei<br />

vermutlich beeinflusst von einem militant-islamischen<br />

Umfeld – einen gekreuzigten Märtyrer<br />

(Shahid), dem nachzueifern den Gläubigen als<br />

Vorbild hingestellt wird. Aus dem Repertoire des<br />

klassischen Antijudaismus stammt zweitens auch<br />

der Versuch, sich selbst, in Opposition und<br />

Abgrenzung zu den heutigen Juden, als das neue<br />

Gottesvolk darzustellen. Vollends problematisch<br />

wird dieses Unterfangen, wenn man sich dabei<br />

nicht nur als ‚geistlichen‘, sondern auch als<br />

‚tatsächlichen‘, d. h. rassischen Erben des Judentums<br />

sieht. An dritter Stelle habe ich die Bibelhermeneutik<br />

der palästinensische Befreiungstheologie<br />

unter die Lupe genommen. Hier<br />

kommt es nicht nur zu einer naiven Vereinnahmung<br />

der Hebrä ischen Bibel zum Zweck der<br />

eigenen Identitätsfindung, sondern es wird auch<br />

ein Keil zwischen Altes und Neues Testament<br />

getrieben, so dass das Alte Testament nicht mehr<br />

als vollgültige Heilige Schrift, sondern nur noch<br />

als unverbindliche Vorfassung erscheint. Diese<br />

Vorfassung wird dann als Steinbruch missbraucht,<br />

aus dem man sich dann genau die<br />

Brocken heraussucht, die einem argumentativ<br />

„in den Kram“ passen. Am Schluss haben wir<br />

gesehen, wie auch beim Thema der Erwählung<br />

Israels die Diskontinuität zwischen dem biblischen<br />

Israel und dem heutigen Judentum hervorgekehrt<br />

wird. Mit der Rede von der „Erwählung<br />

aller Menschen“ wird einem reinen<br />

Universalismus das Wort geredet, der, wie ich zu<br />

zeigen versucht habe, nicht nur unbiblisch,<br />

sondern auch potentiell gewalttätig ist.<br />

Alles in allem wird man also zu dem Schluss<br />

kommen müssen, dass die palästinensische Befreiungstheologie<br />

ihre Ziele zumindest partiell<br />

„auf Kosten Israels“ verfolgt. Auch die menschlichen<br />

Tragödien, die sich unter israelischer<br />

Besatzung abspielen und die ich gewiss nicht<br />

beschönigen will, rechtfertigen nicht, dass man<br />

auf Argumentationsmuster zurückgreift, von<br />

denen man heute weiß, dass sie mitgeholfen haben,<br />

Auschwitz zu ermöglichen. Wenn es wirklich<br />

unser aller Überzeugung ist, dass solches nie<br />

28<br />

A.a.O., 111.<br />

29<br />

A.a.O., 112.<br />

30<br />

A.a.O., 108.<br />

31<br />

Was ist Judentum? Eine Deutung für die Gegenwart,<br />

Berlin 1999, S.97.<br />

32<br />

M. Weinrich: Sind die Juden das auserwählte Volk?; in:<br />

Ich glaube an den Gott Israels, Gütersloh 1998, S.96.<br />

33<br />

E. L.Fackenheim: Was ist Judentum?, S. 98.<br />

34<br />

A.a.O., S.95.<br />

PALÄSTINENSISCHE BEFREIUNGSTHEOLOGIE AUF KOSTEN ISRAELS? — Seite 31


wieder geschehen darf, muss sich das Christentum<br />

einer steten Selbstprüfung unterziehen. Von<br />

dieser Selbstprüfung sehe ich - gerade im palästinensischen<br />

Kontext - bislang noch zu wenig.<br />

Diese Befreiungstheologie geht „auf Kosten<br />

Israels“, weil sie dazu beiträgt, den Staat Israel<br />

ideologisch zu delegitimieren. Sie gießt mit antijüdischen<br />

Stereotypen zusätzliches Öl in ein<br />

ohne hin schon lichterloh brennendes Feuer. Die<br />

überschrillen Töne dienen nicht zuletzt dazu, in<br />

einem immer militanter werdenden islamischen<br />

Kontext überhaupt noch Gehör zu finden. Indem<br />

man ‚die Juden‘ zum gemeinsamen Feind stempelt,<br />

bemüht man sich um einen Schulterschluss<br />

mit der muslimischen Mehrheitsgesellschaft.<br />

Doch im Endeffekt geht diese Strategie auf<br />

Kosten aller Menschen in der Region, auf beiden<br />

Seiten der festgefahrenen Fronten. Die Folgen eines<br />

durch religiöse Propaganda weiter angeheizten<br />

Konfliktes wird zu einem guten Teil die palästinensische<br />

Zivilbevölkerung zu tragen haben.<br />

„Auf Kosten Israels“ heißt auch auf Kosten von<br />

Juden in anderen Teilen der Welt. Die Eskalation<br />

der Gewalt im Heiligen Land verschärft auch die<br />

ohnehin angespannte Sicherheitslage der Juden<br />

in Deutschland. Das Spektrum reicht von verbalen<br />

Pöbeleien auf der Straße, über Sachbeschädigungen<br />

bei jüdischen Einrichtungen bis hin zu<br />

offenen gewalttätigen Angriffen auf Leib und<br />

Leben der hier lebenden Menschen. Hier sehe<br />

ich es als unsere Pflicht an, als Kirchenvertreter<br />

deeskalierend zu wirken und nicht zusätzlich<br />

antijüdischen Zerrbildern Raum zu geben.<br />

Die palästinensische Befreiungstheologie geht<br />

schließlich auch auf unsere eigenen Kosten: Die<br />

ständige Agitation kirchlicher Gruppierungen,<br />

die sich die palästinensische Sache auf die Fahne<br />

geschrieben haben, führt auch in Deutschland<br />

dazu, dass Denkweisen wieder hoffähig werden,<br />

die ich eigentlich bereits überwunden geglaubt<br />

hatte. Damit sickern antijüdische Ressentiment<br />

bis weit in den kirchlichen Mainstream ein – ein<br />

Trend, den auch der jüngste Antisemitismusbericht<br />

der Bundesregierung festgestellt hat.<br />

Was das für unser Gespräch mit dem Judentum<br />

bedeutet, das gemessen an den Jahrhunderten<br />

des Aneinandervorbei-Redens noch ein ganz<br />

zartes, verletzliches Pflänzchen ist, ist heute noch<br />

nicht abzusehen. Es wird künftig sicher nicht<br />

leichter werden, Kontakte mit jüdischen Dialog-<br />

partnern herzustellen, wenn diese aus unseren<br />

Kreisen Schlagworte wie Apartheid, Genozid<br />

oder Boykott hören. Erste besorgte Reaktionen<br />

lassen erkennen, welches Porzellan hier bereits<br />

zerbrochen wurde. Ähnlich wie für Yehiel<br />

Poupko geht für viele von ihnen gerade eine<br />

Etappe der Kirchengeschichte zu Ende: eine<br />

Etappe der Buße, der Umkehr und es Neubeginns.<br />

Ob es wirklich so schlimm kommt, oder<br />

ob wir diesen Trend vielleicht doch noch einmal<br />

umkehren können, hängt auch an unserem Umgang<br />

mit der palästinensischen Befreiungstheologie.<br />

Der Aufsatz stellt die leicht überarbeitete Fassung eines Vortrages<br />

vom 5. Juni 2012 dar, der für die Christlich - Jüdische<br />

Arbeitsgemeinschaft des Saarlandes e. V. und die Evangelische<br />

Akademie im Saarland gehalten wurde.<br />

Dr. Stefan Meißner ist Vorsitzender des landeskirchlichen<br />

Arbeitskreises „Kirche und Judentum“ der Evangelischen Kirche<br />

der Pfalz. stefanmeissner@gmx.net<br />

Doch im Endeffekt geht diese Strategie<br />

auf Kosten aller Menschen in der Region,<br />

auf beiden Seiten der festgefahrenen Fronten.


