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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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94<br />

Klaus Hammer<br />

die das Bestehende eindeutig und genau analysiert [...]. Wenn ich meine gegenwärtige<br />

Situation mitleidlos und distanziert genug, ohne Hass und Eifer betrachten<br />

kann, auch gnadenlos genug, dann, denke ich, ist dies eine Chance, einen künftigen<br />

Weg zu finden. 8<br />

Die Aufklärung der Gegenwart hängt also ab vom Verstehen der Vergangenheit,<br />

dem Wissen meiner eigenen Geschichte und der Geschichte der Gesellschaft. Der<br />

Kontrast zwischen (abwesendem) Ich und (anwesendem) Beobachter in Claudias<br />

Text dürfte also auf mehr hinweisen als auf den Bericht einer blockierten Identität.<br />

Ihre soziale Emanzipation ist praktisch mit völliger emotionaler Verarmung erkauft.<br />

Heins Aufklärung der äußeren Erscheinungen sind Oberflächenprotokolle<br />

der Überlebensstrategien eines perfekt funktionierenden Ich. Die emanzipierte,<br />

funktionelle Beziehung zwischen Claudia und Henry, diesen beiden Fremden,<br />

wird aufrechterhalten durch das Nichtvorhandensein von Kommunikation, durch<br />

Kälte, Langeweile und Entfremdung. Beide versuchen zu leben, zu überleben,<br />

indem sie sich von ihrer Vergangenheit wie Zukunft lösen. Ihre Gegenwart aber<br />

ist erfüllt von der Leere des Wartens darauf, dass etwas geschieht. Das „Mir geht<br />

es gut“ 9 der Claudia ist die schlimmste Bankrotterklärung des Ich und damit<br />

einer Gesellschaft, die dem einzelnen Identität, das Leben in sich selbst, verweigert.<br />

Es ist aber darüber hinaus die Frage nach dem Preis der Zivilisation in der<br />

modernen Gesellschaft, sowohl im Osten als auch im Westen.<br />

Wenn sich Hein als Chronist im Sinne der Chronistenschreiber des 14. und<br />

15. Jahrhunderts betrachtet, dann schließt er hier Genauigkeit des Erzählens,<br />

direkte Mitteilung über die Welt genauso ein wie die Distanz, die aber keineswegs<br />

Nichtidentität bedeuten muss. „Natürlich gibt es keinen Text, in dem der<br />

Autor nicht drin ist. Und natürlich wählt der Chronist auch aus“ 10 , strebt also<br />

subjektive Objektivität an. Nicht der Vorgang ist das eigentlich Fürchterliche,<br />

sondern sein Benennen. Und immer wieder hat Hein das Marx-Wort (aus dem<br />

Vorwort zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie) gebraucht: „Wenn man<br />

den versteinerten Verhältnissen die eigene Melodie vorspielt, dann zwingt man<br />

sie halt zum Tanzen.“ 11 In den letzten 800 Jahren sei es immer ein Verbrechen<br />

8<br />

Krzysztof Jachimczak: Gespräch mit Christoph Hein. In: Sinn und Form. Jg. 40. Berlin<br />

<strong>19</strong>88, S. 347.<br />

9<br />

Christoph Hein: Der fremde Freund. Berlin, Weimar <strong>19</strong>82, S. 212.<br />

10<br />

Hein im Gespräch mit Meyer-Gosau. In: Arnold (Hg.): Christoph Hein, S. 89.<br />

11<br />

Gespräch mit Christoph Hein. In: Hammer (Hg.): Chronist ohne Botschaft, S. 13 f.

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