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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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78<br />

Anna Maria Borowska-Stankiewicz<br />

zufolge die Züge Effi Briests, der die den Eltern willkommene Ehe ebenfalls zum<br />

Gefängnis wurde. 11 Die beiden Frauen werden von ihren Ehemännern ‘erzogen’<br />

und mit Nachsichtigkeit behandelt, weil sie eben Frauen – also unmündige und<br />

lebensunfähige Wesen – sind. Auch die Eltern bieten in beiden Fällen keine<br />

Unterstützung:<br />

Du bist vernünftig geworden, sagt Vater, man kann jetzt mit dir reden. Früher<br />

warst du wie aufgewirbelter Sand in stürmischem Wasser. Jetzt ist das Wasser<br />

klar. (SM 69)<br />

Diese Worte richtet der Vater an die Ich-Erzählerin in jenem Moment ihres<br />

Lebens, als sie total verzweifelt und apathisch ist. Doch er will die Signale der<br />

Unzufriedenheit überhaupt nicht wahrnehmen und kann sich kaum vorstellen,<br />

dass seine Tochter mit ihrer Existenz unglücklich sein könnte. Er lobt nur ihre<br />

scheinbare Anpassung an die neue Lebenssituation. Ihre weibliche Passivität<br />

entspricht den sozialen Konventionen und gesellschaftlichen Strukturen, ihre<br />

Lebensneugier und ihr intellektuelles Potential werden nicht respektiert.<br />

Von niemandem verstanden und auf sich selbst angewiesen, ist die Erzählerin<br />

stark genug, um ihr Glück kämpfen zu wollen. Bevor sie den endgültigen Entschluss<br />

fasst und Rolf verlässt, entfernt sie sich von ihm schrittweise, unbewusst<br />

hoffend, dass er es rechtzeitig bemerkt und seine Einstellung zu ihr verifiziert.<br />

Der erste Distanzierungsversuch ist jener Augenblick, in dem sie anfängt, immer<br />

mehr Zeit mit ihrem alten Bekannten Karl zu verbringen. Dieser von der Gesellschaft<br />

abgestoßene Alkoholiker versteht ihr Werben um Gefühle und ist zugleich<br />

genug sensibel, um ihre Probleme zu begreifen. Der nächste Schritt zur Befreiung<br />

ist die Liebesaffäre mit Albert, Rolfs Freund. Das heimliche Verhältnis gibt<br />

der Ich-Erzählerin wenigstens den Schein einer richtigen Liebesbeziehung. Doch<br />

auch hier übernimmt sie die Rolle des Untertanen, für den Wünsche und Bedürfnisse<br />

seines Herrschers – also in diesem Falle die des Mannes – die wichtigsten<br />

sind. Jene unterwürfige Stellung dem Mann gegenüber wurde ihr im Elternhaus<br />

vorprogrammiert, und wie sehr sie auch will, kann sie sich nicht anders verhalten.<br />

Der dritte Schritt ist das Bekenntnis zum Seitensprung. In einem Gespräch<br />

mit Rolf gesteht sie ihre Tat, aber verweigert sowohl die Reue als auch die Rückkehr.<br />

In der Konsequenz lassen sie sich scheiden.<br />

11<br />

Vgl. Jurgensen: Deutsche Frauenautoren der Gegenwart, S. 276.

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