Der Begriff „Lehrhaus“ kommt aus dem jüdischen Kontext<br />

und bezeichnet eine religiöse Schule für Erwachsene.<br />

Die Geschichte der Institution Jüdisches Lehrhaus<br />

reicht bis in die Antike zurück.<br />

Michael Volkmann<br />

Die Lehrhausbewegung<br />

Der Begriff „Lehrhaus“ kommt aus dem jüdischen<br />

Kontext und bezeichnet eine religiöse<br />

Schule für Erwachsene. Die Geschichte der<br />

Institution Jüdisches Lehrhaus reicht bis in die<br />

Antike zurück. Sie hat im 20. Jahrhundert eine<br />

neue, zeitenweise dramatische Wendung genommen.<br />

Darum wende ich mich im Folgenden<br />

beiden Richtungen zu: dem Blick zurück in die<br />

Geschichte der Institution Lehrhaus und dem<br />

Blick auf uns und nach vorn.<br />

Der aktuelle Ausgangspunkt:<br />

die Entstehung des Stuttgarter Lehrhauses<br />

Am 7. Februar 2010 wurde das „Stuttgarter Lehrhaus.<br />

Stiftung für interreligiösen Dialog“ feierlich<br />

eröffnet. Mit ihrer Namenswahl „Lehrhaus“ stellt<br />

sich diese Einrichtung in eine alte Tradition, die<br />

beständig erneuert und verändert wird. Mit dem<br />

„interreligiösen Dialog“ stellt sie sich einer Aufgabe,<br />

deren Bedeutung erst in den letzten Jahren<br />

einem weiteren Kreis von Menschen klar geworden<br />

ist. Im Folgenden werde ich beide Punkte,<br />

die Lehrhaus-Tradition und die Aufgabe des<br />

interreligiösen Dialogs, weiter ausführen.<br />

In Stuttgart hatte es von 1926 bis 1938 ein Jüdisches<br />

Lehrhaus gegeben. Eine ganze Reihe von<br />

Dingen musste sich ereignen, bis in Stuttgart<br />

jetzt wieder ein Lehrhaus gegründet werden<br />

konnte. Ein wesentlicher Faktor sind die Veränderungen,<br />

die durch die Öffnung Osteuropas<br />

und den Zuzug von Zweihunderttausend Juden<br />

im deutschen Judentum angestoßen wurden.<br />

Unerwartet blühte an vielen Orten jüdisches<br />

Leben auf. Die orthodoxe Einheitsgemeinde<br />

verlor ihre Monopolstellung, es gibt in Deutschland<br />

wieder konservatives und liberales Judentum,<br />

organisiert in der Union progressiver Juden.<br />

Die jüdischen Gemeinden erbringen einerseits<br />

enorme Integrationsleistungen, andererseits treten<br />

sie durch jüdische Kulturwochen und viele<br />

andere Veranstaltungen verstärkt an die nichtjüdische<br />

Öffentlichkeit. In Stuttgart, wo diese<br />

spannungsreichen Prozesse unter Wahrung der<br />

Einheit der Gemeinde vorangetrieben wurden,<br />

gründeten progressive Gemeindeglieder vor<br />

einigen Jahren den Verein „forum jüdischer<br />

bildung und kultur“ (fjbk). Der Verein möchte<br />

an die Tradition des erwähnten Jüdischen Lehrhauses<br />

Stuttgart anknüpfen.<br />

Ein zweiter Faktor ist das Gespräch zwischen<br />

Christen und Juden, das in der Evangelischen<br />

Landeskirche in Württemberg seit den 1970er<br />

Jahren im Kloster Denkendorf aufgebaut wurde.<br />

Diese Arbeit fand Anerkennung weit über unsere<br />

Landeskirche hinaus, so dass dafür eine hauptamtliche<br />

Stelle eingerichtet wurde. Seit 2003 bekleide<br />

ich diese Stelle. In Denkendorf führte ich<br />

mit einem Kollegen, der Mitglied des Islambeirats<br />

unserer Kirche war, in einer Kombination<br />

von christlich-jüdischem und christlich-islamischem<br />

Gespräch jährliche „trialogische“<br />

Veranstaltungen durch.<br />

Ein dritter Faktor ist das Projekt „Haus Abraham“,<br />

das die Christlich-islamische Gesellschaft<br />

Filderstadt in den 1990er Jahren konzipierte. Der<br />

Versuch, es zu realisieren, führte zur Gründung<br />

des Vereins „Haus Abraham“. Er wählte als<br />

seinen Sitz das Kloster Denkendorf, um den dort<br />

begonnenen „Trialog“ zu erweitern und zu vertiefen.<br />

Es wäre paradoxerweise nicht zur Gründung des<br />

Stuttgarter Lehrhauses gekommen, wenn die<br />

Landeskirche nicht beschlossen hätte, das Kloster<br />

Denkendorf zu schließen. Was uns zunächst<br />

Kummer und Kopfzerbrechen bereitete, wurde in<br />

kurzer Zeit zum Segen. Weil sowohl das „Haus<br />

Abraham“ als auch ich uns ins Zentrum, nach<br />

Stuttgart hin orientierten, beschlossen wir,<br />

gemeinsam eine neue Bleibe für unser Veranstaltungsangebot<br />

zu finden. Nun passierte das<br />

Entscheidende: Ein schwäbischer Unternehmer,<br />

der sowohl meiner Arbeit als auch dem „Haus<br />

Abraham“ nahesteht und der sehr viele jüdische,<br />

christlich-jüdische und interreligiöse Projekte in<br />

der Region Stuttgart als Mäzen fördert, gründete<br />

eine Stiftung. Er gewann das bereits erwähnte<br />

„forum jüdischer bildung und kultur“ (fjbk) als<br />

dritte Einrichtung für die Mitarbeit. Und so entstand<br />

die Idee, unser gemeinsames Projekt insgesamt<br />

in die Traditionslinie zu stellen, in der sich<br />

das fjbk bereits sah: die des Jüdischen Lehrhauses<br />

Stuttgart aus den 1920er und 1930er Jahren, nun<br />

aber in einer programmatischen Öffnung hin auf<br />

den interreligiösen Dialog zwischen den drei<br />

großen monotheistischen Religionen.<br />

Ich komme weiter unten wieder auf das Stuttgarter<br />

Lehrhaus zurück. Hier nur noch zwei kurze,<br />

das Lehrhaus charakterisierende Ergänzungen:<br />

Seite 34 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 35


Zwei Jahre nach der Eröffnung stellten zwei<br />

weitere Stuttgarter Vereine den Antrag, ins<br />

Lehrhaus aufgenommen zu werden: die Christlich-islamische<br />

Gesellschaft und die bereits 1948<br />

gegrün dete Gesellschaft für christlich-jüdische<br />

Zusammenarbeit, eine sehr angesehene Einrichtung<br />

mit mehr als vierhundert Mitgliedern.<br />

Aus diesem Anlass feierten wir im Frühjahr ein<br />

Fest mit dem Motto „Ein Haus voller Leben“.<br />

An einer Pinwand, die für Rückmeldungen und<br />

gute Wünsche vorgesehen war, brachte jemand<br />

einen Zettel an, auf dem stand, das Lehrhaus sei<br />

die wichtigste „(Vereins-?)gründung“ in Stuttgart<br />

in den vergangenen Jahren.<br />

Zur Herkunft des Begriffs „Lehrhaus“:<br />

Das traditionelle jüdische<br />

„Beit Hamidrasch“<br />

Im Babylonischen Talmud, Traktat Joma 35b,<br />

finden wir folgende Geschichte über Hillel den<br />

Älteren, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert<br />

aus Babylonien ins Land Israel kam, wo er später<br />

berühmt wurde, sich jedoch zunächst als Tagelöhner<br />

durchschlug:<br />

„Man erzählt von Hillel, dem Älteren, dass er täglich<br />

durch Arbeit einen Tropaik verdiente, von dem<br />

er die Hälfte dem Pedell des Lehrhauses gab und die<br />

andere Hälfte für seinen Unterhalt und den Unterhalt<br />

seiner Familie verwandte. Eines Tages fand er<br />

nichts zu verdienen, und der Pedell des Lehrhauses<br />

ließ ihn nicht herein; da kletterte er hinauf und setzte<br />

sich auf das Dachfenster, um die Worte des lebendigen<br />

Gottes aus dem Munde von Schemaja und Ptollion<br />

zu hören. Man erzählt, es war an einem Freitag um<br />

die Jahreswende des Tewet, und vom Himmel fiel der<br />

Schnee auf ihn nieder. Als die Morgenröte aufging,<br />

sprach Schemaja zu Ptollion: Bruder Ptollion, an<br />

jedem anderen Tage ist das Zimmer hell, heute aber<br />

ist es dunkel; ist denn der Tag so sehr wolkig? Als sie<br />

hinaufschauten und die Gestalt eines Menschen im<br />

Dachfenster bemerkten, stiegen sie hinauf und fanden<br />

ihn drei Ellen hoch mit Schnee bedeckt. Da holten sie<br />

ihn hervor, wuschen und schmierten ihn und setzten<br />

ihn gegen das Feuer, indem sie sagten, er verdiene<br />

es, dass man seinetwegen den Schabbat entweihe.“ 1<br />

Was lernen wir aus dieser Geschichte? Das Lehrhaus<br />

soll ein Ort sein, an dem die Menschen auftauen.<br />

Wenn dies schon für das Jüdische Lehrhaus<br />

gilt, um wie viel mehr für ein interreligiöses!<br />

Aber Spaß beiseite: Das Lehrhaus kann ein Ort<br />

sein, den Menschen sehr zu schätzen wissen.<br />

Hillel gibt die Hälfte seines Geldes dafür aus, im<br />

Lehrhaus mit dabei zu sein. Mehr noch: als es<br />

einmal nicht reicht, riskiert er gar sein Leben, um<br />

in einer kalten Winternacht durchs Dachfenster<br />

mitzuhören, was im Haus gesprochen wird. Und<br />

dann das Wichtigste: das Lehrhaus ist ein Ort, an<br />

dem aus dem Munde der Gelehrten Worte des<br />

lebendigen Gottes zu hören sind. Und zu diesen<br />

gehört es, am Sabbat Feuer zu machen, um ein<br />

Menschenleben zu retten.<br />

Dies ist der Grund, warum Rabbi Levi bar Chija<br />

im Traktat Berachot 64a sagen kann:<br />

„Wer das Bethaus [die Synagoge] verlässt und in<br />

das Lehrhaus geht und sich da mit der Tora befasst,<br />

dem ist es beschieden, das Antlitz der Göttlichkeit<br />

zu empfangen, denn es heißt [Psalm<br />

84,8]: ‚sie gehen von einer Kraft zur anderen und<br />

schauen den wahren Gott in Zion‘.“<br />

Die eine Kraft, das Bethaus, und die andere Kraft,<br />

das Lehrhaus, sind bereits in der Antike voll ausgebildete<br />

religiöse Institutionen des Judentums.<br />

Früheste bekannte Quellen stammen aus dem<br />

2. Jahrhundert v. Chr. Möglicherweise reichen<br />

die Ursprünge beider, der Synagoge und des Lehrhauses,<br />

zurück bis in die Zeit des babylonischen<br />

Exils im 6. vorchristlichen Jahrhundert, als die<br />

mit der Tempelzerstörung verloren gegangene<br />

Sühnewirkung der Opfer durch Lesungen, Gebete,<br />

Gesänge und den praktischen Vollzug der<br />

Umkehr „aufgewogen werden“ musste 2 . Als dann<br />

nach siebzig Jahren Exil der zweite Tempel<br />

geweiht wurde, scheinen diese Vorformen von<br />

Synagoge und Lehrhaus daneben weiter existiert<br />

zu haben.<br />

Die älteste Erwähnung eines Lehrhauses für<br />

Erwachsene, hebräisch Bet Midrasch, findet sich,<br />

lange bevor es Elementarschulen für Kinder gab,<br />

in dem apokryphen Buch Jesus Sirach (auch: Ben<br />

Sira, 51,23) etwa um 200 v. Chr. in dem sogenannten<br />

Gedicht über das Suchen nach Weisheit:<br />

„So nahet euch mir, ihr Unwissenden, und in meinem<br />

Lehrhaus haltet euch auf.“ Ein Lehrhaus,<br />

das ein Weiser betreibt, scheint damals nichts<br />

Außergewöhnliches gewesen zu sein. Ben Sira<br />

wird zu den Chassidim oder Asidäern, den Frommen<br />

jener Zeit, gerechnet 3 . Diese Gruppe spaltete<br />

sich im Zuge der Makkabäerkriege auf in die asketischen<br />

Essener, die radikalen Zeloten und die<br />

gemäßigten Pharisäer.<br />

