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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Die weibliche Selbstwahrnehmung … 79<br />

Die Entscheidung fällt der Ich-Erzählerin nicht leicht. Die Reaktion der<br />

Familie, zwischen Verachtung und Entsetzen oszillierend (vgl. SM 111 ff.), überrascht<br />

sie nicht, denn ehe sie sich dazu entschied, hatte sie gewusst, dass sie<br />

lediglich auf sich selbst angewiesen sein wird. Was sie überrascht und gewissermaßen<br />

erschreckt, sind ihre eigenen Gefühle und Erkenntnisse. Sie entdeckt<br />

nämlich, dass trotz all ihrer Probleme und Dilemmata das Zusammenleben mit<br />

Rolf seine Vorteile hatte und insgesamt viel einfacher war:<br />

Alles war einfacher mit Rolf. Die Schaffnerinnen in den Straßenbahnen waren<br />

freundlicher, wenn ich mit Rolf einstieg. Wenn ich mit Rolf ins Theater ging,<br />

lächelten die Billetteure. (SM 23)<br />

Sie erreicht die ersehnte Freiheit nicht. Zwar ist sie stärker und selbstsicherer als<br />

vorher, aber die gesellschaftliche Ordnung schafft der Frau keine Grundlagen<br />

für die Selbstverwirklichung. Die Ich-Erzählerin bleibt im Netz der patriarchalischen<br />

Weltordnung und kehrt in die frühere Abhängigkeit des Elternhauses<br />

zurück. Heinz Puknus kommentiert diese Situation wie folgt:<br />

Der Schluß zeigt keine komplett gelungene Befreiung – die reale Autonomie des<br />

Ich bleibt [...] in beträchtlicher Ferne: Einer geschiedenen jungen Frau, die nur für<br />

ihren künftigen Gatten erzogen worden war [...], bietet sich zunächst nur der Rückweg<br />

in die frühere Abhängigkeit des Elternhauses. 12<br />

Der Roman endet mit einer Szene, die verdeutlicht, wie stark die Tochter von<br />

dem Vater immer manipuliert wurde:<br />

Dieses Foto kommt morgen in die Zeitung, sagte Vater, und ich stellte mich rasch<br />

neben ihn, Füße zusammen, stillhalten neben Vater, aufgeregt und beschämt über<br />

so viel Glück. Mit Vater, und in die Zeitung! Aber er wollte nur, dass ich mich ohne<br />

Widerspruch fotografieren ließ, und das Bild klebt im Album. (SM 121)<br />

Diese Erinnerung an einen auf den ersten Blick banalen und unwichtigen Vorfall<br />

zeigt, dass das Kind glauben will, von dem idealisierten und hochgeschätzten<br />

Vater als gleichberechtigt anerkannt zu werden und sogar „über so viel Glück“<br />

– der schneidende Hohn lässt sich nicht übersehen – beschämt ist. Schnell erweist<br />

sich jedoch das Manöver des Vaters als ein Trick, damit sich das Kind willig foto-<br />

12<br />

Puknus: Neue Literatur der Frauen, S. 233.

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