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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Die weibliche Selbstwahrnehmung … 89<br />

Vater gipfelt in ihrem Umgang mit dem eigenen Sohn Bernhard, der immer gute<br />

Beziehungen zum Großvater hatte. Nach Vaters Tod sucht sie dessen Präsenz<br />

in dem eigenen Kind: „Ich greife nach Bernhards Hand, um mir ein wenig von<br />

Vaters Wärme zu holen“ (LA 85). Ihr Verhalten veranschaulicht die Untrennbarkeit<br />

der familiären Bande. Sie ist sich dessen bewusst, dass die Bande des Blutes<br />

nicht so leicht zu zerreißen sind und dass sie ihr Leben lang an dem Vater hängen<br />

wird. Sie bleibt von ihm abhängig und ist unfähig, sich von seinem Einfluss zu<br />

befreien. Die Ich-Erzählerin kommt nicht voran, sie bleibt ein kleines Mädchen,<br />

die Tochter ihres Vaters, die zwar gegen seine Ansichten und Verhaltensweise<br />

rebelliert, aber außerstande ist, von ihm endgültig Abschied zu nehmen.<br />

Brigitte Schwaiger klagt in beiden Werken über die emotionale Kälte ihres<br />

Elternhauses, doch zugleich behandelt sie ein weit über das Private greifendes<br />

Problem. Ihre Romane kennzeichnet die Grundhaltung einer quälenden Ambivalenz<br />

der Gefühle, des Zweifels an den Wertvorstellungen der Eltern und der<br />

Anklage. Das zentrale Motiv ist hier die Suche nach der eigenen Identität, nach<br />

Selbstverwirklichung, nach der Akzeptanz der Weiblichkeit. Tief verankert ist<br />

in beiden Romanen das Geschlechtsspezifische, welches das Handeln und die<br />

Denkweise der Töchter beeinflusst. Die für patriarchalische Familien charakteristische<br />

Verteilung von Macht (Mann, Vater) und Ohnmacht (Frau, Mutter)<br />

determiniert auch die Vater-Tochter-Relationen. Der Vater, dessen ökonomischgesellschaftliche<br />

Position andere Familienmitglieder von ihm abhängig macht,<br />

wird von der Autorin als mächtig und unerreichbar dargestellt. Die Tochter wirbt<br />

vergeblich um die Aufmerksamkeit und Zuneigung des Vaters. Auch die Mutter<br />

nimmt die ihr vom Ehemann zugeteilte Randposition ein, und überlässt die<br />

Tochter mit all ihren Ängsten und Dilemmata sich selbst. Beide Romane sind<br />

somit als Dokumente der Einsamkeit und der emotionalen Isolation der Tochter<br />

zu lesen. Die Hauptursache für die von der Tochter unternommene Erinnerungsarbeit<br />

ist die Sehnsucht nach dem Vater, der ihr immer fremd war. Sein Bild<br />

verfolgt sie, und erst nachdem sie darüber geschrieben hat, befreit sie sich von<br />

ihm. Die Rekonstruktion der familiären Beziehungen soll somit zur „Befreiung<br />

aus der elterlichen Bevormundung“ 24 führen, denn mit ihrem Bericht wirbt die<br />

Autorin noch einmal um die Liebe des Vaters und sucht einen Dialog mit ihm.<br />

24<br />

Vgl. Jurgensen: Deutsche Frauenautoren der Gegenwart, S. 289.

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