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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Die weibliche Selbstwahrnehmung … 83<br />

Die Trauer über die versäumte Nähe kommt in mehreren Aussagen der Tochter<br />

zum Ausdruck. So klagt sie, der Vater habe nie ihre Briefe beantwortet (vgl.<br />

LA 9), oder sie bezeichnet seine Patienten als Menschen, „die einen besseren<br />

Weg zu ihm wußten“ (LA 10). Die von ihr formulierte Definition des Vaters ist<br />

somit letztendlich voller Enttäuschung und Sarkasmus:<br />

Ein Vater, ein richtiger Vater, ist einer, den man nicht umarmen darf, den man nicht<br />

unterbrechen darf, wenn er spricht, dem man antworten muß, auch wenn er zum<br />

fünftenmal dasselbe fragt und es aussieht, als frage er zum fünftenmal, um sich<br />

zu vergewissern, ob die Töchter auch willig sind, stets zu antworten, ein Vater, der<br />

einem das Wort anschneiden darf. (LA <strong>19</strong>)<br />

Erst während ihrer Krankenhausbesuche stellt die Ich-Erzählerin mit Erstaunen<br />

fest, ihr Vater sei doch ein Menschenwesen und „Seine Haut ist Menschenhaut“<br />

(LA 78), obwohl er sogar auf dem Sterbebett liegend eher Achtung als Liebe verlangt<br />

und betont, er wolle mit Würde sterben (vgl. LA 63). Erst die Krankheit des<br />

Vaters und die Tatsache, dass er auf die Hilfe der anderen angewiesen ist, ermöglichen<br />

seine Entmythologisierung. Er ist nicht mehr ein unerreichbarer Gott und<br />

Herrscher, sondern ein Mensch, dem die Tochter zum ersten, und zugleich zum<br />

letzten Mal, nah sein kann, „so nah und so lange, wie in ganzem Leben niemals“<br />

(LA 78). Dass auch der Vater unter der ihm zugeteilten Rolle leidet und die Liebe<br />

seiner Tochter sucht, veranschaulicht eine seiner Aussagen im Krankenhaus:<br />

Wenn jemand da ist, den man gern hat, das gibt eine innere Freude, die man gar<br />

nicht ausdrücken kann (LA 75).<br />

Die Tochter ist so erschüttert über dieses Bekenntnis, dass sie daran nicht glauben<br />

kann und argwöhnisch fragt: „Meinst du mich?“ Die Kontaktlosigkeit zwischen<br />

den beiden dauerte so lange, dass es jetzt kaum möglich ist, eine Brücke<br />

der Verständigung zu schlagen.<br />

Schon in der Kindheit empfindet die Tochter ihren Vater als ein Überwesen,<br />

das man bewundern muss. Seine Unerreichbarkeit und Unnahbarkeit machen die<br />

Konstellation Herrscher (Vater) – Untertan (Tochter) noch deutlicher. Das Kind<br />

akzeptiert (wenn auch unbewusst) jene Familienstruktur, weil es dadurch einen<br />

festen, wenn auch minderwertigen Platz in der Familie gewinnt:

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