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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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96<br />

Klaus Hammer<br />

liche Ferne“ 13 und „Fremdheit“ in die kleinbürgerliche Enge und Bedrücktheit<br />

und stören als ethnische Menschengruppe, die vom Nationalsozialismus verfolgt<br />

wurde, den „unveränderbaren, wohlbehüteten Ablauf der Zeit“ 14 .<br />

Der Autor zwingt die Zeugen, die selbst als Opfer verstanden werden wollen,<br />

sich in den bezeugten Szenen als Akteure zu offenbaren, agierend unter<br />

anderen Akteuren (der Kunstmaler Gohl und seine Frau Gudrun, Kruschkatz’<br />

Frau Irene, Kruschkatz’ Stellvertreter Bachofen, Frau Fischlingers Sohn Paul,<br />

Spodecks Hausmädchen Christine u. a.), die wieder nur in ihrer Schilderung vorhanden<br />

sind. In der Re-Produktion dieser Aussagen, die mit Handlungsfakten<br />

abgestützt sind, steht Aussage gegen Aussage, Person gegen Person, Wahrheit<br />

gegen Wahrheit, Lüge gegen Lüge. Hein zerstört ständig die Figurenperspektive,<br />

kontert die eine durch die andere; jede Figur setzt eine andere Perspektive und<br />

verlangt sie zugleich auch für sich. Es ergeben sich Momente, die simultan und<br />

nebeneinander gesehen und – quasi als Meta-Begebnisse – um den Tod Horns<br />

und seine direkten Folgen bzw. Nicht-Folgen herum gruppiert sind. Der Kunstgriff<br />

besteht in der stilistischen Schockierung, im unvermittelten Tonwechsel<br />

des Erzählungsprotokolls, das einen Aspekt durchhält, um- und abbricht und an<br />

anderer Stelle wieder aufnimmt.<br />

Dennoch ergeben die Recherchen, die Erinnerungsbefragung letztendlich<br />

nichts. Die Genauigkeit der beabsichtigten Nachfrage erzielt eigentlich<br />

nur Ungenauigkeit. Der Zeugenbericht als methodisches Verfahren scheitert an<br />

der versuchten Aufklärung des Motivs. Die authentische, ‘wahrheitsgemäße’<br />

Beschreibung, die sich scheinbar jeder Manipulation und Täuschung versagt,<br />

stellt sich gerade als eine Methode des Verhüllens und Verschweigens dar. Hein<br />

referiert den ‘Fall’ in den subjektiven Spiegelungen, Brechungen und Verzerrungen<br />

der Zeugenaussagen, er referiert auch und vor allem die ‘Leerstellen’, das<br />

Unaufgeklärte und scheinbar Unaufklärbare und reißt damit immanente Widersprüche<br />

auf. Wenn die non-fiction-Schreibweise auch das anvisierte singuläre<br />

Tatmotiv nicht einbringen kann oder gar nicht will, so soll sie im Sinne der Negation<br />

der Negation eine mögliche Aufhebung oder Verallgemeinerung des Einzelfalls<br />

im Bewusstsein des Lesers leisten, indem sie seine Kritik herausfordert.<br />

Die noch an ein festes Erzähler-Ich gebundene Erzählperspektive im Fremden<br />

Freund ist von Hein hier preisgegeben worden. An ihre Stelle ist der redu-<br />

13<br />

Ebd., S. 10.<br />

14<br />

Ebd., S. 29.

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