Die Pharisäer entfalteten die Kraft von Synagoge<br />

und Lehrhaus. Getreu der göttlichen Weisung<br />

„Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und<br />

ein heiliges Volk sein“ (2. Mose 19,6) heiligten sie<br />

ihren Alltag mit der höchsten, der priesterlichen<br />

Stufe von Heiligkeit und ritueller Reinheit und<br />

lehrten das jüdische Volk, es ihnen gleichzutun.<br />

Die wenige Tausend Pharisäer bildeten eine<br />

religiös motivierte Genossenschaft, waren eine<br />

werbende Volksbildungsbewegung und stellten<br />

zugleich im Parlament, dem Hohen Rat, die<br />

Opposition gegen die herrschende konservative<br />

Priesterpartei der Sadduzäer.<br />

Die Kraft der pharisäischen Volksbildungsbewegung<br />

machte die Juden in ihrer großen Mehrheit<br />

unempfänglich für die Predigt der Jesusbewegung,<br />

die der pharisäischen überaus nahe stand.<br />

Und sie machte das jüdische Volk geistig widerstands-<br />

und überlebensfähig in den Kriegen gegen<br />

Rom und dem diesen nachfolgenden langen<br />

und großen Exil.<br />

Der große israelische Pädagoge Ernst Simon<br />

schreibt:<br />

„Ich betrachte … das Religionsgesetz,<br />

die sogenannte Halacha oder den jüdischen Lebensweg,<br />

als jenes zentrale Element, das Israel sowohl von allen<br />

anderen Nationen wie von allen anderen Religionen<br />

qualitativ unterscheidet.“ 4<br />

Die Halacha war das Werk der Pharisäer und<br />

ihrer Nachfolger, der Rabbinen. In ihren Gelehrtendiskussionen<br />

im Lehrhaus schufen sie durch<br />

Kommentierung und Aktualisierung der biblischen<br />

Gebote die sogenannte mündliche Tora,<br />

die sie der schriftlichen gleichstellten und beide<br />

zusammen als am Sinai von Gott gegeben ansahen<br />

(Mischna Avot I,1). Ernst Simon sagt, auf<br />

diese Weise sei die Tora zu einem auf die Zukunft<br />

hin offenen System geworden. Sie bestimme das<br />

Leben des einzelnen und der Gemeinschaft in<br />

einer Totalität der von Gott gesetzten Werte und<br />

zugleich in einer antitotalitären Begrenzung<br />

menschlicher Macht.<br />

Die Grundlage für das geistige Überleben des<br />

jüdischen Volkes legte kurz vor der Zerstörung<br />

Judäas, Jerusalems und des Tempels der Schriftgelehrte<br />

Jochanan ben Sakkai. Ihm gelang es,<br />

von den Römern die Erlaubnis zu erwirken, ein<br />

Lehrhaus zu eröffnen. Im Lehrhaus von Jawne<br />

nahe der Küstenstadt Jaffa sammelten und ordneten<br />

er und eine Handvoll weiterer Gelehrter in<br />

öffent lichen Versammlungen die jüdische Überlieferung:<br />

die abschließende Kanonisierung der<br />

Hebräischen Bibel, die Ordnung der mündlichen<br />

Überlieferung in der Mischna, die Ordnung der<br />

Gebete und gottesdienstlichen Liturgie und die<br />

Regeln zur Auslegung der Tora und zur Anpassung<br />

der Gebote an die beständig sich verändernden<br />

Lebensverhältnisse. Seitdem brach diese sogenannte<br />

rabbinische Tradition des Lehrhauses<br />

bis heute nicht ab. „Kein Unwissender kann<br />

fromm sein“, heißt es im Mischnatraktat Avot<br />

(2,5) 5 . Darum genießt das Studium der Tora im<br />

traditionellen Judentum bis heute einen überaus<br />

hohen Stellenwert. Der in der Geschichte von<br />

Hillel erwähnte Pedell, der Türsteher, wurde um<br />

des freien Zugangs zur Lehre willen übrigens<br />

bereits in der Antike abgeschafft.<br />

Durch das Toralernen um seiner selbst willen<br />

wurde das Judentum zur „Lerngesellschaft“ 6 .<br />

Materielle Werte hatten ein geringes Ansehen.<br />

„Ich habe dich nicht zum Geldmachen erzogen“,<br />

schrieb der erboste Vater Israel Hamerschlag aus<br />

dem Prag des frühen 17. Jahrhunderts an seinen<br />

1<br />

Die Talmudzitate in der Übersetzung von Lazarus Goldschmidt,<br />

Der Babylonische Talmud, Königstein/Ts. 1980.<br />

2<br />

Hermann L. Goldschmidt, Die Botschaft des Judentums, Frankfurt<br />

am Main 1960, S. 161.<br />

3<br />

Ebenda, S. 833.<br />

4<br />

Ernst Simon, Entscheidung zum Judentum, Frankfurt am Main<br />

1980, S. 39.<br />

5<br />

Zit. nach: Simon, Entscheidung zum Judentum, S. 62.<br />

6<br />

Kurt Graff, Die jüdische Tradition und das Konzept des autonomen<br />

Lernens, Weinheim 1980, S. 62.<br />

Seite 36 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 37


nicht Tora lernenden, sondern stattdessen Geschäfte<br />

machenden Sohn Chanoch 7 . Bildungsideal<br />

war der Talmid chacham, was nicht „Weiser“<br />

bedeutet, sondern in aller Demut „Schüler eines<br />

Weisen“, ein gelehrter, gottesfürchtiger, gewissenhafter<br />

Mann.<br />

Israel M. Goldman dokumentiert in seinem amerikanischen<br />

Standardwerk über das lebenslange<br />

Lernen im Judentum das tägliche Lernprogramm<br />

eines unbekannten Czernowitzer Juden, dessen<br />

Notizblatt erhalten geblieben ist 8 . Es begann um<br />

Mitternacht mit Psalmen, Gebeten, Texten aus<br />

der Bibel, Mischna, Talmud und ethisch-moralischen<br />

Schriften. Am morgendlichen Tisch las<br />

er in der Bibel und in Midraschim (Bibelauslegungen),<br />

vor und nach Mittag im Talmud und<br />

in Gebotssammlungen. Nach den Abendgebeten<br />

studierte er Kommentare zur Bibel und zu<br />

speziellen rituellen Geboten, die Heirat, Ehescheidung,<br />

Beschneidung und andere Dinge<br />

betrafen. Am Sabbat lernte er Sabbatgebote aus<br />

Talmud und systematischen Kompendien.<br />

Goldman nennt ihn einen „average Jew“ 9 .<br />

Das Studium der Tora wurde zum höchsten Wert,<br />

höher gar als das Tun der Tora, denn, so Rabbi<br />

Akiva, „das Studium führt zum Tun“ (bKidd 40b).<br />

Auch sollte die Zeit des Lernens nicht durch die<br />

Gebetszeit verkürzt werden (bSchabb 10a). Eine<br />

Synagoge durfte in ein Lehrhaus verwandelt werden,<br />

nicht jedoch ein Lehrhaus in eine Synagoge<br />

(bMeg 26b). Im Lehrhaus lernt man nicht auf<br />

eine Qualifikation hin, sondern um seiner Identität<br />

willen und um seiner ethischen Orientierung<br />

willen. Tora soll um ihrer selbst willen gelernt<br />

werden, und zwar ohne Maß (MPea I,1), d. h.<br />

ohne ein zeitliches Minimum oder Maximum<br />

vorzugeben. Die Früchte, sagen die Weisen, genießt<br />

der Mensch bereits in dieser Welt, dennoch<br />

verbleibt ihm das Guthaben für die kommende<br />

Welt. Das höchste Gebot ist für die jüdischen<br />

Weisen das Liebesgebot.<br />

Der Einzelne sollte nach Möglichkeit in Gemeinschaft<br />

mit Anderen lernen. Von den jüdischen<br />

Lehrern, die seit über dreißig Jahren zu<br />

den christlich-jüdischen Toralernwochen 10 nach<br />

Württemberg kommen, erzählte mir Dr. Baruch<br />

Levy aus Jerusalem, er lerne zusammen mit einem<br />

Freund seit fünfundzwanzig Jahren jeden<br />

Morgen eine „Daf Gemore“, eine Seite Talmud.<br />

Es heißt, in etwa dreißig Jahren könne man das<br />

Meer des Talmud einmal durchqueren.<br />

Über das Lehrer-Schüler-Verhältnis im Lehrhaus<br />

heißt es im Talmud: „Rabbi Nachman, Jizchaks<br />

Sohn, sagte: Warum werden die Worte der Weisung<br />

mit Holz verglichen, wie es heißt [Sprüche<br />

3,18]: ‚Ein Holz des Lebens ist sie denen, die sie<br />

ergreifen‘ ? Das besagt dir: Wie ein kleines Stück<br />

Holz ein großes in Brand steckt, so schärfen die<br />

kleinen Gelehrten die großen. Das ist es, was<br />

Rabbi Chanina sagte: Viel habe ich von meinen<br />

Lehrern gelernt, von meinen Kollegen mehr als<br />

von meinen Lehrern, und von meinen Schülern<br />

mehr als von ihnen allen.“ (bTaan 7a)<br />

Die Erneuerung: Franz Rosenzweigs<br />

„Freies Jüdisches Lehrhaus“<br />

in Frankfurt am Main<br />

„Not“ 11 war ein zentrales Deutewort der geistigen<br />

Situation des deutschen Volkes nach dem ersten<br />

Weltkrieg und der deutschen Juden im Besonderen,<br />

denn sie hatten, um sich in die Gesellschaft<br />

einzugliedern, die jüdische Tradition verlassen<br />

und ernteten zum Dank dafür den Antisemitismus.<br />

Das Freie Jüdische Lehrhaus war Franz Rosenzweigs<br />

Antwort auf die Bildungsnot der Juden.<br />

Der Historiker und Philosoph war 1913 kurz<br />

davor gewesen, sich taufen zu lassen. Das Erlebnis<br />

eines Jom-Kippur-Gottesdienstes in einer Berliner<br />

ostjüdischen Betstube brachte ihn zu dem Entschluss<br />

Jude zu bleiben. Also bahnte er sich geistig<br />

und geistlich einen Weg zurück in das ihm weitgehend<br />

unbekannte Judentum. Seine persönliche<br />

Umkehr in jüdisches Denken und Leben wollte er<br />

für Viele nachvollziehbar machen. Seine Pädagogik<br />

folgte der in seinem Hauptwerk „Der Stern<br />

der Erlösung“ 12 vorgezeichneten philosophischen<br />

Denk bewegung. Ansetzend bei seiner elementaren<br />

Kriegserfahrung als Frontsoldat auf dem Balkan<br />

geht er von der das Denken beherrschenden Furcht<br />

vor dem Tod aus und schreitet ins Leben, in die<br />

Praxis als erzieherischer Mensch. Rosenzweig<br />

spricht in Absetzung vom damals die Philosophie<br />

beherrschenden deutschen Idealismus von einem<br />

„neuen Denken“ 13 und einem „neuen Lernen“ 14 .<br />

Für den Menschen, so Rosenzweig, wird die<br />

Todesproblematik überwunden, indem er sich von<br />

Gott ansprechen und in die Beziehung zu ihm<br />

rufen lässt. Gottes zur Überlieferung gewordenes<br />

Wort stellt den einzelnen Juden als Glied der<br />

Traditionskette zugleich in den Gesamtzusammenhang<br />

seines Volkes. Die Offenbarung Gottes<br />

in seinem überlieferten Wort verleiht dem Leben<br />

des Volkes und des Einzelnen eine feste, der<br />

Orientierung dienende Mitte. Aber diese Mitte,<br />

das gemeinschaftliche Zusammenwirken in der<br />

Orientierung an der Tora, so Rosenzweig, ist dem<br />

jüdischen Volk verloren gegangen. Was kann getan<br />

werden, damit dieses jüdische Leben wieder<br />

wird? Von dieser Frage gehen Rosenzweigs pädagogische<br />

Bestrebungen aus 15 . Nach zwei Veröffentlichungen<br />

zur allgemeinen 16 und speziell<br />

jüdischen 17 Schulreform und dem beachtlichen<br />

Echo, das sie noch während des Krieges hervorriefen,<br />

erkannte er jedoch an der mangelhaften<br />

Umsetzung seiner Ideen, dass er nicht bei der<br />

Erziehung der Kinder, sondern bei der Erwachsenenbildung<br />

ansetzen musste.<br />

8<br />

[Goldman, S. XIV, XVIIff.<br />

9<br />

Goldman, S. XVIII.<br />

10<br />

Vgl. Christlich-jüdische Toralernwochen, in: <strong>Begegnungen</strong> Heft 1,<br />

