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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Die weibliche Selbstwahrnehmung … 85<br />

Mit dem Besteck so umgehen, wie du es auf der Offiziersschule gelernt hast. Wir<br />

haben alles gelernt von dir und auch früh gelernt, andere Menschen wegen ihrer<br />

anderen Tischsitten zu verachten. Wenn du deine Hauptmannsuniform aus dem<br />

Krieg daheim getragen hättest von Anfang an, dann wäre vielleicht vieles deutlicher<br />

gewesen. (LA 18 f.)<br />

Der Leser erfährt kaum etwas von seiner politischen oder ideologischen Vergangenheit,<br />

obwohl ein gewisser Vorwurf der Verblendung in der Luft schwebt. So<br />

vermerkt Wolfgang Türkis mit Recht, dass „die dem Vater angelastete Nazi-Vergangenheit<br />

eher ein unreflektierter persönlicher Racheakt der Tochter für dessen<br />

lebenslange Unnahbarkeit und Abweisung“ 16 zu sein scheint und dass die Tochter<br />

den Vater möglicherweise „zum Nazi-Tyrann“ dämonisiert, um sich selbst zu<br />

dessen Opfer zu stilisieren.<br />

Trotz seiner eher unpolitischen Haltung ist jedoch die Abneigung des<br />

Vaters gegen Juden demonstrativ, und seine Ansichten sind voller Hass und<br />

Verachtung:<br />

[...] sie verhalten sich so, dass sie immer wieder vertrieben werden und sich woanders<br />

einnisten, bis man sie wieder vertreibt, weil sie keiner haben will. (LA 25)<br />

Paradoxerweise reproduziert die Tochter unbewusst Vaters Anschauungen in<br />

ihrer Beziehung zu Peter Birer, der ihr Liebhaber wird. 17 Die Liebesaffäre, die<br />

als eine Rebellion gegen den Vater zu verstehen ist, veranschaulicht, wie stark<br />

sie von ihm geprägt wurde:<br />

16<br />

Wolfgang Türkis: Beschädigtes Leben. Autobiographische Texte der Gegenwart. Stuttgart<br />

<strong>19</strong>90, S. 120.<br />

17<br />

Auf eine solche Reproduktion der elterlichen Vorurteile weist Dan Bar-On in seinem Buch<br />

Die Last des Schweigens hin. Er führt das Beispiel einer erfolgreichen Anwältin an, deren Vater<br />

während des Krieges in einem Einsatzkommando in der Ukraine tätig war und an mehreren<br />

Massenexekutionen teilnahm. Obzwar seine Tochter damals ein kleines Kind war und erst nach<br />

Jahren von den Verbrechen erfuhr, fühlt sie sich als erwachsene Frau dafür mitverantwortlich.<br />

Ihre Schuldgefühle determinieren ihr Handeln sowie ihre zwischenmenschlichen Beziehungen.<br />

Über ihre Beziehungen zu Männern sagt sie: „Ich bin nicht sicher, wie dies alles meine Beziehungen<br />

zu Männern beeinflußt hat. [...] Vor zwei Jahren hatte ich einen jüdischen Mandanten, der im<br />

Gefängnis gewesen ist. In den habe ich mich sehr verliebt [...], dann habe ich mir gedacht: Es ist<br />

ja kein Zufall, dass ich mich in jemanden verliebe, der ein Opfer meines Vaters ist, zugleich aber<br />

selbst andere zum Opfer macht.“ (Dan Bar-On: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern<br />

von Nazi-Tätern. Reinbek bei Hamburg <strong>19</strong>96, S. 283 f.)

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