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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Die weibliche Selbstwahrnehmung … 87<br />

Komplementärgestalt zum Vater“ 20 , und der einzige Unterschied besteht darin,<br />

dass Birer seine väterliche Liebe zugleich mit Sexualität verbindet. Für die Ich-<br />

Erzählerin ist die Liebesbeziehung zu ihm ein Ausdruck der Distanz vom Vater,<br />

sie soll zur Waffe gegen ihn werden, was auch im Text eindeutig zum Ausdruck<br />

kommt: „Er wird mein Geliebter, mit ihm werde ich mich behaupten gegen den<br />

Vater“ (LA 28). Außerdem ermöglicht Birer der Ich-Erzählerin, endlich die Rolle<br />

der Frau zu spielen. Im Unterschied zu ihrem Vater, der die Körperlichkeit seiner<br />

Töchter zu unterdrücken versucht 21 , akzeptiert er sie nämlich als Frau und will<br />

ihre Weiblichkeit nicht bekämpfen. Indem sie gegen die väterliche Weltordnung<br />

verstößt, wagt die Ich-Erzählerin den ersten Schritt zur Befreiung von der elterlichen<br />

Autoritätsgestalt. Aber die Liebesaffäre mit Birer bedeutet zugleich den<br />

ersten Versuch, ihre Frauenrolle zu akzeptieren, denn ihre bisherige Beziehung<br />

zum Vater war von gewisser Intimität geprägt, die ihre Relationen mit anderen<br />

Männern beeinflusste.<br />

Der Liebesentzug, den die Tochter als Kind erlebt, führt allerdings später<br />

zu Missverhältnissen in ihrer Einstellung zum Vater. Um seine Liebe und Zuneigung<br />

zu erwerben, versuchte sie schon früh, ihm jederzeit zu gefallen. So zieht<br />

sie als kleines Mädchen das von ihm bevorzugte weiße Kleid an und lässt sich als<br />

„eine kleine, heimliche Geliebte“ (LA 9) bezeichnen. Jahre danach, als der Vater<br />

todkrank im Krankenhaus liegt, zieht sie noch einmal das Kleid an, obwohl sie<br />

selbst weiß, dass es ihr nicht mehr passt:<br />

Es paßt zu einem Mädchen, das ich nicht mehr bin. Wie eine kleine Geliebte, sagt<br />

er, wie eine heimliche Geliebte. (LA 75)<br />

Die in dieser Szene schwebende erotische Spannung, die in mehreren Passagen<br />

auftauchende Eifersucht der Ich-Erzählerin auf die Mutter 22 sowie ihre Versuche,<br />

von dem Vater als eine Frau und nicht mehr als Tochter wahrgenommen zu wer-<br />

20<br />

Ebd., S. 289.<br />

21<br />

Davon zeugt u. a. die folgende Stelle: „[...] er schrie [...] und nannte uns Huren [...]. Warum<br />

lackiert ihr euch die Fingernägel? Warum zupft ihr euch die Augenbrauen [...]?“ (LA 50)<br />

22<br />

Diese Eifersucht spiegelt sich beispielsweise in folgenden Worten der Tochter: „Mach dich<br />

nicht so wichtig! Ich bin seine Tochter. Dich hat er nur geheiratet [...]. Ich bilde mir ein, ich hätte<br />

ihn besser verstanden und besser zu lieben gewusst als Mutter.“ (LA 52)

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