2009, S. 21ff.<br />

11<br />

Vgl. Franz Rosenzweig, „Bildung – und kein Ende (Pred. 12,12).<br />

Wünsche zum jüdischen Bildungsproblem des Augenblicks insbesondere<br />

zur Volkshochschulfrage“, in: Franz Rosenzweig, Der Mensch<br />

und sein Werk. Gesammelte Schriften III: Zweistromland. Kleinere<br />

Schriften zu Glauben und Denken, hrsg. v. Reinhold und Annemarie<br />

Mayer, Dordrecht, Boston, Lancaster 1984, S. 491: „Die Not fordert<br />

die Tat ...“, „Heute drängt die Not, ...“.<br />

12<br />

Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt am Main<br />

3. Aufl. 1990.<br />

13<br />

Franz Rosenzweig, „Das neue Denken“, in: Gesammelte Schriften<br />

III, S. 139-162.<br />

14<br />

Franz Rosenzweig, „Neues Lernen. Entwurf der Rede zur Eröffnung<br />

des Freien Jüdischen Lehrhauses“, in: Gesammelte Schriften<br />

III, S. 505-510.<br />

15<br />

Vgl. Reinhard Veit, Der didaktische Ansatz von Franz Rosenzweig,<br />

Dissertation PH Dortmund 1973.<br />

16<br />

Franz Rosenzweig, „Volksschule und Reichsschule“, in: Gesammelte<br />

Schriften III, S. 371-411.<br />

17<br />

Franz Rosenzweig, „Zeit ist’s ... (Ps. 119,126). Gedanken über das<br />

jüdische Bildungsproblem des Augenblicks“, in: Gesammelte Schriften<br />

III, S. 461-481.<br />

Das Studium der Tora wurde zum<br />

höchsten Wert, höher gar als das Tun<br />

der Tora, denn, so Rabbi Akiva,<br />

„das Studium führt zum Tun“.<br />

Seite 38 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG


Als die jüdische Gemeinde Frankfurt ihn aufforderte,<br />

ihr Bildungsprogramm zu leiten,<br />

entwarf Rosenzweig den Plan eines erneuerten<br />

Beit Midrasch, eines neuen jüdischen Lehrhauses<br />

18 . Er wollte die Menschen zum Hören<br />

anleiten, dazu, dass sich im Nacheinander von<br />

Hören, Denken und Sprechen ein Gespräch mit<br />

dem Gegenüber entwickelt. Sprechraum und<br />

Sprechzeit wollte er zur Verfügung stellen, ohne<br />

die Inhalte im Voraus festzulegen. Menschen und<br />

Inhalte würden sich finden. „Das Jüdische ist<br />

meine Methode, nicht mein Gegenstand“, sagte<br />

er einmal 19 . Das Jüdische sollte jedenfalls nicht<br />

unbedingt durch die Inhalte erkennbar werden,<br />

sondern in der alle Inhalte durchdringenden und<br />

sie zusammenhaltenden zentripetalen Kraft.<br />

„Nichts Jüdisches ist mir fremd“ 20 , nahm sich<br />

Rosenzweig vor und schuf mit dem Lehrhaus<br />

einen seit langem entbehrten Ort des Dialogs der<br />

verschiedenen Richtungen im Judentum.<br />

Die Not des jüdischen Menschen, wie er sie diagnostizierte,<br />

ist die fehlende Mitte, die Unkenntnis<br />

von Gottes Offenbarung in der Tora. Darum<br />

kann der Lernweg nicht traditionell von der Tora<br />

ins Leben führen, sondern muss in umgekehrter<br />

Richtung gehen: vom Leben zur Tora, als Rückweg<br />

ins Judentum, als Einkehr, Heimkehr, Erinnerung<br />

in dem Sinn, dass ER, Gott, wieder zum<br />

Innern, zur Mitte des Lebens werde. Darum berief<br />

Rosenzweig nicht nur Rabbiner zu Lehrern<br />

des Lehrhauses, sondern auch religiös Unwissende,<br />

die den Rückweg ins Judentum gemeinsam<br />

mit ihren Schülern gehen sollten. Er selbst, der<br />

Leiter, sah sich als der erste Schüler des Lehrhauses<br />

an. „Alte Antworten auf neue Fragen“ hieß<br />

eine Arbeitsgemeinschaft, die er im Lehrhaus anbot<br />

21 . Rosenzweig plädierte für eine Erziehung<br />

in zwei Welten, der deutschen und der ihr gegenüber<br />

eigenständigen jüdischen, um dann beide<br />

zur Synthese zu bringen. Rosenzweig leitete<br />

das Freie Jüdische Lehrhaus – nach Gershom<br />

Scholems Urteil – genial und diktatorisch 22 . Sein<br />

ganz persönlicher Verdienst war – nach Ernst<br />

Simon – die unnachahmliche Lehrhausatmosphäre,<br />

Zeichen der „innere[n] Emanzipation des<br />

Jüdischen im Juden“ 23 .<br />

Eine Statistik von Rosenzweigs Lehrhaus sagt<br />

nichts Spektakuläres aus: In knapp sieben regulären<br />

Lehrjahren (1920-1926) wurden 18 Trimester<br />

mit 90 Vortragsreihen und 180 Arbeitsgemeinschaften<br />

durchgeführt 24 . Die Themen<br />

umfassten, ausgehend vom Hebräischunterricht<br />

und dem Studium der Bibel und anderer jüdischer<br />

Quellen alle Bereiche jüdischen Lebens<br />

und Denkens. Rosenzweig nahm einen hohen<br />

Eintrittspreis, denn was nichts kostet, so seine<br />

Erkenntnis, wird so angesehen, als sei es nichts<br />

wert. Im erfolgreichsten Trimester schrieben sich<br />

1.100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein, rund<br />

vier Prozent der Frankfurter jüdischen Gemeindemitglieder.<br />

Rosenzweig bot die bedeutendsten<br />

jüdischen Gelehrten seiner Zeit als Lehrer auf:<br />

Martin Buber, Leo Baeck, Nehemia Nobel,<br />

Benno Jacob, Shmuel Joseph Agnon, Gershom<br />

Scholem, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Ernst<br />

Simon, Siegfried Kracauer, Richard Lichtheim,<br />

Berta Pappenheim, daneben die Christen<br />

Alphons Paquet und Hermann Schafft.<br />

Franz Rosenzweig leitete das von ihm gegründete<br />

Lehrhaus gerade einmal drei Jahre, da zwang ihn<br />

eine Amyotrophe Lateralsklerose zum Rücktritt.<br />

Als er bereits vollständig gelähmt war, begann<br />

Martin Buber mit ihm zusammen die Verdeutschung<br />

der Schrift. Der Holländer Peter Tomson<br />

sagt, die Bibelübersetzung folgte logisch aus dem<br />

Studium der Tora im Lehrhaus, dem „neuen<br />

Denken“ und „neuen Lernen“ entsprach so das<br />

„neue Hören“ auf die Schrift 25 .<br />

Solange das Lehrhaus bestand, machte Rosenzweig<br />

vom Krankenbett aus seinen Einfluss<br />

geltend. Noch vor seinem Tod Ende 1929 wurde<br />

das Lehrhaus geschlossen, und er hielt es für<br />

gescheitert. Doch schon drei Jahre danach folgte<br />

der Umschwung, und da erwies sich das Lehrhaus<br />

als Rosenzweigs wichtigstes Werk. Vielleicht<br />

hatte er etwas von dieser Entwicklung<br />

geahnt, als er einmal schrieb: „... ich werde erst<br />

posthum meinen Mund ganz auftun“ 26 .<br />

„Wir waren unbewusste Seismographen eines<br />

fernen Erdbebens“ 27 , sagt Ernst Simon über die<br />

Menschen im Freien Jüdischen Lehrhaus. Es gibt<br />

ein erstaunliches Zeugnis dieser Sensibilität für<br />

die Wirklichkeit. Es stammt aus der Feder<br />

Richard Kochs, des Hausarztes von Franz Rosenzweig<br />

und sein Nachfolger in der Leitung des<br />

Lehrhauses. Koch schrieb 1923, zehn Jahre vor<br />

dem Beben:<br />

„Das Lehrhaus kennt keine politische Polemik. Hier<br />

geraten nicht Orthodoxe und Liberale, Zionisten und<br />

Staatsbürger jüdischen Glaubens aneinander. Diese<br />

Gegensätze liegen hinter uns. Damit soll es jeder<br />

halten, wie er mag. Wir sehen das mehr historisch.<br />

Der jüdische Liberalismus und die jüdische Orthodoxie,<br />

der Zionismus und sein Gegenteil lassen sich nicht aus<br />

unserer Welt herausschweigen. Sie sind alle Teile des<br />

Lebendigen. Wir zeigen sie, wir erkennen sie an, suchen<br />

sie zu verstehen, aber wir lehren sie nicht. So trennen<br />

wir uns von niemand, der guten Willens ist. Auch nicht<br />

von der nichtjüdischen Welt, den Völkern unter denen<br />

wir nicht nur wohnen, sondern zu denen wir so<br />

gehören wie wir sind, mit dem was wir lieben und<br />

wünschen. Möge unser fernerer Weg mit ihnen nicht<br />

wieder ein Weg des Leidens werden, wie er es auf so<br />

lange Strecken gewesen ist. Wenn unser geschichtliches<br />

Leid aber wieder kommt, dann wollen wir wissen,<br />

warum wir leiden, wir wollen nicht wie Tiere sterben,<br />

sondern wie Menschen, die wissen, was gut und schlecht<br />

ist. Aber wir suchen nicht das Leid, sondern den<br />

Frieden. Dass wir Juden sind, dass wir Fehler und<br />

Tugenden haben, ist uns genug von uns selber und<br />

anderen gesagt worden. Wir haben es zu oft gehört.<br />

Das Lehrhaus soll uns lehren, warum und wozu wir<br />

es sind.“ 28<br />

Die Nachwirkung Franz Rosenzweigs:<br />

Das Jüdische Lehrhaus Stuttgart<br />

1926 gründeten in Stuttgart Otto Hirsch, Leopold<br />

Marx, Karl Adler und andere mit Unterstützung<br />

der „Frankfurter“ Martin Buber und Ernst<br />

Simon das zweite Jüdische Lehrhaus. Getragen<br />

vom Stuttgarter Lehrhausverein, soll es von allen<br />

späteren Gründungen seinem Frankfurter Vorbild<br />

am nächsten gestanden haben. „Der wichtigste<br />

Punkt des Vereinsprogramms war Selbstbesinnung.<br />

Das Judesein sollte von den vielen<br />

Assimilanten neu entdeckt und geliebt werden“ 29 ,<br />

schreibt Maria Zelzer in ihrem Buch über „Weg<br />

und Schicksal der Stuttgarter Juden“. Auch hier<br />

wurde Hebräisch unterrichtet und die Bibel studiert.<br />

Buber und Simon waren regelmäßige Gastreferenten.<br />

Geradezu berühmt ist das Stuttgarter<br />

Jüdische Lehrhaus heute jedoch durch die von<br />

Martin Buber mit christlichen Gesprächspartnern<br />

geführten christlich-jüdischen Lehrhaus dialoge:<br />

Ende 1928 mit dem Schriftsteller Wilhelm<br />

Michel über Religion und Volkstum; wenig<br />

später mit dem Schriftsteller Hermann Hefele<br />

über Religion und Autorität, Form und Freiheit;<br />

bald danach mit dem Volksbildner und späteren<br />

baden-württembergischen Kultusminister Theodor<br />

Bäuerle über Religion und Politik. Außerhalb<br />

des Lehrhausprogramms sprach Buber mit Jakob<br />

Wilhelm Hauer, dem Kanzler des pietistischen<br />

Köngener Bundes, der 1933 die Deutsche Glaubensbewegung<br />

ins Leben rief, über Jesus Christus.<br />

Das am stärksten nachwirkende Lehrhaus-<br />

18<br />

Franz Rosenzweig, Bildung – und kein Ende, in: Gesammelte<br />

Schriften III, S. 491-504.<br />

19<br />

Zit. in: Niek de Wilde, Das Lehrhaus, in: Uwe Bauer, / Andrea<br />

H. Wöhle, Lehren und Lernen in jüdisch-christlicher Tradition.<br />

Erfahrungen aus den Niederlanden, Knesebeck 1995, S. 188.<br />

20<br />

Zit. in: Ernst Simon, „Franz Rosenzweig und das jüdische<br />

Bildungsproblem“, in: ders., Brücken. Gesammelte Aufsätze,<br />

Heidelberg 1965, S. 398.<br />

21<br />

Bühler (=Volkmann), Michael, Erziehung zur Tradition –<br />

Erziehung zum Widerstand. Ernst Simon und die jüdische<br />

Erwachsenenbildung in Deutschland, Berlin 1986, S. 49.<br />

22<br />

Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen,<br />

Frankfurt am Main 1977, S. 178.<br />

23<br />

Ernst Simon, Franz Rosenzweig und das jüdische Bildungsproblem,<br />

S. 401.<br />

24<br />

Michael Volkmann, Eine andere Frankfurter Schul’. Das Freie<br />

Jüdische Lehrhaus 1920-1927, Tübingen 1994, S. 26.<br />

25<br />

Peter Tomson, „Neue Antworten auf alte Fragen. Lehrhäuser<br />

in den Niederlanden“, in: Bauer, Wöhle (Hg.), a. a. O., S. 123.<br />

26<br />

Franz Rosenzweig, Brief (Nr. 395) an Gertrud Oppenheim vom<br />

1. Mai 1917, in: Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher I:<br />

1900-1918, hg. von Rachel Rosenzweig und Edith Rosenzweig-<br />

Scheinmann unter Mitwirkung von Berhard Casper, Haag 1979,<br />

S. 400. Vgl. auch Michael Volkmann, “The German Jewish Adult<br />

Educator Franz Rosenzweig and his ‚posthumeous’ emigration”,<br />

in: Martha Friedenthal-Haase (Hg.), Personality and Biography:<br />

Proceedings of the Sixth International Conference on the History<br />

of Adult Education, Vol. II: Biographies of Adult Educators from<br />

Five Continents, Frankfurt am Main 1998, S. 623-639.<br />

27<br />

Ernst Simon, Selbstdarstellung, in: Ludwig Pongratz (Hg.),<br />

Pädagogik in Selbstdarstellungen I, Hamburg 1975, S. 303.<br />

28<br />

Richard Koch, Das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt am<br />

Main, in: Der Jude 7 (1923), S. 118f.<br />

29<br />

Maria Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein<br />

Gedenkbuch, hg. von der Stadt Stuttgart, Stuttgart o. J. [1964],<br />

S. 114-123 und 147-150, vgl. auch S. 174. Zitat S. 116.<br />

Seite 40 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 41


gespräch fand am 14. Januar 1933 zwischen Buber<br />

und dem Theologen Karl Ludwig Schmidt über<br />

„Kirche, Volk, Staat und Judentum“ statt.<br />

Der Dialog ist im Wortlaut überliefert. Schmidt<br />

vertrat die traditionelle christliche Substitutionsund<br />

Enterbungstheologie und daher auch die<br />

Judenmission. Er behauptete, dass außerhalb der<br />

Kirche kein Heil sei und dass es mit Israel ein für<br />

alle mal vorbei sei. Buber entgegnete ihm im<br />

Wesentlichen zwei Dinge. Er sagte: „Wir [ Juden]<br />

wissen um Israel anders“, nämlich von innen her.<br />

„Wir wissen ..., dass wir, die wir gegen Gott<br />

tausendfach gesündigt haben, die wir tausendfach<br />

von Gott abgefallen sind, die wir diese Jahrtausende<br />

hindurch diese Schickung Gottes über<br />

uns erfahren haben [nämlich die Zerstreuung] ...,<br />

wir wissen, dass wir doch nicht verworfen sind.“ 30<br />

Zehn Mal wiederholte er das eindringlich im<br />

Lauf seines Vortrags: Wir sind nicht verworfen.<br />

„Der Bund ist uns nicht gekündigt“. Gott ist treu.<br />

Und dann sprach Buber davon, was Juden und<br />

Christen verbindet, und das sind nun Sätze, die<br />

wir im heutigen Stuttgarter Lehrhaus, 80 Jahre<br />

danach, als programmatisch für unsere Arbeit<br />

ansehen – Sätze, die sowohl für Religionsgemeinschaften<br />

als auch für Einzelne einen neuen Weg<br />

weisen, sich gegenseitig zu achten.<br />

Zehn Mal wiederholte Buber<br />

das eindringlich im Lauf seines Vortrags:<br />

Wir sind nicht verworfen.<br />

„Der Bund ist uns nicht gekündigt“.<br />

Gott ist treu.<br />

Buber sagte:<br />

„Das Juden und Christen Verbindende ... ist ihr<br />

gemeinsames Wissen um eine Einzigkeit, und von da<br />

aus können wir auch diesem im Tiefsten Trennenden<br />

gegenübertreten; jedes echte Heiligtum kann das<br />

Geheimnis eines anderen echten Heiligtums<br />

anerkennen. Das Geheimnis des anderen ist in ihm<br />

und kann nicht von außen her wahrgenommen<br />

werden. Kein Mensch außerhalb von Israel weiß um<br />

das Geheimnis Israels. Und kein Mensch außerhalb der<br />

Christenheit weiß um das Geheimnis der Christenheit.<br />

Aber nichtwissend können sie einander im Geheimnis<br />

anerkennen. Wie es möglich ist, dass es diese<br />

Geheimnisse nebeneinander gibt, das ist Gottes<br />

Geheimnis. Wie es möglich ist, dass es eine Welt gibt als<br />

Haus, in dem diese Geheimnisse wohnen, ist Gottes<br />

Sache, denn die Welt ist ein Haus Gottes. ... indem wir<br />

unter Anerkennung der Grundverschiedenheit in<br />

rückhaltlosem Vertrauen einander mitteilen, was wir<br />

wissen von der Einheit dieses Hauses, von dem wir<br />

hoffen, dass wir uns einst ohne Scheidewände umgeben<br />

fühlen werden von seiner Einheit, dienen wir getrennt<br />

und doch miteinander, bis wir einst vereint werden in<br />

einem gemeinsamen Dienst, bis wir alle werden, wie es<br />

in dem jüdischen Gebet am Fest des Neuen Jahres heißt:<br />

‚ein einziger Bund, um Seinen Willen zu tun’.“ 31<br />

So die Kernsätze von Bubers Antwort, die als<br />

Grundlage eines Gesprächs zwischen Christen<br />

und Juden hätten dienen können, wenn nicht<br />

sechzehn Tage später die Nationalsozialisten mit<br />

der Regierungsbildung in Deutschland beauftragt<br />

worden wären.<br />

Mit diesen interreligiösen Dialogen griff das<br />

Stuttgarter Jüdische Lehrhaus weit über seine<br />

Zeit hinaus. Kirche und christliche Theologie<br />

waren noch nicht bereit, das Judentum als gleichwertig<br />

anzuerkennen. Das deutsche Volk vertraute<br />

sein Schicksal mörderischen Antisemiten<br />

an. Heute ist Bubers Satz vom ungekündigten<br />

Bund die Grunderkenntnis und Kernaussage einer<br />

Theologie im christlich-jüdischen Gespräch.<br />

Rosenzweigs posthume Emigration<br />

und Rückkehr: Vom Jüdischen<br />

zum Interreligiösen Lehrhaus<br />

Die Lehrhausidee breitete sich in Deutschland<br />

aus. 1928 wurden Lehrhäuser in Köln und Mannheim<br />

eröffnet, 1929 die auf der Lehrhauskonzeption<br />

fußende „Schule der jüdischen Jugend“ 32 in<br />

Berlin. Ab 1933 veränderten sich die Bedingungen<br />

durch die Nazidiktatur grundlegend. Erstmals<br />

seit dem Spätmittelalter schlossen sich die<br />

verschiedenen Richtungen des deutschen Judentums<br />

wieder in einer gemeinsamen politischen<br />

Vertretung zusammen, der Reichsvertretung der<br />

deutschen Juden unter Führung von Leo Baeck,<br />

Otto Hirsch und Kurt Blumenfeld. Buber wurde<br />

mit der Organisation der jüdischen Erwachsenenbildung<br />

beauftragt. Er gründete in Frankfurt<br />

die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung<br />

und eröffnete das Rosenzweigsche Jüdische Lehrhaus<br />

neu, jetzt aber ohne den Namenszusatz<br />

„frei“. Buber holte zu seiner Unterstützung den<br />

bereits nach Jerusalem ausgewanderten Ernst<br />

Simon zurück, der der nun beginnenden Arbeit<br />

1959 in dem Buch „Aufbau im Untergang“ ein<br />

Denkmal gesetzt hat. Buber hat die jüdische<br />

Erwachsenenbildung in Nazideutschland rückblickend<br />

als „geistigen Widerstand“ 33 und die von<br />

ihm geleitete Mittelstelle als „wirksamsten Gegenspieler<br />

Hitlers“ 34 charakterisiert. Unermüdlich<br />

fuhren Buber und Simon durch das Land, um<br />

Lehrer und Lehrhäuser zu unterstützen. Ein von<br />

Buber neu eingeführtes Lehrfach hieß „Gegenwartskunde“<br />

– die Menschen sollten die Zeichen<br />

der Zeit erkennen, solange es ging standhalten<br />

und rechtzeitig durch Emigration bzw. Flucht ihr<br />

Leben retten. Yehoyakim Cokhavi zählt in seinem<br />

1988 in Israel erschienenen Buch „Chimusch<br />

lekijum ruchani“ (Geistiger Widerstand bzw.<br />

geistiger Existenzkampf ) insgesamt 17 jüdische<br />

Volkshochschulen im Deutschen Reich auf, die<br />

sich Jüdisches Lehrhaus nannten und sich dem<br />

geistigen Widerstand gegen Verachtung, Verleumdung<br />

und Demütigung anschlossen. Der<br />

Höhepunkt des Aufbaus wurde 1937 erreicht,<br />

nach den Novemberpogromen 1938 wurden die<br />

jüdischen Gemeinden weitgehend zerschlagen<br />

und mit ihnen die Lehrhäuser. Sechs Jahre lang<br />

hielten die Jüdischen Lehrhäuser das Erbe der<br />

freien deutschen Erwachsenenbildung weiter am<br />

Leben, das im nichtjüdischen Bereich durch die<br />

Gleichschaltung der Volkshochschulen längst<br />

nazifiziert war.<br />

Der Untergang der jüdischen Lehrhausbewegung<br />

war nicht aufzuhalten. Und doch ist es erlaubt,<br />

nach ihrer Wirkung zu fragen. Monika Richarz,<br />

die Hunderte von Biographien deutscher Juden<br />

analysiert hat, kommt zu dem vorsichtigen Urteil,<br />

dass sich diese Arbeit in den Lebensgeschichten<br />

der Menschen kaum niedergeschlagen hat 35 .<br />

Meine Lehrerin in der Erwachsenenbildung,<br />

Prof. Dr. Martha Friedenthal-Haase, sieht die<br />

beispielhafte Wirkung dieser jüdischen Bildungsarbeit<br />

in der „Bewährung des Humanen“ 36 und in<br />

der Verantwortung des im Geiste eines hebräischen,<br />

biblischen Humanismus erzogenen<br />

Menschen in der Stunde seiner größten Krise.<br />

30<br />

Kirche, Staat, Volk, Judentum, Zwiegespräch im Jüdischen Lehrhaus<br />

in Stuttgart am 14. Januar 1933, in: Karl-Josef Kuschel (Hg.),<br />

Martin Buber Werke 9: Schriften zum Christentum, Gütersloh<br />

2011, S. 156.<br />

31<br />

Ebenda, S. 159.<br />

32<br />

Ernst Simon, Aufbau im Untergang. Jüdische Erwachsenenbildung<br />

im nationalsozialistischen Deutschland als geistiger Widerstand,<br />

Tübingen 1959, S. 13f.<br />

33<br />

Simon, Ernst, Aufbau im Untergang, S. IX.<br />

34<br />

Zit. in: Rita van de Sandt, Martin Bubers bildnerische Tätigkeit<br />

zwischen den beiden Weltkriegen, Stuttgart 1977, S. 171.<br />

35<br />

Monika Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland III: 1918-1945.<br />

Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte, Stuttgart 1982, S. 44.<br />

DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 43


1983 hatte ich die Gelegenheit, die Frage nach<br />

der Wirkung dem 84-jährigen Ernst Simon selbst<br />

zu stellen. Er antwortete mir:<br />

„Ich habe diese Frage ja negativ beantwortet in<br />

den letzten Sätzen meines Buches. Vielleicht war<br />

ich da ein bisschen zu pessimistisch, aber doch in der<br />

rich tigen Richtung … Ich sage z. B. über [Robert]<br />

Weltsch: das ‚Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!‘,<br />

das ist zwar unhaltbar, aber es hat sicher viele<br />

Menschen vorm Selbstmord gerettet, und so würde ich<br />

auch sagen: Nicht, dass wir gerade viele gerettet haben,<br />

aber wir haben sie jedenfalls ausgestattet. … Ob das<br />

nun wirklich genügt, um eine Dauerwirkung zu<br />

haben, ist außerordentlich schwer zu sagen.“ 37<br />

Wie ein Echo auf die Worte Ernst Simons klingt<br />

ein Satz von Martin Buber in seinem programmatischen<br />

Aufsatz „Erwachsenenbildung“, 1950<br />

in Israel veröffentlicht: „Ein lebendiges Judentum<br />

kann nur noch so gelehrt werden, dass es denen,<br />

die den Glauben an den Sinn von Welt und<br />

Leben verloren haben, ihn wiedergibt.“ 38<br />

Rosenzweig meinte, wie gesagt, er werde erst<br />

posthum Wirkung entfalten. So war es tatsächlich,<br />

weil er nämlich sozusagen posthum emigrierte.<br />

Die Schüler Rosenzweigs unter den<br />

flüchtenden deutschen Juden nahmen die Lehrhausidee<br />

mit in die Welt.<br />

Deutsche Zionisten nahmen sie mit nach Erez<br />

Jisrael und gründeten in Tel Aviv, Jerusalem und<br />

Haifa batei midrasch amamijim – Volks-Lehrhäuser<br />

sowie ein System reisender Referenten für<br />

die ländlichen Siedlungen 39 . Nach der Staatsgründung<br />

Israels integrierten sich die deutschsprachigen<br />

Juden in die Strukturen des neuen<br />

Staats. In veränderter Form kam das Lehrhauskonzept<br />

noch einmal zum Tragen, als Martin<br />

Buber 1949 die Leitung der israelischen Schule<br />

für Erwachsenenbildner übernahm. Diese Schule<br />

existierte vier Jahre lang und bildete rund 200<br />

Erwachsenenbildner aus, die die Masseneinwanderung<br />

orientalischer Juden integrieren halfen.<br />

Unter ihnen bewahrte Kalman Yaron das Erbe<br />

Bubers als langjähriger Direktor des Martin<br />

Buber Instituts für Erwachsenenbildung an<br />

der Hebräischen Universität Jerusalem 40 . Heute<br />

existiert dort auch ein Franz Rosenzweig<br />

Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur<br />

und Kulturgeschichte. Der junge Abraham<br />

Jehoschua Heschel, Mitarbeiter Bubers in der<br />

Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung,<br />

floh 1939 nach London, wo er für rund 1.500<br />

deutschsprachige Flüchtlinge ein Lehrhaus eröffnete,<br />

bevor er in die USA weiterwanderte 41 .<br />

In New York arbeitete die von emigrierten deutschen<br />

Juden gegründete Gemeinde Habonim,<br />

die Bauleute, im Sinne Rosenzweigs weiter 42 .<br />

Und 1974 eröffnete Fred Rosenbaum ein „Lehrhaus<br />

Judaica“ in Berkeley in Kalifornien 43 .<br />

1951 gründete der junge Philosoph Hermann<br />

Levin Goldschmitt ein Lehrhaus nach Rosenzweigschem<br />

Vorbild in Zürich und leitete es<br />

zehn Jahre lang. In seinen Schriften hat er diese<br />

Arbeit gründlich dokumentiert 44 . Seit 1994 existiert,<br />

getragen von der früher sogenannten „Stiftung<br />

Kirche und Judentum“, wieder ein Züricher<br />

Lehrhaus. Auch in Deutschland gab es Versuche,<br />

an die Rosenzweigsche Lehrhaustradition anzuknüpfen,<br />

etwa 1982 in Frankfurt oder Mitte der<br />

1980er Jahre in Rosenzweigs Heimatstadt<br />

Kassel 45 . Daneben gab und gibt es in den orthodoxen<br />

Einheitsgemeinden das traditionelle Beit<br />

Midrasch und seine Weiterentwicklungen wie<br />

etwa das Lehrhaus der Lauder-Stifung in Berlin.<br />

Ein nach 1990 entstandenes europäisches<br />

jüdisches Frauennetzwerk ist Bet Debora, das<br />

Lehrhaus der Debora. Es möchte die Stellung<br />

jüdischer Frauen in den Gemeinden Europas<br />

stärken und veranstaltet in längeren Abständen<br />

Konferenzen. 46 Auch beim Deutschen Evangelischen<br />

Kirchentag gibt es, getragen von der<br />

Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen, bereits<br />

seit 1971 alle zwei Jahre für drei Tage ein christlich-jüdisches<br />

„Lehrhaus“ 47 . Eine Internetrecherche<br />

im Herbst 2010 nach deutschsprachigen<br />

Auftritten führte auf rund ein Dutzend Homepages<br />

jüdischer Lehrhäuser, in der Regel Einrichtungen<br />

jüdischer Gemeinden für Erwachsenenbildung;<br />

auf fünfzehn bis zwanzig nicht<br />

jüdische, jedoch mit einer Ausnahme am Judentum<br />

interessierte, „Lehrhaus“-Angebote zumeist<br />

christlicher Anbieter, teilweise in Zusammenarbeit<br />

mit Juden, jedoch selten als permanente<br />

Einrichtung, sondern eher als periodisch wiederkehrende,<br />

zeitlich befristete Projekte; und auf<br />

zwei interreligiöse Lehrhäuser, die als Stiftungen<br />

organisiert sind, in Zürich und in Stuttgart.<br />

Besondere Erwähnung verdient die holländische<br />

Lehrhausbewegung. Der niederländische Theologe<br />

Kornelis Heiko Miskotte hatte bereits ab 1930<br />

Franz Rosenzweigs Denken rezipiert und in<br />

Holland bekannt gemacht. Für ihn bedeutete das<br />

weiter existierende Judentum eine „Frage an die<br />

Kirche“ (1934). In seinem Buch „Biblisches<br />

ABC“ forderte er 1941, mitten im Krieg, ein<br />

Lehrhaus 48 . Es gelte, die Bibel, voran die Tora,<br />

neu zu buchstabieren, Tora aber bedeute Lehre,<br />

Lehre des Gottes Israels, dessen Name durch das<br />

Lehrhaus geheiligt werde. So griff Miskotte in<br />

der Not seines von den Nazis besetzten Landes zu<br />

der Antwort, die Franz Rosenzweig zwanzig Jahre<br />

zuvor gegeben hatte. Hinzu kam: Holländische<br />

Judenmissionare trafen in den KZs auf Juden und<br />

erkannten in der Solidarität der Haft, dass sie die<br />

Mission aufgeben und die Juden als Juden respektieren<br />

müssten. So wurde die Niederländische<br />

Reformierte Kirche zum Pionier des christlichjüdischen<br />

Dialogs in Europa. In Holland entstanden<br />

jüdische, jüdisch-christliche und auch<br />

rein christliche Lehrhäuser, eine ganze Lehrhausbewegung,<br />

die seit 1981 auch einen Dachverband<br />

hat, das „Overlegorgaan van Joden en Christenen<br />

in Nederland“ (OJEC). Aus den Niederlanden<br />

kamen viele Impulse über die Grenze ins Rheinland,<br />

wo die rheinische Kirche unter den deutschen<br />

Landeskirchen die hauptsächliche Impulsgeberin<br />

im christlich-jüdischen Dialog ist. Erste<br />

Anstöße gab Wolfram Liebster, der als Pfarrer der<br />

Deutschen Evangelischen Gemeinde Amsterdam<br />

die Gründung des dortigen Lehrhauses 1966<br />

miterlebt hatte 49 . Ein wichtiger Vermittler<br />

zwischen Holland und Deutschland ist heute der<br />

Verein und Verlag Erev-Rav in Uelzen 50 .<br />

Das Stuttgarter Lehrhaus.<br />

Stiftung für interreligiösen Dialog<br />

Und nun also ein „Stuttgarter Lehrhaus –<br />

Stiftung für interreligiösen Dialog“. Ein Wagnis<br />

angesichts dieses großen Erbes. Wir können<br />

unsere äußere Situation nicht mit der Franz<br />

Rosenzweigs 1920 oder Kornelis Heiko<br />

Miskottes 1941 vergleichen. Doch wir meinen,<br />

mit diesem Lehrhaus wenn nicht auf eine<br />

Not, so doch auf eine Notwendigkeit unserer<br />

Zeit zu antworten.<br />

Die Grunderkenntnis des von dem Tübinger<br />

Theologen Hans Küng begründeten Projekts<br />

Weltethos, „Kein Friede zwischen den Nationen<br />

ohne Friede zwischen den Religionen“, ist durch<br />

dieses erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends in<br />

seiner Richtigkeit bestätigt worden. Nie zuvor<br />

im vergangenen halben Jahrhundert sind Religion<br />

und Gewalt so häufig und mit Nachdruck<br />

36<br />

Martha Friedenthal-Haase, Krise und Bewährung. Martin Buber<br />

zu Grundlagen der Bildung im Erwachsenenalter, Oldenburg 1991,<br />

S. 29, 33.<br />

37<br />

Michael Bühler, Erziehung zur Tradition – Erziehung zum<br />

Widerstand, S. 167.<br />

38<br />

Martin Buber, „Erwachsenenbildung“, in: Martin Buber Werkausgabe<br />

8 Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung, hrsg. v. Juliane<br />

Jacobi, Gütersloh 2005, S. 358.<br />

39<br />

Michael Volkmann, Neuorientierung in Palästina. Erwachsenenbildung<br />

deutsprachiger jüdischer Einwanderer 1933-1948, Köln,<br />

Weimar, Wien 1986.<br />

40<br />

Kalman Yaron, Geistige Welten. Aufsätze aus vierzig Jahren, hg.<br />

von Franz Pöggeler, Frankfurt am Main 2006.<br />

41<br />

Abraham J. Heschel, (Nr. 30) an Martin Buber vom 22.11.1939,<br />

in: Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten III: 1938-<br />

1965, Heidelberg 1975, S. 31.<br />

42<br />

Glatzer, Nachum, The Frankfort Lehrhaus, in: Leo Baeck Institute<br />

of Jews from Germany (Hg.), Year Book I, London 1956, S. 122.<br />

43<br />

Fred Rosenbaum, „Lehrhaus Then and Now“, in: Der Philosoph<br />

Franz Rosenzweig (1886-1929). Internationaler Kongress Kassel<br />

1986 Bd. I: Die Herausforderung jüdischen Lernens, hg. von Wolfdietrich<br />

Schmied-Kowarzik, Freiburg, München 1988, S. 353-360.<br />

44<br />

Hermann Levin Goldschmidt, Die Botschaft des Judentums,<br />

Frankfurt am Main 1960, S. 189-220.<br />

45<br />

Brigitte A. A. Kern, „Freies Jüdisches Lehrhaus 1920 – Jüdischer<br />

Lehrhaus 1986“, in: Juden in Kassel 1808-1933. Eine Dokumentation<br />

anlässlich des 100. Geburtstags von Franz Rosenzweig, Kassel<br />

[1986], S. 119-126.<br />

46<br />

Lara Dämmig, Bet Debora – Eine Frauenbewegung als Ausdruck<br />

jüdischer Erneuerung in Europa, http://www.fit-for-gender.org/<br />

downloads/Daemmig_final.pdf.<br />

47<br />

Kammerer, Gabriele, In die Haare, in die Arme. 40 Jahre Arbeitsgemeinschaft<br />

