Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
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76<br />
Anna Maria Borowska-Stankiewicz<br />
nisse und Träume korrespondieren weder mit den Vorstellungen der Mutter noch<br />
mit denen der Großmutter. So wie die beiden Frauen möchte die Ich-Erzählerin<br />
nicht werden, aber eine Alternative weiß sie auch nicht. In diesem Zusammenhang<br />
vertritt Eva Koch-Klenske die Ansicht, dass „bei zunehmender Berücksichtigung<br />
der Rolle der Mutter für das Kind der Mutter-Kind-Beziehung immer eine<br />
Mutter-Vater-Beziehung vorgeschaltet bleibt, die in das Verhältnis der Mutter zu<br />
ihrem Kind einfließt“ 8 . Da die Beziehungen zwischen den beiden Elternteilen<br />
der traditionellen Familienstruktur – eine schwache Mutter und ein starker Vater<br />
– entsprechen, erfährt die Tochter, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Mutter<br />
vom Vater abhängig ist. Jene Dominanz des Vaters sowie die Schwäche und<br />
Unterwerfung der Mutter erschweren die Akzeptanz der eigenen Weiblichkeit,<br />
weil diese als minderwertig abgestempelt wird. Koch-Klenske konstatiert somit,<br />
dass die Tochter „eine doppelte Entwertung ihres [...] weiblichen Selbstgefühls“ 9<br />
erlebt. Sie wird nämlich nicht nur vom Vater gekränkt, sondern auch von der<br />
schwachen Mutter, die ihr keine Unterstützung bieten kann.<br />
Nachdem die Tochter das Abitur bestanden hat, erwartet der Vater von ihr,<br />
dass sie die Familientradition fortsetzt und Medizin studiert. Obwohl die Tochter<br />
mit dem Studium in Wien anfängt, ist sie zu diesem Schritt eigentlich nicht<br />
bereit. Angesichts der Tatsache, dass der Druck der Familie zunimmt, flieht sie<br />
vor der Verantwortung für ihr Leben in die Ehe mit ihrem Schulfreund Rolf. Ihr<br />
Ehemann verkörpert diejenigen Eigenschaften, die sie im Elternhaus bei dem<br />
Vater beobachtet hat, und die für die patriarchalische Weltordnung typisch sind.<br />
Rolf ist nicht nur reifer und psychisch stärker als seine Frau („Er war so stark,<br />
ich so schwach [...]“; SM 13), sondern gilt zugleich als ein Vertreter der patriarchalischen<br />
Gesellschaft, was ihm Sympathie und Respekt der ganzen Familie<br />
verschafft:<br />
Vater sagt, Rolf ist ein anständiger und tüchtiger Bursche, Mutter sagt, auf Rolf<br />
kann ich stolz sein, Großmutter sagt, das wichtigste ist eine gutbürgerliche Verbindung.<br />
(SM 13)<br />
Die Heirat mit Rolf ist für die Ich-Erzählerin die letzte Möglichkeit, dem Vater<br />
einen Gefallen zu tun und dadurch eine Billigung ihres Handelns zu gewinnen.<br />
Aber Rolf besitzt auch Eigenschaften, nach denen sie unbewusst sucht: So<br />
8<br />
Eva Koch-Klenske: Das häßliche Gesicht der schönen Frau. München <strong>19</strong>82, S. 124.<br />
9<br />
Ebd.