22.11.2013 Aufrufe

Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

82<br />

Anna Maria Borowska-Stankiewicz<br />

zieren, und sie wird dadurch mit dem Problem der Zugehörigkeit konfrontiert.<br />

So gerät sie in ein ‘Niemandsland’, sie gehört keinem der Geschlechter an, was<br />

ihre späteren Identifikationsprobleme erklären mag. Auch die in ihren Beziehungen<br />

zum Vater vorhandene Erotik resultiert aus der in der früheren Kindheit<br />

erlebten Frustration. Die Konflikte mit dem Vater sind einerseits als eine<br />

Folge der gestörten Weiblichkeitsherausbildung, andererseits als Auswirkungen<br />

der Überzeugung von der eigenen Wertlosigkeit zu verstehen. Indem sie sich im<br />

Laufe der Handlung über die Folgen der Kontaktlosigkeit in ihrem Elternhaus<br />

bewusst wird und dazu Stellung nimmt, befreit sich langsam die Ich-Erzählerin<br />

von den Einflüssen ihres Erzeugers. Doch sie hängt immer noch sehr an ihm und<br />

an seiner Denkweise, was beweist, dass eine vollkommene Freiheit noch nicht<br />

erreicht wurde:<br />

Er ist tot, aber ich kämpfe gegen ihn, noch immer. Er hat viele Stimmen, viele Arme<br />

und Beine, ist unsichtbar und kann mir jederzeit und überall auflauern (LA 88)<br />

– sagt sie bitter und besorgt. So wird die ständige Präsenz des Vaters in Gedanken<br />

der Tochter zum Verhängnis, dem sie nicht entgehen kann. Denn ihre Kindheit<br />

verlief in einer Atmosphäre der Unterwerfung dem Vater gegenüber, der nie auf<br />

Gefühle oder Bedürfnisse der anderen Rücksicht genommen hat. Die Schulhefte<br />

seiner Tochter ließ er in den Hof werfen und sie „zusammen mit dem anderen<br />

Gerümpel“ (LA 59) verbrennen, obwohl er wusste, wie stark das Kind an den<br />

Heften hing. Seine Brutalität und Rücksichtslosigkeit der Tochter gegenüber vertieften<br />

den Abgrund zwischen den beiden. Das Kind fühlte sich ständig abgestoßen<br />

und – um in väterliche Nähe zu gelangen – wünschte es sich Krankheiten,<br />

„um von ihm berührt zu werden“ (LA 21).<br />

Brigitte Schwaiger skizziert in Lange Abwesenheit die patriarchalische<br />

Ordnung in der Familie, in der Söhne viel höher als Töchter in der Hierarchie<br />

stehen: „Söhne hat er sich gewünscht” (LA 66) – gesteht bitter die Ich-Erzählerin<br />

und legt damit ihr Schuldbekenntnis ab, weil sie für den Vater nichts als eine Enttäuschung<br />

war. Sie leidet darunter und wird sich nach Jahren jener Demütigung<br />

seitens des Vaters entsinnen:<br />

Gute Nacht, sagte sie. Gute Nacht, sagtest du in dem Ton, der zugleich ein lautes<br />

Seufzen ist, ein Vorwurf von dir an dich selbst, uns gezeugt zu haben. (LA 10)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!