„Juden und Christen“ beim Deutschen Evangelischen<br />

Kirchentag, Gütersloh 2001, S. 129-136.<br />

48<br />

Kornelis Heiko Miskotte, Biblisches ABC, Wittingen 1997,<br />

S 198ff.<br />

49<br />

Wolfram Liebster, Theologie im Lichte des Neuen Denkens,<br />

Ahrweiler 2010.<br />

50<br />

Bauer / Wöhle, Lehren und Lernen in jüdisch-christlicher<br />

Tradition (s.o. Anm. 15 und 24).<br />

Seite 44 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 45


„Es ist schwer,<br />

Islam in der Diaspora zu leben.<br />

Unsere jungen Leute<br />

wissen nicht, wer sie sind.“<br />

Oder: „Wir wissen selbst<br />

oft nicht, was es heißt,<br />

Jude zu sein und wer wir sind.“<br />

in einem Atemzug genannt worden. Jede der<br />

drei großen monotheistischen Religionen hat<br />

sich mit fundamentalistischen Strömungen auseinanderzusetzen,<br />

um nicht mit ihnen gleichgesetzt<br />

zu werden.<br />

Fundamentalismus, so lautet eine These zu seiner<br />

Erklärung, ist eine Reaktion auf Probleme<br />

mit der eigenen Identität und ethischen Orientierung.<br />

„Weißt du, wer ich bin?“ heißt das Motto<br />

einer interreligiösen Aktion der Arbeitsgemeinschaft<br />

Christlicher Kirchen (ACK) in<br />

Deutschland. Die Initiatorin Barbara Rudolph<br />

erzählt, dass sie in Gesprächen mit führenden<br />

Vertretern von Islam und Judentum zu hören<br />

bekam: „Es ist schwer, Islam in der Diaspora zu<br />

leben. Unsere jungen Leute wissen nicht, wer sie<br />

sind.“ Oder: „Wir wissen selbst oft nicht, was<br />

es heißt, Jude zu sein und wer wir sind.“ Und sie<br />

fragt: Geht es uns Christen nicht genauso? 51<br />

Sollen wir das eine religiöse Identitäts-Not<br />

nennen? Wir meinen, das Verständnis für die<br />

eigene religiöse Identität wird geschärft im Dialog<br />

mit anderen, Fremden. Wir brauchen dieses<br />

Gespräch auch, um Fremdheit zu überwinden<br />

und mehr übereinander zu erfahren. Angst voreinander<br />

hat ihren Grund oft in mangelnder<br />

gegenseitiger Kenntnis. Methodisch bedeutet<br />

das: Wir suchen nicht nach einfachen und<br />

raschen Antworten, sondern wir wollen lernen,<br />

Unterschiede auszuhalten, die richtigen Fragen<br />

zu stellen und zuzuhören.<br />

Das Stuttgarter Lehrhaus ist ausdrücklich kein<br />

Jüdisches Lehrhaus, sondern ein interreligiöses.<br />

Aber es ist ohne Juden nicht denkbar, und es ist<br />

ohne Beschäftigung mit der Tora nicht denkbar,<br />

wenn es ein Lehrhaus sein soll. Jüdische Diaspora-Existenz<br />

war und ist immer schon eine<br />

auf Dialog angelegte Existenz. Doch bis vor<br />

wenigen Jahrzehnten hat sich der christliche<br />

Partner dem echten Dialog mit dem Judentum<br />

verweigert. Dies hat sich inzwischen geändert<br />

und damit einher geht der schleichende Verlust<br />

der christlichen Mehrheitsposition. Der jüdische<br />

Vordenker Micha Brumlik sagt über die<br />

heutigen deutschen Juden: “Heute steht die in<br />

sich vielfältige Gemeinschaft vor der Herausforderung,<br />

das Selbst verständnis der pluralistischen<br />

Bundesrepublik unter Rückbesinnung und Neuinterpretation<br />

der vor allem religiösen Quellen<br />

des Judentums mitzugestalten.“ 52 Das trifft auch<br />

für uns Christen zu. Auch wir können diese Gesellschaft<br />

nur weiter mitgestalten, wenn wir uns<br />

auf unsere religiösen Quellen zurückbesinnen,<br />

deren älteste wir mit den Juden gemeinsam<br />

haben, wenn wir, mit Franz Rosenzweig gesprochen,<br />

alte Antworten auf neue Fragen suchen<br />

und finden, indem wir unsere Quellen neu interpretieren.<br />

Die spannendste Neuinterpretation<br />

unserer religiösen Quellen erleben wir derzeit<br />

im christlich-jüdischen Dialog. Und wenn sich<br />

auch Muslime dieser Herausforderung stellen,<br />

indem sie ihre religiösen Quellen nicht nur sich<br />

vergegenwärtigen, sondern ebenfalls neu interpretieren,<br />

darf man auf die Resultate aller dieser<br />

Versuche sehr gespannt sein.<br />

Ein interreligiöses Lehrhaus ist ein relativ neues<br />

Phänomen. Als im November 2009 die jüdische<br />

Gemeinde in Bamberg ihr neues Beit Midrasch<br />

eröffnete, sagte die Präsidentin des Zentralrats<br />

der Juden, Charlotte Knobloch, der Anspruch,<br />

den interreligiösen und interkulturellen Dialog<br />

zu pflegen, sei völlig neu für ein Jüdisches Lehrhaus<br />

53 . Doch soll dort der Dialog auf der Basis<br />

von Begegnung und gemeinsamen Lernen entfaltet<br />

werden. Die Forderung nach verstärktem<br />

interreligiösem Dialog ist eine logische Reaktion<br />

auf die Umbrüche, die mit der Chiffre<br />

„11. September“ bzw. „Nine-Eleven“ bezeichnet<br />

werden. Wir beschäftigen uns im Lehrhaus mit<br />

der Idee eines Weltethos, wie sie von Hans Küng<br />

und seinen Mitarbeitern in Tübingen entwickelt<br />

wird. Wir lassen uns ein auf das Gespräch zunächst<br />

der monotheistischen Religionen, das<br />

manche auch als Trialog oder als abrahamische<br />

Ökumene bezeichnen.<br />

Wichtige Voraussetzung zum Dialog ist der<br />

Respekt voreinander und vor der eigenen Tradition.<br />

Respekt vor dem jeweiligen Selbstverständnis<br />

einer Religion. Um einander zu respektieren,<br />

muss man sich gegenseitig besser kennen lernen.<br />

Es geht dabei um das Entdecken von Verbindendem,<br />

von Gemeinsamkeiten, aber auch von<br />

Unterschieden. Denn auch die Unterschiede<br />

zwischen uns können wir nur respektieren, wenn<br />

wir sie kennen.<br />

Reflexion des interreligiösen Dialogs<br />

im Lehrhaus<br />

Ziel ist es nicht, die Unterschiede zwischen uns<br />

zu nivellieren. Jede der fünf beteiligten Einrichtungen<br />

betreibt ihr Kerngeschäft weiter, während<br />

sie mit den anderen kooperiert. Der christlichjüdische<br />

Dialog verliert neben dem christlichjüdisch-muslimischen<br />

Dialog nicht seine Bedeutung<br />

und Eigenständigkeit. Vielmehr folgen<br />

wir den Berliner Thesen „Zeit zur Neuver<br />

pflichtung“des Internationalen Rates von<br />

Christen und Juden vom Juli 2009, wenn wir<br />

Gespräche, gemeinsames Lernen und Zusammenarbeit<br />

zwischen Christen, Juden und Muslimen<br />

verstärken und vertiefen. Auch im Züricher Lehrhaus<br />

wird das Thema Islam einbezogen. Seit<br />

November 2006 heißt die dortige Stiftung „Stiftung<br />

Zürcher Lehrhaus – Judentum, Christentum,<br />

Islam“. Das Zürcher Lehrhaus, so wird dort argumentiert,<br />

habe sich dem Anliegen des Friedens<br />

zwischen den Religionen verschrieben, daher sei<br />

die Weiterführung des Dialogs mit den verschiedenen<br />

anderen Religionen ohne Alternative.<br />

Das Stuttgarter Lehrhaus praktiziert und fördert<br />

den interreligiösen Dialog zwischen Christen<br />

und Juden, Christen und Muslimen und Juden<br />

und Muslimen nicht nur, sondern es reflektiert<br />

auch das Verhältnis der Dialoge zueinander, z. B.<br />

2011 mit der Vortragsreihe „Abrahamische<br />

Dialoge“.<br />

Der Praktische Theologe Prof. Dr. Bernd Schröder<br />

aus Göttingen betonte in seinem Beitrag zu den<br />

„Abrahamischen Dialogen“die Notwendigkeit<br />

der bilateralen Dialoge nebeneinander und die<br />

Erwartung an das Zusammenwirken aller drei<br />

Religionen, wenn es um bestimmte gesellschaftliche<br />

Wertefragen (Bewahrung der Schöpfung,<br />

51<br />

Mündliche Mitteilung bei einer Tagung der Evangelischen<br />

Akademie im Rheinland „Gottesdienst im Angesicht Israels“,<br />

Bonn-Bad Godesberg, vom 29. bis 30. Januar 2010.<br />

52<br />

Micha Brumlik, „Zur jüdischen Kultur der Bundesrepublik<br />

Deutschland“, in: Untergang und Neubeginn. Jüdische Gemeinden<br />

nach 1945 in Südwestdeutschland, hg. vom Haus der Geschichte<br />

Baden-Württemberg, Heidelberg 2009, S. 97.<br />

53<br />

www.ikg-bamberg.de/einweihung_lehrhaus.html<br />

DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 47


Umgang mit Fremden, Erhalt von kollektiven<br />

Traditionen wie dem wöchentlichen Ruhetag<br />

u. a.) geht. Aus der Sicht der Kirchen bestehe hier<br />

noch mehr Bedarf an Koordinierung beider Dialoge.<br />

Am Beispiel paralleler Themen (Monotheismus,<br />

Stellenwert der göttlichen Weisung, Wahrheitsanspruch<br />

und Gewaltbereitschaft, Umgang<br />

mit der je inneren Vielfalt), Prinzipien (Respekt<br />

und Toleranz, Geschichtsbewusstsein und Zukunftsorientierung,<br />

Authentizität, Identität und<br />

Verständigung, Konvivenz) und Anlässe (Nachbarschaftskontakte,<br />

Feste, Initiativen gegen<br />

Fremdenfeindlichkeit, gemeinsame Schulfeiern,<br />

Kooperation bei Konflikten bzw. Notlagen) beschrieb<br />

er die Nähe der drei Religionen zueinander.<br />

Jede Äußerung im Dialog sei perspektivisch<br />

gebunden, so Schröder, keine Position sei unstrittig<br />

oder alternativlos, darum sei Respekt gegen<br />

andere Positionen bzw. eine eigene „reflektierte<br />

Positionalität“ unabdingbar. Im Folgenden beschrieb<br />

er sechs Modelle bzw. Paradigmen für<br />

eine theologische Begründung des Dialogs:<br />

1. Das Alltagsparadigma hat nicht die theologische<br />

Annäherung, sondern die Schaffung von<br />

Vertrauen z. B. durch interreligiöse Gesprächskreise<br />

zum Ziel.<br />

2. Das israeltheologische Paradigma betont die<br />

Einzigartigkeit des christlichen Verhältnisses<br />

zum Judentum gegenüber den anderen Religionen<br />

und versäumt es, Kategorien für das<br />

Gespräch mit diesen zu entwickeln.<br />

3. Das theologisch reflektierte Abraham-Paradigma,<br />

für das Karl-Josef Kuschels Buch „Streit<br />

um Abraham“ (1994) exemplarisch steht,<br />

fristet ein Nischendasein. Seine Stärken: Es<br />

ermöglicht das theologische Gespräch, geht<br />

von der Selbigkeit des Einen Gottes aus und<br />

erlaubt die Unterscheidung von Judentum,<br />

Christentum und Islam von den anderen<br />

Religionen.<br />

4. Das humanistisch-ethische Paradigma (Hans<br />

Küng: Weltethos) bezieht die bilateralen<br />

Dialoge positiv aufeinander aufgrund ihrer –<br />

gemeinsamen ethischen Sache. Durch vier<br />

unverrückbare Weisungen (Gewaltlosigkeit,<br />

Solidarität, Toleranz, Gleichberechtigung von<br />

Mann und Frau) nimmt es das „Humanum“<br />

und eben nicht die jeweilige Lehre einer<br />

Religion in Anspruch. So erlaubt es allerdings<br />

keine Begründung besonderer Beziehungen<br />

zwischen den drei großen monotheistischen<br />

Religionen.<br />

5. Das Monotheismus-Paradigma zeigt die Verwandtschaft<br />

von Judentum, Christentum und<br />

Islam auf einer religiös abstrakten Ebene und<br />

lässt das Gespräch zwischen ihnen lohnend erscheinen,<br />

grenzt freilich andere Religionen aus.<br />

6. Das religiös-theologische Paradigma bestreitet<br />

den absoluten Wahrheitsanspruch jeder Religion<br />

und gesteht jeder einen Teil der Wahrheit<br />

zu. Es bietet keine Kategorien für eine Anerkennung<br />

der Besonderheit der drei monotheistischen<br />

Religionen Judentum, Christentum<br />

und Islam.<br />

Schröder rät zur differenzierten Dialogizität und<br />

dazu, sich bei den sechs Modellen eklektizistisch<br />

zu bedienen. Eine einzige Positionsbestimmung<br />

zwischen christlich-jüdischem, christlich-islamischem<br />

oder auch jüdisch-islamischem Dialog<br />

gebe es nicht. „Die unterschiedlichen Perspektiven<br />

jüdischer, christlicher und muslimischer<br />

Theo logie auf das Verhältnis untereinander<br />

können und sollen ihrerseits Thema des theologischen<br />

Gesprächs unter ihnen sein oder werden!“<br />

„Wir brauchen so viel trialogische Abstimmung<br />

wie möglich und so viel bilaterale Abstimmung<br />

wie nötig.“ 54 Sinnvoller als ein permanenter Trialog<br />

sei die Vernetzung der Dialoge im Sinne einer<br />

„abrahamischen Gastfreundschaft“, die Gegensätze<br />

und Unterschiede anerkennt, <strong>Begegnungen</strong><br />

unter das Gebot der Freundlichkeit stellt und<br />

Nähe, nicht Fremdheit, zum Vorzeichen von<br />

Begegnung macht.<br />

Mit der Universität Tübingen gibt es in der<br />

unmittelbaren Nachbarschaft des Stuttgarter<br />

Lehrhauses eine der weltbesten Forschungs- und<br />

Bildungseinrichtungen gerade für den interreligiösen<br />

Dialog – mit Prof. Hans Küng und der<br />

Stiftung Weltethos, mit Prof. Karl-Josef Kuschel<br />

und seiner Theologie einer abrahamischen Ökumene,<br />

mit Prof. Christoph Schwöbel und seinen<br />

Gedanken zu einer christlichen Theologie der<br />

Religionen, die davon ausgeht, dass das Christentum<br />

verpflichtet ist, den Dialog mit den anderen<br />

Religionen zu führen, mit dem Institut für Religionswissenschaft<br />

und Judaistik, von wo aus Prof.<br />

Stefan Schreiner das „Europäische Abrahamische<br />

Forum“ koordiniert. Zudem wurde 2012 an der<br />

Universität Tübingen das Zentrum für islamische<br />

„Die unterschiedlichen Perspektiven jüdischer,<br />

christlicher und muslimischer Theologie<br />

auf das Verhältnis untereinander können<br />

und sollen ihrerseits Thema des theologischen Gesprächs<br />

unter ihnen sein oder werden!“<br />

Seite 48 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG


Theologie eröffnet, dessen Direktor Prof. Omar<br />

Hamdan bereits im Stuttgarter Lehrhaus und bei<br />

einer Toralernwoche über Abraham in Bad Boll<br />

aufgetreten ist.<br />

Das Stuttgarter Lehrhaus praktiziert nicht nur<br />

den Dialog, es setzt sich auch permanent mit<br />

der wissenschaftlichen Theorie des interreligiösen<br />

Dialogs auseinander. Die diesbezüglichen Erfahrungen<br />

aus dem christlich-jüdischen Dialog<br />

werden sich im interreligiösen Dialog bewähren.<br />

[…]<br />

„Leben mit großen Texten“ -<br />

der Toralernkreis im Stuttgarter Lehrhaus<br />

Sinnbild jüdischen Lernens ist der Gerechte aus<br />

dem ersten Psalm, der bei Tag und Nacht über der<br />

Tora murmelt, der lernende Mensch. Die Begriffe<br />

Tora („Weisung“) und „Gerechter“ verweisen<br />

darauf, dass es im Lehrhaus um Orientierungslernen<br />

und die Ausbildung eines ethischen<br />

Urteilsvermögens geht. Lehrhäuser üben, in<br />

Martha Friedenthal-Haases Worten ausgedrückt,<br />

das „Leben mit großen Texten“ ein, den Umgang<br />

mit „alt-neue[n] Fragen nach dem Wesentlichen“.<br />

55 Das Lehrhaus bietet erwachsenen<br />

Menschen aller Altersgruppen einen Rahmen,<br />

um Lebenserfahrungen im Gespräch mitein ander<br />

zu reflektieren und anhand überlieferter religiöser<br />

Texte zu interpretieren. Der Horizont der Texte<br />

weist über die Deutung der eigenen Existenz<br />

hinaus auf die Interpretation der Welt. Die hohe<br />

literarische Qualität der Texte in formaler wie inhaltlicher<br />

Hinsicht hebt das Niveau der an diesen<br />

Texten orientierten Gespräche. In solchen Gesprächen<br />

können sowohl die Würde menschlicher<br />

Fehlbarkeit als auch die lebenslange Chance und<br />

das Recht sich zu ändern thematisiert werden.<br />

Jüdische Toraauslegung betont die erzieherische<br />

Absicht der heiligen Schriften. Toralernen zielt<br />

auf reflektiertes und verantwortetes Handeln. Als<br />

Methode leitet das jüdische Toralernen dazu an,<br />

es mit intellektuellen Herausforderungen jeder<br />

Art aufzunehmen.<br />

Franz Rosenzweig riet im Brief an Martin Buber<br />

vom 12.1.1923, Buber solle im Rahmen seines<br />

Lehrauftrags für jüdische Religionswissenschaft<br />

und Ethik an der Frankfurter Universität in seiner<br />

Übung Quellentexte „von den Apokryphen<br />

bis zum Chassidismus“ behandeln: „Die biblischen<br />

Themen versparen Sie sich für den Abend<br />

6 – ½ 9 im Lehrhaus.“ 56 Auch im Stuttgarter<br />

Lehrhaus nimmt die Beschäftigung mit der Bibel<br />

einen zentralen Platz ein.<br />

Im Herbst 2010 nahm dort ein Toralernkreis<br />

seine Arbeit auf. Die Tora, der Pentateuch, ist der<br />

älteste Teil der Bibel, die heiligste Schrift des<br />

Judentums und Grundlage auch des Neuen Testaments.<br />

Im Toralernkreis lernen Christen bzw.<br />

Menschen christlicher Prägung jüdische Quellen<br />

mit Hilfe jüdischer Kommentare als interreligiös<br />

Lernende. Der Kreis trifft sich so regelmäßig wie<br />

möglich wöchentlich an einem Werktag und<br />

behandelt jeweils ein Thema aus dem Wochenabschnitt<br />

(Parascha), der am benachbarten Sabbat in<br />

der Synagoge zur Lesung kommt. Die Lesungen<br />

beginnen mit bereschit (1. Mose 1,1-6,8) und<br />

enden mit wesot habracha (5. Mose 33,1-34,12).<br />

Im ersten Jahr traf sich der Kreis zweiunddreißig<br />

Mal. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lesen<br />

den gesamten Wochenabschnitt zu Hause. Im<br />

Lernkreis wird nach einer überblicksartigen Einführung<br />

ein Stück daraus auf Hebräisch und in<br />

deutscher Übersetzung gelesen. Dann werden<br />

Fragen zum Text gesammelt. Diese werden mit<br />

Hilfe jüdischer Kommentare aus allen Epochen<br />

von der Antike bis zur Gegenwart bedacht und<br />

im Blick auf ihre Aktualität in offener Atmosphäre<br />

diskutiert.<br />

Im ersten Jahr nahmen insgesamt sechzehn Personen,<br />

fünf Männer und elf Frauen, regelmäßig<br />

am Toralernkreis teil. Durchschnittlich erscheinen<br />

zwölf Personen zu jedem Treffen. Ihre Motive<br />

sind so unterschiedlich wie ihre Individualität.<br />

54<br />

Bernd Schröder, Abrahamische Ökumene? Modelle der theologischen<br />

Zuordnung von christlich-jüdischem und christlich-islamischem<br />

Dialog, in: <strong>Zeitschrift</strong> für Theologie und Kirche (ZThK) Bd.<br />

