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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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„Die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung“ … 99<br />

benen Tangotextes, der eine so drakonische Strafe (Gefängnishaft) nach sich zog.<br />

Sein Beitrag zum Geschichtsbewusstsein hatte sich nach eigener Aussage auf<br />

das Zusammentragen revolutionär-romantischer ‘Anekdoten’ aus den Anfängen<br />

der Arbeiterbewegung beschränkt. Den beunruhigenden Prager Ereignissen des<br />

Jahres <strong>19</strong>68 gegenüber verhält er sich gänzlich desinteressiert. Gerade diese Haltung<br />

aber ‘schützt’ ihn im heiklen Monat August, ‘Fehler’ zu begehen, sie wird<br />

gleichsam ‘belohnt’. Denn Roessler, der, während Dallow im Gefängnis saß, an<br />

dessen Stelle zum Dozenten avancierte, übersieht im Eifer, nichts ‘falsch’ zu<br />

machen, die Grube (er behauptet öffentlich, dass die Truppen der DDR niemals<br />

in die Prager Ereignisse eingreifen würden) und fällt hinein. Dallow kehrt nun<br />

ins ‘Gleis’ des Historischen Institutes zurück, jetzt wiederum Nutzen ziehend<br />

aus Roesslers groteskem Missgeschick, und kann sich den Gag leisten: „Eine<br />

Bedingung [...]. Keine Vorlesungen früh um sieben.“ 17 Erst will er die Nachrichten<br />

gehört haben.<br />

Hein legt Wert auf die banale Durchschnittlichkeit seiner Figur: Dallow<br />

wird weder zum Moralisten hinaufstilisiert noch als Beispiel einer Wandlung hin<br />

zum systemkritischen Opponenten vorgeführt. Er steht in jeder Hinsicht unter<br />

Druck, er ist unfähig zur Freiheit, und es fehlen ihm sozusagen die Räume für<br />

die Freiheit. Mehrfach wird auf die diffuse Strafdrohung verwiesen, die jedermann<br />

fühlt. Einmal heißt es sarkastisch:<br />

Offenbar steht das ganze Land mit einem Bein im Zuchthaus. Bis auf die Strafgefangenen<br />

und die Vollzugsbeamten. 18<br />

Aber es stellt sich eben heraus, dass der aus der Haft Entlassene in einem anderen<br />

Sinne mit einem Bein in der Zelle stecken geblieben ist. Er kann nämlich noch<br />

weniger als vorher Entscheidungen treffen, er sehnt sich nach einer Situation, in<br />

der wieder für ihn Vorsorge getroffen wird.<br />

An den Wendepunkten der Handlung setzt bei Hein die Realität als Groteske<br />

ein. Der Verfasser jener Tangoparodie arbeitet inzwischen für ein Leipziger<br />

Berufskabarett, und was einst in den Knast führte, wird jetzt von dem<br />

Richter beklatscht, der einst den Prozess gegen ihn führte. Er freut sich, dass<br />

„wir ein ganzes Stück weitergekommen sind“ <strong>19</strong> . In einer langen Suada erklärt er<br />

17<br />

Christoph Hein: Der Tangospieler. Erzählung. Berlin, Weimar <strong>19</strong>89, S. 204.<br />

18<br />

Ebd., S. 59.<br />

<strong>19</strong><br />

Ebd., S. 133.

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