Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

64
Regina Hartmann
Hier kommt eine weitere Facette der Apokalypse-Rezeption ins Spiel: Der
Gegensatz von Gut und Böse, von einer „neuen Welt“, die der „blutigen“ alten
folgen wird, ist verbunden mit der dem Offenbarungstext entnommenen Gegenüberstellung
von Schmutz und Reinheit. Dort heißt es beispielsweise:
Selig sind, die ihre Kleider waschen, auf daß sie teilhaben dürfen an dem Baum
des Lebens und zu den Toren eingehen in die Stadt. 23
Der Schilderung von „blutigem Schutt“ und dem „Gestank“ der Verwesung folgt
der Appell zur Reinigung: „Reinigt“, damit die „reinen Seelen“, die Gerechten
Gottes, eine neue Heimstatt in einer ihnen gemäßen Welt finden.
Kurt Pinthus schreibt 1919 im Vorwort seiner Lyrikanthologie
Menschheitsdämmerung:
Diese Dichter fühlten zeitig, wie der Mensch in der Dämmerung versank [...], sank
in die Nacht des Untergangs [...], um wieder aufzutauchen in die sich klärende
Dämmerung [eines] neuen Tags. 24
Es ging ihnen darum, „durch die Empörung das Vernichtende und Vernichtete
ganz zu vernichten, so daß Heilendes sich entfalten konnte“ 25 . In diesem Sinne
bildet Alfred Wolfensteins in der Anthologie veröffentlichtes Gedicht Die Friedensstadt
gewissermaßen ein Pendant zu Georg Heyms Der Gott der Stadt.
Nach einem Rückblick auf das durch Sinnverlust geprägte Lebensgefühl der
Vorkriegsjahre:
Auf unsrer ahnungslosen Jugend lag
Der Alten Zeit, der Ordnung glatter Tag.
Kein Herz, kein Blick, kein Kampf ward in ihr groß,
[...] 26
wird der Krieg thematisiert:
23
Offb. 22,14; ähnlich 7,14.
24
Kurt Pinthus: Zuvor (Berlin, Herbst 1919). In: ders. (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument
des Expressionismus. Leipzig 1968, S. 31.
25
Ebd., S. 35.
26
Alfred Wolfenstein: Die Friedensstadt. In: ebd., S. 351.