105/2008, S. 485f..<br />

55<br />

Martha Friedenthal-Haase, Wissensgesellschaft und lebenslanges<br />

Lernen, S. 216f.<br />

56<br />

Grete Schaeder, G. (Hg.): Martin Buber Briefwechsel aus sieben<br />

Jahrzehnten Bd. II: 1918-1938, Heidelberg 1973, S. 149.<br />

57<br />

Jürgen van Oorschot, „Das Alter als Spiegel des Lebens – Altern<br />

im Horizont der Bibel“ in: Friedenthal-Haase, M. u. a. (Hrsg.), Alt<br />

werden – alt sein, S. 65-78.<br />

Die einzige Vorbedingung für die Teilnahme ist<br />

das Interesse mitzulernen. Die Motive des Leiters<br />

des Kreises und Autors dieses Beitrags sind in<br />

seinem vitalen Interesse am christlich-jüdischen<br />

Dialog begründet. Christen sollen die im Christentum<br />

vernachlässigte Grundschrift der Bibel als<br />

heilige Schrift des Judentums besser kennen lernen.<br />

Nach jüdischer Weise sollen sie dazu Kommentare<br />

heranziehen und die von den Kirchen<br />

erst seit kurzer Zeit akzeptierte jüdische Auslegungsperspektive<br />

mit einbeziehen. Der Lernrhythmus<br />

richtet sich nach der Stellung, die die<br />

Tora im jüdischen gottesdienstlichen Leben einnimmt.<br />

So lernen Christen darauf zu achten, was<br />

sich parallel zum Kirchenjahr in den Synagogen<br />

ereignet und entdecken die enge Bezogenheit<br />

und Zusammengehörigkeit von Judentum und<br />

Christentum, deren gemeinsame Wurzel im biblischen<br />

Israel liegt. Sie erfassen etwas vom jüdischen<br />

Lernen der Tora – der göttlichen Weisung –<br />

um ihrer selbst willen, für das Ben Bagbag im<br />

abschließenden Satz des Mischnatraktats Avot<br />

(Sprüche der Väter 6,11) folgende Begründung<br />

gibt: „Wende sie hin und wende sie her, denn alles<br />

ist in ihr und in ihr verweile und von ihr weiche<br />

nicht, denn du hast kein besseres Maß als sie.“<br />

Hier eine kurze Charakterisierung der Lerngruppe:<br />

Von den sechzehn Teilnehmerinnen und<br />

Teilnehmern kommen sieben aus Stuttgart, neun<br />

aus Orten im Umkreis von bis zu 40 km. Vier<br />

Männer und drei Frauen sind erwerbstätig, die<br />

anderen im Ruhestand. Die Altersspanne reicht<br />

von Anfang vierzig bis etwa achtzig.<br />

In der Lerngruppe mit Altersunterschieden von<br />

bis zu vier Jahrzehnten kommen praktisch alle<br />

Lebensbereiche zur Sprache, werden Erfahrungen<br />

und Einsichten ausgetauscht und befragt, unterschiedliche<br />

Wertorientierungen mit Respekt<br />

behandelt und widersprüchliche Toraauslegungen<br />

als Chance zum Gespräch genutzt. Im Rahmen<br />

neuerer gerontagogischer Forschungen untersucht<br />

Jürgen van Oorschot das Thema Altern im<br />

Horizont der Bibel und identifiziert Leitbilder,<br />

die durch die Praxis gemeinschaftlichen Toralernens<br />

bestätigt werden. Toralernende begleiten ihr<br />

lebenslanges Altern mit lebenslangem Lernen.<br />

Im Toralernkreis geht es um Orientierungslernen,<br />

um individuelle Sinnsuche unter dem Leitbild<br />

erfüllten Lebens, um die Bedeutung kollektiver<br />

Werte und um soziale Bezogenheit, nicht nur<br />

horizontal in Bezug auf die heute lebenden Mitmenschen,<br />

sondern auch vertikal in Bezug auf die<br />

früheren Generationen und das geistige Erbe,<br />

das sie uns in den großen Texten der Tora und<br />

ihrer Kommentierungen hinterlassen haben. In<br />

der Beschäftigung mit biblischen Texten stellen<br />

sich nach van Oorschot alternden bzw. älteren<br />

Menschen besonders zwei Gestaltungsaufgaben:<br />

„das Miteinander und die Ablösung der Generationen<br />

sowie Lebensbilanz und Schuld“. 57 Das<br />

kritische Potenzial der Tora, die niemanden idealisiert<br />

und ein nicht geschöntes Bild menschlicher<br />

Größe und Grenzen vermittelt, regt an zur Reflexion<br />

eigener Grenzerfahrungen, eigenen<br />

Scheiterns, eigener Neuorientierung – in biblischer<br />

Sprache Umkehr genannt – und eigenen<br />

Versöhntseins mit dem Leben und den Menschen.<br />

Die Tora öffnet den sie Lernenden auch<br />

den Blick dafür, dass Menschen in ihren Unzulänglichkeiten<br />

und in ihrer Fehlbarkeit zugleich<br />

Empfänger und Träger göttlichen Segens sind.<br />

[…]<br />

Schluss<br />

Franz Rosenzweig nannte das Jüdische Lehrhaus<br />

in Frankfurt „frei“. Das bedeutet: es war offen für<br />

alle, die bereit zu konstruktiver Mitarbeit waren,<br />

und es war autonom. Diese beiden Freiheiten hat<br />

auch das Stuttgarter Lehrhaus. Es lädt offen ein,<br />

wünscht sich Neugier von denen, die kommen.<br />

Und es ist dank einer Stiftung unabhängig von<br />

allen Religionsgemeinschaften. Gleichwohl sind<br />

wir – man denke an die eingangs zitierte Auslegung<br />

des Psalmmotivs „von einer Kraft zur<br />

andern“ – an guten Beziehungen zur jüdischen<br />

Gemeinde, zu den Kirchen und zu muslimischen<br />

Verbänden sehr interessiert. Wir hoffen, dass wir<br />

das Interesse an den eigenen religiösen Wurzeln<br />

und am Gespräch mit Menschen anderer Religionen<br />

fördern und einen Beitrag zum friedlichen<br />

Zusammenleben in Stuttgart leisten können.<br />

Dr. Michael Volkmann ist Pfarrer für das Gespräch<br />

zwischen Christen und Juden in der württembergischen<br />

Landeskirche und Vorsitzender der Konferenz<br />

Landeskirchlicher Arbeitskreise Kirche und Judentum (KLAK).<br />

michael.volkmann@elk-wue.de<br />

Seite 50 — DIE LEHRHAUSBEWEGUNG<br />

DIE LEHRHAUSBEWEGUNG — Seite 51


C<br />

Anordnung der vier Innenräume:<br />

A Zentraler Kuppelsaal B Moscheeraum<br />

C Kirchenraum<br />

D Synagogenraum<br />

B<br />

A<br />

D<br />

„Wie soll in drei abgegrenzten Räumen Dialog möglich sein? Im<br />

Dazwischen. Unter einem Dach entsteht zwischen den Religionen<br />

quasi automatisch etwas Viertes, verbindende Räume, Leerstellen,<br />

in denen Austausch stattfinden kann.“ (Wilfried Kuehn)<br />

Wolfgang Raupach-Rudnick<br />

Ein Bet- und Lehrhaus auf dem Petriplatz in Berlin<br />

Misstraut den Grünanlagen, schrieb der Berliner<br />

Stadtspaziergänger und Schriftsteller Heinz<br />

Knobloch. In Berlin verbirgt sich unter ihnen<br />

fast immer Beachtenswertes. Auch am Petriplatz<br />

in Berlin Mitte empfängt uns heute eine eingezäunte<br />

Grünfläche. Noch vor fünf Jahren befand<br />

sich am selben Ort ein trister Parkplatz und<br />

darauf ein einsames Straßenschild: Petriplatz.<br />

Hier wo einmal der Kern des mittelalterlichen<br />

Cölln war, dessen letzten Rest die DDR mit der<br />

Ruine der Petrikirche sprengte, ist heute ein<br />

Nichts – asphaltierte Brache, Grünfläche. Umrandet<br />

von kahlen Plattenbauten, ordinärer Investorenarchitektur,<br />

eingeschnürt von den lauten<br />

Verkehrsschneisen der Breiten Straße und der<br />

Gertraudenstraße. Die drei winzigen aus ihrem<br />

Zusammenhang gerissenen Barockhäuser nahe<br />

der Gertraudenbrücke und das isolierte ehemalige<br />

Kaufhaus Hertzog von 1908 machen die<br />

Szenerie noch trübseliger.<br />

Als ab 2007 der Petriplatz freigelegt wurde und<br />

archäologische Grabungen begannen, wurde<br />

Berlin wieder der großen Bedeutung dieser<br />

Keimzelle der Stadt gewahr. So viel war unter<br />

dem Platz noch vorhanden! Reste einer alten<br />

Lateinschule, Reste des Rathauses, über 3.000<br />

Bestattungen, 220.000 Fundstücke aus der<br />

Geschichte Berlins und Fundamente und Steine<br />

von drei Petrikirchen.<br />

Die Petrikirchengemeinde, der das Grundstück<br />

rückübertragen wurde, begann sich zu fragen:<br />

Was braucht Berlin an diesem Ort – mitten in der<br />

Stadt? An diesem Ort, an dem das Miteinander<br />

von Religion und Stadt vor über 800 Jahren<br />

seinen Ausgang nahm? Welche Bedeutung hat<br />

die stadtgeschichtlich noch freizulegende Tiefenschicht<br />

in ihren Bezügen zur Geschichte von<br />

Judentum und Christentum seit dem 13. Jahrhundert<br />

und zum Islam seit dem 18. Jahrhundert<br />

in Berlin?<br />

Eine Geschichte, zu der auch der Lehrer an<br />

der Lateinschule Heinrich Knaust gehört, der<br />

1542 eine Schmähschrift gegen den Propheten<br />

Mohammed drucken ließ, ein noch immer lehrreiches<br />

Stück einer populistischen Manipulierung<br />

der Öffentlichkeit. Oder soll man daran erinnern,<br />

dass Gotthold Ephraim Lessing, es für unmöglich<br />

hielt, dass sein „Nathan der Weise“ jemals<br />

aufgeführt werden könnte, dass es aber Berlin<br />

war, wo im April 1783 die Uraufführung stattfand?<br />

Kurz: Es entstand der Plan, auf dem Petriplatz<br />

etwas Neues entstehen zu lassen – ein Haus, das<br />

die drei Religionen, Judentum, Islam und Christentum<br />

gemeinsam konzipieren, bauen, verantworten<br />

und betreiben, ohne ihre je eigene Identität<br />

zu verwischen.<br />

Ein Haus, das für die drei Religionen drei getrennte<br />

Sakralräume für das je eigene gottesdienstliche<br />

Handeln und einen gemeinsamen Bereich<br />

für Gespräch und Lehre enthält.<br />

Ein Haus, das dem wachsenden Bedürfnis nach<br />

einem Miteinander von Menschen unterschiedlicher<br />

religiöser oder weltanschaulicher Prägung<br />

Raum gibt. Wobei es nicht um die Verwässerung<br />

oder gar Aufgabe des je Eigenen geht, sondern<br />

darum, den eigenen Glauben im Angesicht der<br />

Anderen zu leben – und sich gemeinsam der säkularen<br />

Mehrheitsgesellschaft dieser Stadt auszusetzen<br />

und den Dialog und Diskurs miteinander<br />

zu suchen.<br />

Ein Haus des Gebetes, ein Haus der interdisziplinären<br />

Lehre über die Religionen, ihre Geschichte<br />

und ihre heutige Rolle in Berlin. Seine Anbindung<br />

an Berlins Vergangenheit soll durch ein<br />

„archäologisches Fenster“ im Boden des Neubaus<br />

gewährleistet werden.<br />

Ein viel beachteter internationaler Architektenwettbewerb<br />

wurde ausgeschrieben und 2012 mit<br />

dem Siegerentwurf des Architektenbüros Kuehn<br />

Malvezzi entschieden. Inzwischen ist auch ein<br />

Trägerverein für das Projekt gegründet worden:<br />

Bet- und Lehrhaus Petriplatz Berlin e. V. Ihm gehören<br />

an: das Abraham-Geiger-Kolleg, die Evangelische<br />

Kirchengemeinde St. Petri – St. Marien,<br />

das Forum für interkulturellen Dialog e. V. und<br />

die Jüdische Gemeinde Berlin.<br />

Nun bleibt nur noch zu hoffen, dass diese großartige<br />

Idee auch Wirklichkeit wird!<br />

Quellen: Infoschrift und Homepage des Vereins und ein Gespräch<br />

mit Roland Stolte von der Petrigemeinde.<br />

Schnitt durch das Gebäude<br />

A Archäologisches Feld. Im Untergeschoss birgt eine acht Meter<br />

hohe Halle die archäologischen Funde der ehemaligen<br />

Petrikirchen.<br />

B Empfangsbereich. Durch die archäologische Halle gelangt der<br />

Besucher in den zweigeschossigen, zylindrischen Empfangsbereich<br />

(mit Café), der von einer spiralförmigen Treppenanlage<br />

umschlossen wird.<br />

C Kuppelsaal und Sakralräume. Der Kuppelsaal fungiert als<br />

übersichtlicher Zentralraum der Begegnung und als Veranstaltungssaal<br />

für Lesungen, Konzerte, Ausstellungen. Er versammelt<br />

die drei separaten Sakralräume, die in regelmäßiger Form um<br />

ihn angeordnet sind und jeweils von ihm erschlossen werden.<br />

D Stadtloggia. Den Abschluss des Solitärbaus bildet der geschützte<br />

Turmraum der Stadtloggia in 32 Metern Höhe. Als letzte Ebene<br />

des Zentralraums ist die Stadtloggia ein weiterer Ort der<br />

Versammlung und der Meditation. Die sich abzeichnende<br />

Belichtungskuppel des Zentralraums verbindet die Loggia mit<br />

dem Kuppelsaal und lässt diesen in den Stadtraum hinein<br />

wirken.<br />

D<br />

C<br />

Seite 52 — BET- UND LEHRHAUS AUF DEM PETRIPLATZ<br />

B<br />

A<br />

A


Nachruf<br />

David Hartman ist gestorben<br />

Rabbiner Prof. David Hartman, einer der großen jüdischen Denker<br />

seiner Generation und Gründer des Shalom Hartman Institutes, ist<br />

am 10. Februar 2012 im Alter von 81 Jahren gestorben. Er gilt als<br />

einer der führenden Köpfe der liberalen Orthodoxie; sein Denken<br />

beeinflusste Zehn tausende von Juden in Israel und der Welt.<br />

Zum Gedächtnis an seinen Vater gründete David Hartman 1976 in<br />

Jerusalem das Shalom Hartman Institute. Seitdem ist das Institute<br />

zu einem Zentrum geworden, das eine pluralistische jüdische Weltsicht<br />

etablierte, den auf die Heraus forderungen antwortet, denen<br />

sich das gegenwärtige Judentum ausgesetzt sieht. Im Verlauf von<br />

vier Jahrzehnten unterrichtete und begleitete Rabbiner Hartman<br />

Gene rationen von Studierenden, die heute eine wichtige Rolle in<br />

jüdischer Erziehung und jüdischem Denken einnehmen. Als Mann<br />

der Tat wusste David Hartman, dass der Weg zu Veränderungen<br />

über ein pluralistisches Studienprogramm und Erziehungsinitiativen<br />

führt, in denen herausfordernde Fragen an die Tradition<br />

nicht nur erlaubt, sondern ermutigt werden. Das Hartman Institute<br />

hat ein pluralistisches jüdisches Gespräch begründet – kritisch und<br />

bedeutsam für das moderne Leben.<br />

Rabbiner Prof. David Hartman<br />

1931-2012<br />

David Hartman wurde 1931 in Brooklyn, N.Y., in eine<br />

ultra-orthodoxe Familie geboren. Er wurde in der Litauischen<br />

Lakewood Jeschiwa erzogen, die als wichtigste und angesehenste<br />

Jeschiwa Nordamerikas galt. Später studierte er bei Rabbiner Joseph<br />

B. Soloveitchik, der ihn auch zum Rabbiner ordinierte. Er schloss<br />

seine Studien mit dem Doktorgrad in Philosophie an der McGill<br />

Universität in Montreal, Kanada, ab. Nachdem er als Gemeinderabbiner<br />

in einer Anzahl von nordamerikanischen Gemeinden<br />

gearbeitet hatte, zog er nach dem Sechs-Tage-Krieg mit seiner<br />

Familie nach Israel. Er war Professor für Jewish Thought an der<br />

Hebräischen Universität in Jerusalem und diente als Berater<br />

mehrerer Ministerpräsidenten in den Fragen des religiösen Pluralismus<br />

in Israel. Sein Denken konzentriere sich auf die Schnittstelle<br />

der Traditionen der Vergangenheit mit den Herausforderungen der<br />

Gegenwart.<br />

In <strong>Begegnungen</strong> sind in den vergangenen Jahren folgende Beiträge von David Hartman<br />

erschienen: Religiöse Vielfalt und das Millenium, Heft 2, 2003, S. 15 – 17 | Gebet und<br />

religiöses Bewusstsein. Eine Untersuchung zum jüdischen Gebet in den Werken von<br />

Joseph B. Soloveitchik, Yeshajahu Leibowitz und Abraham J. Heschel, Heft 2, 2007,<br />

