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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Die weibliche Selbstwahrnehmung … 81<br />

Entfremdung zwischen Vater und Tochter sowie allerlei Liebes- und Akzeptationsdefizite<br />

und die daraus resultierenden Folgen. Bereits der Titel des zweiten<br />

Romans ist eine direkte Anspielung auf jene Kälte und Distanz, die im Elternhaus<br />

der Schriftstellerin zwischen den Generationen herrschten. Die Ich-Erzählerin<br />

rekapituliert in Lange Abwesenheit sowohl ihre Krankenbesuche bei dem<br />

sterbenden Vater als auch ihre Kindheit. Die Rekonstruktion der Vergangenheit<br />

schafft die Grundlagen für eine Analyse des eigenen Ich, die wiederum verdeutlicht,<br />

dass eine Ablösung von dem Vater und seiner Macht noch nicht gelungen<br />

ist. Heinz Puknus spricht daher in diesem Kontext von „einer labilen Balance<br />

zwischen Schon-Freiheit und Noch-Gebundensein“ 14 .<br />

Wie aus den Darstellungen im Roman Lange Abwesenheit allmählich hervorgeht,<br />

kann als ein entscheidender Faktor, der die ersehnte Distanzierung der<br />

Tochter vom Vater erschwert, die Erinnerung an die unglückliche Ehe der Eltern<br />

gelten. Die angespannte Atmosphäre zwischen den Eheleuten war für das Kind<br />

immer eine Belastung und verstärkte nur das Verlangen nach Geborgenheit und<br />

Halt:<br />

Mit den Eltern in einem Zimmer sein dürfen, ohne dass Vater Mutter beleidigt; das<br />

ist wie eine warme Decke im Rücken 15<br />

– äußert die Tochter nach Jahren den in ihren Gedanken immer präsenten Wunsch.<br />

Das ist ein Ruf nicht nur nach emotionaler Wärme, die durch eine warme Decke<br />

symbolisiert wird, sondern auch nach besseren Relationen zwischen beiden<br />

Elternteilen. Die ständige Entwertung der Mutter durch den Vater führte dazu,<br />

dass die Tochter die von ihm gezeigte abwertende Haltung gegenüber der Mutter<br />

übernimmt. So wird sie zum Komplizen des Vaters in dessen Kampf gegen<br />

die Mutter, was ihre positive Identifikation mit der Weiblichkeit erschwert. Die<br />

erniedrigte Mutter wird zu einer Vertreterin des schwachen und minderwertigen<br />

Geschlechts, was bei der Tochter wiederum Abwehrmechanismen entstehen<br />

lässt, um ‘auf der anderen Seite’ im Geschlechtskampf stehen zu dürfen. Auch<br />

die Mutter trägt dazu bei, indem sie der Tochter das Gefühl vermittelt, weniger<br />

wert zu sein als ein Mann. Die Tochter unternimmt den Versuch, sich von der<br />

Mutter, d. h. von der Weiblichkeit und somit vom eigenen Geschlecht, zu distan-<br />

14<br />

Ebd., S. 236.<br />

15<br />

Brigitte Schwaiger: Lange Abwesenheit. Reinbek bei Hamburg <strong>19</strong>82, S. 77. Im Folgenden<br />

zitiert als LA mit der Seitenzahl.

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