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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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86<br />

Anna Maria Borowska-Stankiewicz<br />

Er ist Jude! Juden soll man nicht trauen [...]. Ich habe vieles, was Vater über Juden<br />

sagte, nachgesagt. (LA 28)<br />

Juden gehen wirklich leicht gebückt, ich sehe es. (LA 30)<br />

Sie [die Juden] alle ermorden, damit es endlich keinen mehr gibt, der an die toten<br />

Juden erinnert. (LA 33)<br />

Judenlächeln, dachte ich, Judennase. (LA 39)<br />

Manfred Jurgensen behauptet, Birer erlaube ihr, die antisemitischen Vorurteile<br />

des Vaters zu überprüfen. 18 Sie zieht Vergleiche zwischen ihren Beobachtungen<br />

und dem, was sie im Elternhaus zu hören bekam. Es ist zu betonen, dass solche<br />

Gedanken mehrmals auftauchen, was beweist, dass sie tief im Unterbewusstsein<br />

der Tochter verwurzelt sind. Zwar unternimmt die Ich-Erzählerin den Versuch,<br />

sich von solchen Gedanken zu befreien und fragt entsetzt: „Was haben deine<br />

Gedanken in meinem Kopf verloren?“ (LA 41), aber zwischen dem Distanzierungsversuch<br />

und dem wirklichen Distanzieren liegt ein großer Unterschied.<br />

Angesichts ihres Verhaltens Birer gegenüber lässt sich bezweifeln, ob es ihr<br />

gelungen ist, den Antisemitismus des Vaters in ihrem Inneren zu bekämpfen.<br />

Ihre – durch seine Vorurteile gefärbten – Ansichten sind nicht zu rechtfertigen,<br />

und sogar Birer macht sie darauf aufmerksam: „Jetzt spricht der Nazi aus dir,<br />

sagte er einmal“ (LA 35).<br />

Wie bereits angedeutet, ist die Liebesaffäre mit Birer als direkter Protestakt,<br />

als Rebellion und zugleich Ablösungsversuch zu interpretieren. Da die<br />

Beziehung zum Vater scheitert, sucht sich die Ich-Erzählerin einen Mann in<br />

seinem Alter, einen sozusagen zweiten Vater, „einen Vater, mit dem [sie] auch<br />

ins Bett gehen kann“ (LA 28). Sie vergleicht Birer mehrmals mit dem Vater,<br />

wobei sie zwischen beiden gewisse Ähnlichkeiten feststellt (vgl. LA 42); auch<br />

Birers väterliches Verhalten ihr gegenüber erinnert sie an den eigenen Erzeuger<br />

(LA 27). Im Bezug auf die beiden Männer bemerkt Manfred Jurgensen, dass<br />

für Beide das Denken einer Frau keine Gültigkeit besitzt, sogar wenn sie die<br />

Frau lieben. <strong>19</strong> Es handelt sich somit bei ihnen nicht nur um den Liebesentzug,<br />

sondern zugleich um den Eigenwertsentzug. Nach Jurgensen ist also Birer „die<br />

18<br />

Vgl. dazu Jurgensen: Deutsche Frauenautoren der Gegenwart, S. 290.<br />

<strong>19</strong><br />

Ebd.

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