S. 14 – 25 | Israels Bedeutung für die Zukunft des Judentums, Heft 3, 2009, S. 12 – 19.


Rachel Sabath Beit-Halachmi<br />

David Hartman: Gelebte Leidenschaft<br />

David Hartman war ein starker und fordernder,<br />

brillanter, unruhiger und ungeduldiger, inspirierender<br />

und liebevoller Gigant. Es war nichts als<br />

Leidenschaft an ihm, einem der einflussreichsten<br />

Meinungsführer unserer Zeit. Seine Leidenschaft<br />

für die jüdische Tradition, den Staat Israel,<br />

das jüdische Volk, für Christen und Muslime und<br />

jedes menschliche Wesen war zugleich leidenschaftlich<br />

zugewandt als auch unbedingt fordernd.<br />

Ungeduldig nahm er jeden Text und jeden<br />

Menschen mit einer dringlichen Frage, die sofort<br />

beantwortet werden musste, in Anspruch – so<br />

als ob das ganze Judentum und die Zukunft des<br />

jüdischen Volkes und der Menschheit insgesamt<br />

von der Antwort abhinge.<br />

Jedes Jahr, über fast vierzig Jahre, kamen Hunderte<br />

– und inzwischen mehr als Zehntausend –<br />

Akademiker, Rabbiner, Laien, christliche und<br />

muslimische Wissenschaftler, israelische Erzieher,<br />

High School Studenten und Offiziere der<br />

Armee, um zu seinen Füßen im Shalom Hartman<br />

Institute zu sitzen. Durch ihn sind Millionen<br />

Menschen beeinflusst und durch sein Denken<br />

und seine versöhnende Vision eines religiösen<br />

Pluralismus, des Staates Israel und des jüdischen<br />

Volkes herausgefordert worden. Es ist fast<br />

25 Jahre her, als ich zum ersten Mal mit David<br />

Hartman an der Hebräischen Universität in Jerusalem<br />

Talmud studierte. Er nahm einen Talmudband,<br />

hielt ihn an seine Nase und schrie: „Können<br />

Sie das riechen? Können Sie die Ungereimtheiten<br />

und Zwiespältigkeit der Weisen in Bezug auf<br />

Frauen riechen?“ Und dann knallte er den<br />

schweren Talmudband auf den Tisch und las die<br />

gleichen Zeilen erneut, immer wieder. Erschöpft<br />

pflegte er dann einen Studenten zu bitten,<br />

sie noch weitere zehn Mal zu lesen, bis er der Ansicht<br />

war, dass wir anfingen, den Missklang in den<br />

Stimmen der Weisen in ihrem jahrhundertelangen<br />

Argumentieren zu hören, die Logik und<br />

Unlogik ihrer Argumente zu begreifen, und die<br />

Interpretationsaufgabe klar war.<br />

Es brauchte weitere zehn Jahre des Studiums,<br />

der Ordination zur Rabbinerin und zahlreicher<br />

Seminare zu Talmud und Philosophie mit anderen<br />

Wissenschaftlern, bevor ich nach Israel zog<br />

und es wagte, sein Beit Midrasch im Hartman<br />

Institute zu betreten. Die verbindlichen Regeln<br />

verlangten eine vollständige Bereitschaft zu<br />

lernen, sich anzustrengen und aus Liebe zur<br />

Sache zu kritisieren und ernsthaft über jeden<br />

Text und jeden Aspekt menschlichen Lebens<br />

nachzudenken. Er hasste es, wenn wir ihm zustimmten.<br />

Wenn wir ihn nicht herausfordern<br />

konnten, konnte er uns nicht respektieren. Sein<br />

Beit Midrasch pflegte eine Kultur ständiger<br />

Debatte, gegenseitigen Respekts, scharfer Kritik<br />

und großer Leidenschaft. Yeshayahu Leibowitz,<br />

der brillante Gelehrte und Bilderstürmer, und<br />

Krister Stendahl, der radikale Dean der christlichen<br />

Harvard Divinity School, nahmen ebenfalls<br />

teil, nicht nur durch ihre Texte, sondern leibhaftig.<br />

David lehrte und diskutierte mit ihnen<br />

allen in der gleichen ungeduldigen, herausfordernden,<br />

zugewandten Art. In seinem Beit<br />

Midrasch zu sein, bedeutete alles zugleich:<br />

verzehrend, erschreckend und höchst anregend.<br />

Er schrie, lachte und weinte – manchmal gleichzeitig<br />

– in einer Vorlesung oder beim täglichen<br />

Zusammentreffen über die Nachrichten oder ein<br />

neues Buch. Er kam fast täglich in mein Büro, um<br />

über irgendetwas zu diskutieren. Wenn Raketen<br />

auf Israel niedergingen oder Selbstmordattentäter<br />

Busse und Cafés in der Nachbarschaft in die Luft<br />

sprengten, kam er mehr als einmal herein und<br />

schrie mich an: „Warum hassen sie uns so sehr?!“<br />

Oder, in ruhigeren Zeiten, kam er herein, griff<br />

eine theologische Neuerscheinung, die auf<br />

meinem Tisch lag und sagte: „Warum können sie<br />

keine ernsthafte Theologie treiben?“ Aber er<br />

hörte auch genau zu, wenn ich eine herausfordernde<br />

Antwort gab, und dann – aufgebracht<br />

oder beruhigt über meine Antwort – schoss er<br />

eine Salve weiterer Fragen ab – fragte nach meinem<br />

Mann oder den Kindern, deren Namen er<br />

kannte, wie unsere kleine Reformgemeinde lief<br />

und warum ich nicht mehr akademisches Zeug<br />

schrieb und wie ich mich fühlte. Mit David Hartman<br />

zusammen zu sein, mit ihm zu studieren und<br />

für ihn zu arbeiten war die einzigartige Erfahrung,<br />

gleichzeitig beständig herausgefordert zu<br />

sein, gerüffelt zu werden und akzeptiert zu sein.<br />

Nichts konnte inspirierender sein.<br />

Während die meisten von uns seinen Anforderungen<br />

wohl nicht genügt haben, können wir<br />

dennoch die Visionen erfüllen, die er in uns<br />

geweckt hat. Und so wird seine Tora und die<br />

liebevolle Kraft seiner Leidenschaft weiter von<br />

Jerusalem ausgehen.<br />

Seite 56 — NACHRUF NACHRUF — Seite 57


Zu orientieren vermag die neue Studie in der<br />

Diskussion um Land und Staat Israel allemal.<br />

Klaus Müller<br />

Gelobtes Land? – ein „rhetorisches“ Fragezeichen?<br />

In der Tat: „Die hier vorgelegte Orientierungshilfe<br />

greift ein ebenso akutes wie sensibles und<br />

zugleich herausforderndes Thema auf. Viele<br />

Christinnen und Christen sind angesichts der<br />

ungelösten politischen Konflikte – insbesondere<br />

zwischen Israelis und Palästinensern – verunsichert.<br />

Sie fragen ebenso nach politischen<br />

Lösungswegen wie nach einem angemessenen<br />

Verständnis des Staates Israel aus christlicher<br />

Sicht und einer theologisch verantworteten und<br />

zeitgemäßen Deutung biblischer Landverheißungen.“<br />

(Vorwort, 9)<br />

Zu orientieren vermag die neue Studie in der<br />

Diskussion um Land und Staat Israel allemal. Informativ<br />

und pointiert führt sie in neun Schritten<br />

durch das vielfältige Spektrum der Bezugnahmen<br />

auf das „Heilige Land“, das „Gelobte Land“ –<br />

Konfliktfeld zwischen Israelis und Palästinensern.<br />

Die Studie – beauftragt durch die Kirchenbünde<br />

EKD, UEK und VELKD - beeilt sich in einem<br />

ersten Abschnitt ihre vorgängigen Grundpositionen<br />

zu klären: „die bleibende Verbundenheit<br />

der Christen mit Israel als dem erstberufenen<br />

Gottesvolk“, den Respekt für „jüdisches Selbstverständnis,<br />

auch im Bezug auf das Land“ sowie<br />

das Ja zum „Existenzrecht des Staates Israel.“ (16)<br />

Sofort tritt neben diese Klärungen die Betonung<br />

der ökumenischen Verbundenheit mit den<br />

Kirchen vor Ort und das „Bewusstsein für die Not<br />

der palästinensischen Bevölkerung …, deren<br />

Forderung nach einem eigenen Staat sich bisher<br />

nicht erfüllt hat.“ (20/21) Ein zweiter Abschnitt<br />

beschreibt in knappen Zügen die Bezüge der<br />

Bibel beider Testamente auf das Land Israel. Der<br />

dritte vergleichsweise ausführliche Abschnitt<br />

erweist sich unter der Überschrift „Land Israel im<br />

nachbiblischen Judentum“ als Fundgrube nicht<br />

immer leicht zugänglicher Quellentexte für die<br />

vielfältige jüdische Bezugnahme auf das Land<br />

durch die Geschichte hindurch bis in unsere Tage.<br />

Summarisch schließt dieser Abschnitt:<br />

„Heute gibt es nirgends auf der Welt jüdisches Leben,<br />

das nicht in irgendeiner Beziehung zum jüdischen<br />

Staat stünde.“ (49)<br />

Freilich gibt es auch – und dies trägt zur Brisanz<br />

des Themas bei – eine „Kirchengeschichte des<br />

Heiligen Landes‘“, so die Ausführungen im vierten<br />

Abschnitt. Die Kirche Jesu Christi nimmt<br />

ihren Ausgang von Jerusalem im biblischen Lande<br />

Israel, dem Wirkungsort des irdischen und<br />

auferweckten Herrn. Wenngleich das Gelobte<br />

Land unter den Chiffren „Heiliges Land“ oder<br />

„Terra Sancta“ als spiritualisiertes Ziel frommer<br />

Pilgerschaft in den Blick kommt, so wird es doch<br />

auch nicht zuletzt unter den Kreuzfahrern zum<br />

Objekt sehr realer Zugriffe. Nach der jüdischen<br />

und der christlichen Affinität zum Land Israel<br />

widmet sich der fünfte Abschnitt knapp und<br />

doch präzise der Bedeutung des Landes in der<br />

islamischen Welt. Dass der Verweis auf die antisemitischen<br />

„Protokolle der Weisen vom Zion“<br />

nun aber ausgerechnet innerhalb dieses Kapitels<br />

erfolgt (68), kann als vermeidbarer und irreführender<br />

Lapsus vermerkt werden. Dass dieser<br />

Abschnitt indes schließt mit einer Erinnerung an<br />

die Alexandria-Erklärung von 2002, ist wichtig;<br />

denn in der Tat geht es dabei um ein interreli<br />

giöses profiliertes „Beispiel für eine auf gegenseitigem<br />

Respekt beruhende Haltung zum Land<br />

Israel“. (69) Nach einem Blick im sechsten Abschnitt<br />

auf das kirchliche Leben im „Heiligen<br />

Land“ – mit Fug und Recht zu bezeichnen als<br />

„Mikrokosmos der christlichen Welt“ (70) –<br />

widmet sich Abschnitt sieben den konzeptionellen<br />

Entwürfen zum Verständnis von „Land und<br />

Staat Israel“ in neuerer Zeit. Unter dem Stichwort<br />

der „Israeltheologien im 20. Jahrhundert“<br />

(78) mag die Auswahl von Karl Barth bis Bertold<br />

Klappert etwas einlinig ausgefallen erscheinen –<br />

jedenfalls wird der theologische Entwicklungsgang<br />

bis hin zum später intensiver diskutierten<br />

Zeichencharakter des Staates Israel einigermaßen<br />

deutlich. Kurz und prägnant figurieren die Informationen<br />

zur „Haltung des Vatikans“ (81/82), um<br />

sodann dem sogenannten „Christlichen Zionismus“<br />

und seiner sozusagen apokalyptisch-verzweckten<br />

Israelsympathie ein klares Nein entgegenzusetzen.<br />

Dieses Nein hat nicht zuletzt seine<br />

Funktion auch im Gespräch mit der seit den 80er<br />

Jahren sich entwickelnden kontextuellen Theologie<br />

palästinensischer Provenienz, die gerade in<br />

einer Position unkritisch-fundamentalistischer<br />

Israelbegeisterung in der westlichen Frömmigkeit<br />

einen Hauptgegner benannt hat. Palästinensische<br />

Theologen von Naim Ateek bis Mitri Raheb<br />

werden in ihren Entwürfen den Umrissen nach<br />

beschrieben und bezogen auf das in neuester Zeit<br />

wirkungskräftigste Zeugnis palästinensischer<br />

Theologie, das „Kairos-Palästina-Dokument“ von<br />

Seite 58 — GELOBTES LAND? – EIN „RHETORISCHES“ FRAGEZEICHEN? GELOBTES LAND? – EIN „RHETORISCHES“ FRAGEZEICHEN? — Seite 59


Anschriften<br />

2009. In kritischer Replik auf „Kairos“ erinnert die<br />

Studie an die Position der EKD-Studien sowie<br />

der Erklärung der GEKE, eine Universalisierung<br />

der Landverheißung dürfe die Besonderheit der<br />

Erwählung Israels nicht überspringen. Mit diesen<br />

Überlegungen ist die Orientierungshilfe zu einem<br />

ihrer entscheidenden Anliegen vor gedrungen,<br />

nämlich die bekannte und viel diskutierte Formel<br />

des rheinischen Synodalbeschlusses kritischpräzisierend<br />

zu unterstreichen: eben die „Einsicht,<br />

daß die fortdauernde Existenz des jüdischen<br />

Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung<br />

und auch die Errichtung des Staates Israel<br />

Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk<br />

sind“ (89). Diese Formulierung nötigt die Verfasserinnen<br />

und Verfasser zu einem achten Abschnitt<br />

mit dem Thema „Evangelisches Staatsverständnis<br />

und der Staat Israel“. Die naturgemäß nicht spannungsfreie<br />

Bipolarität des Staates Israel als<br />

„jüdisch“ und „demokratisch“ wird benannt und<br />

mit der Verpflichtung auf Freiheit, Gerechtigkeit<br />

und Frieden der entscheidende Kriterienkatalog<br />

für die Legitimität jedweder Staatlichkeit – auch<br />

derjenigen Israels - formuliert (100). Biblischtheologisch<br />

sieht die Studie die Landverheißung<br />

sozusagen im Gefälle der Zusage der Bewahrung<br />

des Gottesvolkes. Unter Wahrung der notwendigen<br />

Distinktionen zwischen Verheißung und<br />

staatspolitischer Realität sagt die Orientierungshilfe<br />

Grundsätzliches: „Die Rückkehr von<br />

Jüdinnen und Juden in das Land Israel und dem<br />

folgend die Gründung des Staates im Jahr 1948<br />

sind damit für Christen kein unmittelbares religiöses<br />

Ereignis. Wohl aber sind sie Grund zur<br />

Mitfreude am Überleben des von Gott erwählten<br />

jüdischen Volkes und Grund zur Dankbarkeit<br />

Gott gegenüber, der sein Volk bewahrt hat und bis<br />

heute bewahrt. Auch die Gründung des Staates<br />

kann als ein Mittel erscheinen, um unter den Bedingungen<br />

der unerlösten Welt und angesichts der<br />

realen Konflikte im Nahen Osten Jüdinnen und<br />

Juden ein Leben in Recht und Frieden zu ermöglichen.<br />

In diesem Sinn kann die Gründung des<br />

Staates Israel als ‚Zeichen der Treue Gottes zu<br />

seinem Volk‘ gedeutet werden“ (107/108).<br />

„Gelobtes Land?“ – Ja, bitte! Der Versuch einer<br />

Orientierung auf schwierigem Terrain kann getrost<br />

verzichten auf das Stilmittel der rhetorischen<br />

Frage. Dieses Land ist „gelobt“, „versprochen“ und<br />

„verheißen“ – auch wenn das Tun derer, die es<br />

bewohnen, längst (noch) nicht das Prädikat<br />

„lobenswert“ verdient.<br />

Prof. Dr. Klaus Müller ist Beauftragter der Ev. Landeskirche in<br />

Baden für das christlich-jüdische Gespräch<br />

Mueller-kl@t-online.de<br />

Impressum<br />

<strong>Begegnungen</strong> / gegr. 1903 als Friede über Israel<br />

<strong>Zeitschrift</strong> für Kirche und Judentum<br />

Erscheint zweimal jährlich 96. Jahrgang, Heft 1<br />

ISSN 1612-4340<br />

Herausgeber Wolfgang Raupach-Rudnick im<br />

Auftrag des Evangelisch-lutherischen Zentralvereins<br />

für Begegnung von Christen und Juden e. V.<br />

Redaktion Wolfgang Raupach-Rudnick (verantw.),<br />

Hans-Jürgen Müller, Dr. Ursula Rudnick<br />

Wittekindstr. 15, 30449 Hannover<br />

Telefon 05 11/ 44 12 04<br />

wolfgang.raupach@gmx.de<br />

Vertrieb und Abonnement<br />

Geschäftsstelle des Zentralvereins<br />

Iryna Sheps, Archivstr. 3, 30169 Hannover,<br />

Telefon 05 11/ 12 41-5 87<br />

rudnick@kirchliche-dienste.de<br />

Evangelisch-lutherischer Zentralverein<br />

für Begegnung von Christen und Juden e. V.<br />

Vorsitzende<br />

Pastorin Dr. Ursula Rudnick<br />

Archivstr. 3, 30169 Hannover<br />

Telefon 0511 / 1241- 434<br />

rudnick@kirchliche-dienste.de<br />

Begegnung von Christen und Juden (<strong>BCJ</strong>),<br />

Verein zur Förderung des christlich-jüdischen Gesprächs<br />

in der Ev.-luth. Kirche in Bayern e.V.<br />

Vorsitzender<br />

Pfarrer Dr. Johannes Wachowski<br />

Wernsbach 32, 91629 Weihenzell<br />

Telefon 09 81/ 8 78 56<br />

pfarrer@wachowski-online.de<br />

Begegnung – Christen und Juden. Niedersachsen e. V.<br />

Vorsitzende<br />

Pastorin Karin Haufler-Musiol<br />

Kirchstr. 18, 27324 Eystrup<br />

karin.musiol@gmx.de<br />

Selbständig Ev.-luth. Kirche<br />

Koordinator für Kirche und Judentum<br />

Kirchenrat Pfarrer Michael Schätzel<br />

Schopenhauerstr. 7, 30625 Hannover<br />

selk@selk.de<br />

Nordelbischer Verein für Zeugnis und Dienst<br />

unter Juden und Christen e. V.<br />

Vorsitzender<br />

Pastor Dr. Philipp Kurowski<br />

Am Kirchberg 16, 24991 Großsott<br />

Telefon 0 46 02 / 95 90<br />

philipp.kurowski@web.de<br />

Satz und Gestaltung<br />

initiativ-werbung, Benjamin Urban<br />

Druck<br />

Steppat Druck GmbH<br />

Bezugspreis 15 Euro jährlich<br />

Für Mitglieder des Zentralvereins und seiner<br />

Mitgliedsvereine ist der Bezugspreis durch den<br />

Mitgliederbeitrag abgegolten.<br />

Konto Nr. 0 615 463<br />

bei der Ev. Kreditgenossenschaft<br />

Hannover (BLZ 250 607 01)<br />

Jüdisch-Christliche Arbeitsgemeinschaft Leipzig<br />

Vorsitzender<br />

Dr. Timotheus Arndt<br />

Haus der Kirche<br />

Burgstr. 1-5, 04109 Leipzig<br />

Telefon 03 41/ 2 12 00 94 35<br />

info@jcha.de<br />

Institutum Judaicum Delitzschianum<br />

Wilmergasse 1, 48143 Münster<br />

Telefon 02 51/ 8 32 25 61<br />

ijd@uni-muenster.de<br />

Seite 60 — GELOBTES LAND? – EIN „RHETORISCHES“ FRAGEZEICHEN?


<strong>Begegnungen</strong> | gegr. 1903 als Friede über Israel<br />

<strong>Zeitschrift</strong> für Kirche und Judentum<br />

ISSN 1612­4340 | Bezugspreis 15 Euro jährlich

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