Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
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Die weibliche Selbstwahrnehmung … 77<br />
wie der Vater kann er ihr nämlich ‘eine Bedeutung verleihen’, denn sie ist von<br />
ihrer Bedeutungslosigkeit fest überzeugt: „Ich war nichts, aber ihm galt ich viel.“<br />
(SM 10) Das ist gerade ihr Identitätsmangel, der sie einen ‘väterlichen’ Ehemann<br />
suchen lässt. Als Kind existierte sie durch den Vater, jetzt – als erwachsene Frau<br />
– ist sie fest davon überzeugt, dass sie lediglich durch den Ehemann existieren<br />
kann. „Von der Tochter ihres Vaters ist sie zur Frau ihres Mannes geworden“ 10 ,<br />
konkludiert demzufolge Eva Koch-Klenske und bezeichnet die Ich-Erzählerin<br />
als eine „Unperson“, die ein „Unleben“ führt. Die Protagonistin des Romans von<br />
Schwaiger begreift jedoch rasch, dass der Entschluss, Rolf zu heiraten, falsch<br />
war, und ihre Hoffnung, dadurch frei und unabhängig zu werden, zerplatzt wie<br />
eine Seifenblase. Von der Abhängigkeit vom Vater gerät sie in die Abhängigkeit<br />
vom Ehemann, der die bisher vom Vater gespielte Rolle des Erziehers und Lehrers<br />
ohne weiteres übernimmt: „Ich bin nicht ich, ich bin Rolfs Frau“ (SM 34)<br />
– bemerkt die Ich-Erzählerin, nachdem Rolf sie erneut ausgelacht und kritisiert<br />
hat. Der Ehemann behandelt sie wie ein kleines Kind, mit dem man sogar keine<br />
ernsten Gespräche führen kann. Der Alltag veranschaulicht der jungen Ehefrau,<br />
wie sinnlos und leer ihre Existenz geworden ist:<br />
Beruf: Hausfrau, steht in meinem neuen Paß. Schnecke hätten sie besser geschrieben.<br />
[...] Besondere Kennzeichen: Keine, steht im Paß. Und ob. Man sieht sie nur<br />
nicht auf den ersten Blick. [...] Was koche ich zum Abendessen, dreihundertfünfundsechzigmal<br />
im Jahr die Frage: Was koche ich zum Abendessen? (SM 33)<br />
Ihre Verzweiflung und der wachsende Widerstand werden von niemandem zur<br />
Kenntnis genommen. Sowohl Rolf als auch andere bagatellisieren ihre Klagen<br />
und Zweifel:<br />
Also, was fehlt dir? Ich glaube, mir fehlt ein Lebensinhalt. Erstaunte Blicke von<br />
Rolf [...]. Sind wir keiner? Verantwortung brauche ich, ein Interesse. Du interessierst<br />
dich doch für nichts. (SM 95)<br />
Diese Unterredung mit Rolf bedarf keines Kommentars. Der Mann bleibt taub für<br />
die verzweifelten Versuche seiner Frau, ihm von ihren Problemen zu erzählen.<br />
Der Schein von einer intakten Ehe ist ihm offensichtlich wichtiger als das Glück<br />
seiner Frau. Auf diese Weise bekommt die Ich-Erzählerin Manfred Jurgensen<br />
10<br />
Ebd., S. 104.