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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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92<br />

Klaus Hammer<br />

ihrer Oberflächenstruktur benutzt, so die Organe des Machtapparates genarrt<br />

und ‘Kassiber’ unter das Volk gebracht zu haben, wie es Fritz Rudolf Fries<br />

beschreibt. 2 Der Autor dissimulierte und verrätselte, konstruierte nach dem<br />

Modell von Anagramm oder Palimpsest, Labyrinth oder Rebus, und der eingeweihte<br />

Leser tüftelte und entschlüsselte. Das Bedürfnis, „Widersprüche loszuwerden“<br />

3 , motivierte das Schreiben Heiner Müllers: „Wenn man ein Objekt der<br />

Geschichte ist, braucht man andere Figuren, um über die Probleme zu reden.“<br />

Das eben verlangte eine Form, welche die Äußerung in Rollen und Masken möglich<br />

macht: den ‘dramatischen’ Text und zunehmend den ‘theatralischen’ Text.<br />

„Ich kann das eine sagen und ich kann das Gegenteil sagen“ 4 , so Heiner Müller.<br />

Christoph Hein allerdings wies den Versuch einer Funktionalisierung<br />

von Literatur zum Zweck einer verschwörerischen Verständigung mittels der<br />

‘Sklavensprache’ strikt von sich ab. Er bestand darauf, Literatur schreiben zu<br />

wollen, und forderte diese Freiheit – uneingeschränkte Öffentlichkeit – für alle.<br />

In begrifflicher Schärfe und logischer Eindeutigkeit demontierte er in seinen<br />

Reden und Aufsätzen die zu Versatzstücken, Phrasen und Beschwörungsformeln<br />

gewordenen ‘sozialistischen’ Ideale und Leitbilder. Er hat die „versteinerten Verhältnisse“<br />

5 beschreiben wollen, und die versteinerten Verhältnisse fingen an zu<br />

tanzen.<br />

BESTANDSAUFNAHME EINES ZUSTANDES<br />

Die Ideale sind desavouiert, die Botschaften verschlissen, das Leben scheint<br />

ein falsches, leeres, sinnloses und auswegloses – Hein unternimmt die Bestandsaufnahme<br />

eines Zustandes, nicht die Schilderung eines Entwicklungsprozesses.<br />

Er hat nie in Abrede gestellt, dass die ihn umgebenden Verhältnisse auch sein<br />

Schreiben beeinflusst haben. In seiner Rede über die Verdrängung der stalinistischen<br />

Hinterlassenschaft der DDR – im September <strong>19</strong>89 – bekannte er, dass es<br />

ihn psychisch krank mache, in einem Land zu leben, dessen Bürger es verlassen<br />

2<br />

GDR Bulletin. Vol. 16. No 2 (Fall <strong>19</strong>90), S. 27.<br />

3<br />

Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweit. Neuausg. Leipzig<br />

<strong>19</strong>96, S. 473 ff.<br />

4<br />

Ebd.<br />

5<br />

Christoph Hein im Gespräch mit Frauke Meyer-Gosau. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.):<br />

Christoph Hein. TEXT+KRITIK, H. 111. München <strong>19</strong>91, S. 89.

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