Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
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„Die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung“ … 93<br />
wollen: „Es macht mich krank, weil die Gesellschaft irgendwo krank ist.“ 6 Die<br />
Diagnose der Gesellschaft in seinen Werken ist auch die der Krankheit der Gesellschaft.<br />
In der Geschichte der Ärztin Claudia (Der fremde Freund/Drachenblut),<br />
die da scheinbar fühllos über sich selbst berichtet, die alles unter Kontrolle, alles<br />
im Griff hat, versuchte der Autor – so in einem Gespräch <strong>19</strong>91 –:<br />
[...] etwas von dem zu benennen, was ich gesehen habe, was vorhanden, fast<br />
unübersehbar war. Es war für mich eine DDR-Geschichte. Aber sie wurde<br />
in 40 Ländern übersetzt, und auch an den Briefen aus sehr unterschiedlichen<br />
Ländern merkte ich, dass da offenbar noch etwas war, was auch in anderen Ländern<br />
vorhanden ist. In der ‘New York Times’ hieß es dann auch: Die Frau lebe<br />
in Ostberlin, aber das Barometer stehe auf der gleichen Stelle wie in New York.<br />
Also ist da irgendetwas Übergreifendes, und ich vermute nachträglich, dass es<br />
eben etwas mit dem Stand der Zivilisation zu tun hat, die ja doch in den sonst so<br />
politisch so unterschiedlichen Ländern vergleichbar ist. 7<br />
Zwei unterschiedliche Leseperspektiven und Lesemodelle wirken hier zusammen,<br />
ihre Verbindung und Interaktion machen die Irritation und zugleich Faszination<br />
von Heins Novelle Der fremde Freund/Drachenblut aus. Der Leser ist aufgefordert,<br />
durch die Erzählerin Claudia im doppelten Sinne des Wortes zu sehen: unter<br />
ihrem Text den versteckten Untertext und gleichzeitig die Gesellschaft aus ihrer<br />
Optik zu betrachten. In dieser Doppelfunktion des Erzählens nimmt das Ich die<br />
Doppelposition von Subjekt und Beobachter ein. Subjekt und Untertext stellen<br />
das eine Lesemodell dar. Es funktioniert mit Hilfe der Unterscheidung von Oberfläche<br />
und Tiefe, Gesagtem und Ungesagtem. Indem Claudia sich weigert, sich<br />
selbst zu überprüfen, und alles verdrängt – das Wiederfinden der begrabenen<br />
Vergangenheit, die heilende Macht der Erinnerung –, nimmt die blanke Oberfläche<br />
von Bildern (Abziehbildern), die aufeinander folgen, ohne eine tiefe Spur zu<br />
hinterlassen, den Platz des abwesenden Ich ein. Das Ich Claudia wird durch den<br />
Beobachter Claudia ersetzt, an die Stelle von Selbsterleben, Selbsterfahren tritt<br />
kühle, distanzierte Registration. Und genau die Blockierung der Verbindungen<br />
zwischen Vergangenheit und Gegenwart schneidet die Zukunft ab.<br />
<strong>19</strong>86 plädierte Hein für die ihm gemäße Haltung der Aufklärung,<br />
6<br />
Christoph Hein: Als Kind habe ich Stalin gesehen. Essais und Reden. Berlin, Weimar <strong>19</strong>90,<br />
S. 155.<br />
7<br />
Klaus Hammer (Hg.): Chronist ohne Botschaft. Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin,<br />
Weimar <strong>19</strong>92, S. 29.