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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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74<br />

Anna Maria Borowska-Stankiewicz<br />

rinnen Identitätskrisen und Selbstzweifel. Das magische Wort der <strong>19</strong>70er Jahre<br />

war ‘Erfahrungssuche’, aber diese Bezeichnung beinhaltete zugleich Unruhe und<br />

Unbeständigkeit. 5 Das wahre Leben, das tatsächlich Erlebte sollte thematisiert<br />

werden, so dass das Familienleben einer Entmythisierung unterlag und häufig<br />

als ein Faktor der Entfremdung und Unterdrückung dargestellt wurde. Der einzige<br />

Ausweg aus dieser Situation schien eine genaue Analyse der Kinder-Eltern-<br />

Beziehungen zu sein, die durchs Schreiben ermöglicht wurde. Die Erkundung<br />

der familiären Geheimnisse, der Einblick in die Zusammenhänge sowie die Feststellung<br />

emotionaler Schäden und Defizite, die einem im Elternhaus zugefügt<br />

worden waren, erleichterte den Autorinnen den Zugang zum eigenen Ich und die<br />

Selbsterkenntnis. Jene Identitätsgewinnung – obzwar sie selten vollkommen war<br />

– bedeutete für die Schreibenden einen wichtigen Schritt auf dem langen Weg<br />

zum Erlangen der Unabhängigkeit von den Eltern. Um dies erreichen zu können,<br />

mussten sie zuerst ihre Beziehungen zu den Eltern analysieren und revidieren.<br />

Die unternommenen Analysen und Revisionen beschränkten sich dabei keinesfalls<br />

nur auf die private Sphäre des Lebens, denn alle Beteiligten standen mitten<br />

in gesellschaftlichen Verhältnissen, die gleichzeitig aus privaten Erlebnissen kollektive<br />

Erfahrungen der Gesellschaft machten.<br />

Die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft diskutiert in ihren stark<br />

autobiographisch geprägten Romanen auch die österreichische Autorin Brigitte<br />

Schwaiger. Ihre Romane Wie kommt das Salz ins Meer? (<strong>19</strong>77) und Lange<br />

Abwesenheit (<strong>19</strong>80) liefern das Bild einer patriarchalischen Familie, in der eine<br />

besonders frauenfeindliche Struktur herrscht. Durch das Aufgreifen dieser Problematik<br />

werden die privaten Konflikte der Autorin zu einem gesellschaftlichen<br />

Problem und zugleich zu einem Beitrag im Kampf um die Gleichberechtigung<br />

der Frauen.<br />

Wie kommt das Salz ins Meer? ist Schwaigers Erstlingsroman. Obwohl das<br />

Manuskript zunächst von verschiedenen Verlagen zurückgewiesen worden ist,<br />

erwies sich doch schließlich das Werk als ein großer Erfolg. Die Autorin hat den<br />

Text mehrmals umgeschrieben, weil sie davon ausgegangen ist, dass die autobiographischen<br />

Elemente allzu sehr in den Vordergrund treten, was sich auf die<br />

Rezeption des Romans nachteilig auswirken könnte. Ihr Hauptziel ist indes die<br />

Darstellung der patriarchalischen Gesellschaftsordnung sowie der inneren Zer-<br />

5<br />

Vgl. dazu Thomas Koebner: Die zeitgenössische Prosa II: Erfahrungssuche des Ich. Perspektiven<br />

des Erzählens seit <strong>19</strong>68. In: Thomas Koebner (Hg.): Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur.<br />

Stuttgart <strong>19</strong>87, S. 2<strong>19</strong>.

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