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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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„Die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung“ … 97<br />

zierte Erzähler getreten, dessen Position und Erzählperspektive in einer Vielzahl<br />

von gegensätzlichen Zeugenprotokollen aufgelöst bzw. montiert ist. Innerhalb<br />

der Einzelaussage und -situation prägt der Verzicht auf schlüssige, kontinuierliche<br />

Geschehensdarstellung zugunsten punktueller, nicht einer Entwicklung<br />

folgender, sondern Bruchstücke reihender Erzählweise die Erzählstruktur.<br />

Vom gebrochenen Spiegel – einer Erfindung der Filmtechnik – erzählt<br />

Dr. Spodeck Horn in einer Sprechstunde. Mit Hilfe des gebrochenen Spiegels<br />

können aus Filmdokumenten Teile eines Bildes entfernt oder aber neue, nicht<br />

dazu gehörige Bilder eingespiegelt werden. Diese Erfindung zur Manipulation<br />

von Filmdokumenten und damit auch von Geschichtsschreibung vergleicht Spodeck<br />

mit dem menschlichen Erinnerungsvermögen:<br />

Wir speichern nicht ein Geschehen, sondern unser Bewusstsein, unser Denken<br />

über ein Ereignis. Es sind persönliche Erinnerungen, was nicht weniger sagen will,<br />

als dass all unser Erinnern kein Bild der Welt liefert, sondern ein durch das Spiegelkabinett<br />

unseres Kopfes entworfenes Puzzle jenes Bildes mit unseren individuellen<br />

Verspiegelungen, Auslassungen und Einfügungen. 15<br />

Folglich kann es kein eindeutiges Bild der Realität geben; alle Aussagen über<br />

Geschichte sind notwendigerweise subjektiv und verändern sich in Abhängigkeit<br />

vom Blickwinkel des Beobachters.<br />

Der in zahlreiche Splitter zerbrochene Spiegel erzeugt ein Kaleidoskop;<br />

immer neue Bilder können durch das unterschiedliche Zusammenlegen der Teile<br />

entstehen. Jedes Teil ist Fragment und spiegelt nur einen kleinen Ausschnitt<br />

der Wirklichkeit wider. So wie der Leser die von den Erzählern zur Verfügung<br />

gestellten Erinnerungsfragmente selbst zusammensetzen, interpretieren und<br />

nach Widersprüchen befragen muss, so bleibt auch jede Geschichtsschreibung<br />

fragmentarisch, abhängig von der subjektiven Sicht des einzelnen und den<br />

Bedingungen der Gegenwart.<br />

Eine ähnliche Erfahrung macht der 12jährige Thomas, der vor dem dreiteiligen<br />

Frisierspiegel der Mutter sitzt und sieht, wie er durch die Bewegung der<br />

Seitenteile sein Gesicht verändern kann. Wie Spodeck im Gespräch mit Horn<br />

beschreibt, so entdeckt Thomas, dass es möglich ist, das Gesicht mit wenigen<br />

Handgriffen zu vervielfachen, es zu einer Fratze zu verziehen, es in unerreichbare<br />

Ferne zu rücken oder Teile verschwinden zu lassen. Es ist möglich, Teile<br />

15<br />

Ebd., S. 280.

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