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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Die Offenbarung des Johannes … 59<br />

Der Gott der Stadt<br />

Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.<br />

Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.<br />

Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit<br />

Die letzten Häuser in das Land verirrn.<br />

[...]<br />

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik<br />

Der Millionen durch die Straßen laut.<br />

Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik<br />

Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.<br />

Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.<br />

Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.<br />

Die Stürme flattern, die wie Geier schauen<br />

Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.<br />

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.<br />

Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt<br />

Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust<br />

Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt. 10<br />

Nicht zu übersehen ist bereits beim ersten Lesen der Rückgriff des Dichters auf<br />

die apokalyptische Vorstellungswelt des Untergangs. Der Gott der Stadt – der<br />

Titel bezeichnet nicht nur den Ort des Geschehens, sondern auch eine enge<br />

Beziehung zwischen beiden; diese allerdings ist gewissermaßen eine Umkehrung<br />

der Wendung ‘die Stadt Gottes’ – für das neue Jerusalem nämlich. Der<br />

„Gott der Stadt“ sitzt auf den Häusern und „schaut“ auf das Leben und Treiben<br />

herab; ein Blicken, das auf das visionäre Sehen als Erzählgestus anspielt. Und<br />

er ist voller „Wut“, wenn er bis an den Rand der Stadt „in das Land“ sieht, und<br />

voller „Zorn“ beim Blick nach unten. Denn das, was er unter sich sieht, ist die<br />

Gegenwart und das in der Ferne die nahe Zukunft: Auch die „letzten Häuser“<br />

werden bald nicht mehr die letzten sein. In dieser Stadt dröhnt das Leben „der<br />

Millionen“ „wie Korybanten-Tanz“, das heißt laut, lärmend und zügellos. Der<br />

Vergleich mit „Musik“ versinnbildlicht eine Lebensweise, die im billigen Amü-<br />

10<br />

Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Hg. v. Karl Ludwig Schneider.<br />

3 Bde. Hamburg u. München <strong>19</strong>60–<strong>19</strong>64, Bd. 1, S. <strong>19</strong>2.

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