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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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„Die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung“ … 95<br />

gewesen, wenn bestehende Verhältnisse genau benannt wurden. Nicht der Archipel<br />

Gulag sei das Schlimme, sondern dass Solschenizyn die Untat beging, ihn<br />

zu benennen.<br />

DER ‘FALL’ HORN<br />

Wie geht Hein nun in seinem Roman Horns Ende vor? Die Story entwickelte<br />

er zunächst chronologisch, vom Frühjahr <strong>19</strong>57, als die Zigeuner ihr<br />

Lager inmitten der Kleinstadt Guldenberg aufschlugen, bis zum Freitod Horns<br />

und schließlich bis zum frühen Herbst <strong>19</strong>57, als die Zigeuner die Stadt für immer<br />

verlassen. Beide Ereignisse haben kausal scheinbar nichts miteinander zu tun,<br />

aber in der Erinnerung der Guldenberger bleiben sie eng miteinander verbunden.<br />

Der Erzähler erforscht den Jahrzehnte zurückliegenden ‘Fall’ und beschreibt den<br />

Weg Horns in zweifacher Richtung: vom stattgefundenen Tod zurück in die erinnerte<br />

Vergangenheit, und von der Vergangenheit bis zum Tod Horns. Aber eigentlich<br />

erfahren wir durch die Lebenszeugen weniger über Horn als vielmehr über<br />

die Figuren selbst. Die Aussagen des Arztes Dr. Spodeck, des Apothekersohnes<br />

Thomas, der Krämersfrau Fischlinger, des Bürgermeisters Kruschkatz und des<br />

geistesgestörten Mädchens Marlene Gohl gleichen Erinnerungsprotokollen, die<br />

untereinander wieder nach dem Prinzip der Spiegelung und Rückspiegelung<br />

arrangiert sind. Das sokratische ‘Erinnere Dich’, jedem Kapitel vorangestellt,<br />

löst mehr ein Erinnern an eigene unbewältigte Lebenswirklichkeit aus. Horn<br />

ist auch am Schluss eine fremde Figur; die Motive seines Selbstmordes bleiben<br />

letztlich ungeklärt.<br />

Die Story um den ‘Fall’ Horn trägt ihren Anlass in sich selbst, und sie<br />

geschieht auch aus sich selbst heraus. Sie bleibt der Zwischenfall in der Kleinstadtgesellschaft,<br />

der „Fall ohne Folgen“ 12 . Unbeeindruckt geht das Leben so wie<br />

bisher weiter. Diese totale Festschreibung der Welt und Verinselung des Katastrophalen<br />

ist ein methodisches Konzept Heins. In den Zeugenaussagen wird<br />

der Leser mit einem mechanisch ablaufenden Uhrwerk von Niederträchtigkeiten<br />

und Schäbigkeiten konfrontiert; die Figuren sind Werkzeug eines unaufhaltsam<br />

abrollenden Geschehens, das nur durch wenige Lichtpunkte von Menschlichkeit<br />

durchbrochen wird. Die Zigeuner stellen durch ihre bloße Präsenz in der Stadt<br />

die vorgebliche Rechtschaffenheit der Bürger in Frage. Sie bringen „unbegreif-<br />

12<br />

Christoph Hein: Horns Ende. Roman. Berlin, Weimar <strong>19</strong>85, S. 272.

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