Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
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58<br />
Regina Hartmann<br />
Gestalt einer gottgefälligen Menschheit, im neuen Jerusalem eben, entstehen. 5<br />
Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei auf der Untergangsvision – mit der<br />
Funktion, das fundamental Neue danach zu begründen: Erdbeben erschüttern<br />
die weltliche Ordnung, Hagel und Feuer mit Blut fallen vom Himmel, die Sonne<br />
erlischt, Sterne treffen im Sturzflug die Erde, das Meer verwandelt sich in Blut. 6<br />
Das Urteil über die geschichtliche Welt wird in ahistorischer Form gesprochen, in<br />
einer mythischen, naturhaften Bildsprache vorgetragen, um dessen unbegrenzte<br />
und unbegrenzbare Bedeutung sinnfällig zu machen 7 .<br />
Apokalyptische Geschichtsauslegungen haben immer wieder Eingang<br />
in bildende Kunst und Literatur gefunden, und der Expressionismus gehört<br />
in prädestinierter Weise in diese Reihe. Seine Begründung findet dies in einem<br />
ausgeprägten Krisenbewusstsein, das seit dem Ausgang des <strong>19</strong>. Jahrhunderts um<br />
sich griff 8 und damit einer apokalyptisch gedeuteten Erfahrung des Leidens an<br />
der Lebensrealität Vorschub leistete. Einen solchen Erfahrungsbereich bildete<br />
die Großstadt: In den Dezennien vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich Deutschland<br />
bekanntlich zu einer modernen Industriegesellschaft entwickelt. Einwanderungsbewegungen<br />
vom Land in die Städte und eine Bevölkerungsexplosion 9<br />
ließen industrielle Großstädte entstehen, die nicht etwa organisch gewachsen<br />
waren, sondern eher einem chaotischen Gewirr von immer mehr expandierenden<br />
Ausmaßen glichen. In ihnen existierte der Glamour des Fortschritts neben tristen<br />
Mietskasernen, ungesunden Arbeitsbedingungen des Industrieproletariats und<br />
Elendsquartieren, in denen die sozial Ausgegrenzten vegetierten. Letzteres hatte<br />
bekanntermaßen bereits Eingang in die naturalistische deutsche Literatur gefunden,<br />
freilich im Kontext einer gänzlich anderen Programmatik als im Expressionismus.<br />
Charakteristische Beispiele expressionistischer Großstadtlyrik liefern<br />
so auch die Gedichte Georg Heyms, so beispielsweise Der Gott der Stadt oder<br />
Die Dämonen der Städte.<br />
5<br />
Vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München <strong>19</strong>88, S. 265.<br />
6<br />
Vgl. Offb. 6,12; 8,6; 11, 13. <strong>19</strong>; 16,17.<br />
7<br />
Wichtige fachliche Hinweise zur Offenbarung des Johannes verdanke ich Stefan Beyerle,<br />
Professor für Altes Testament an der Universität Greifswald. Vgl. dessen Antrittsvorlesung Apokalyptik<br />
und Biblische Theologie (unveröffentlicht) vom 17.07.2009.<br />
8<br />
Vgl. dazu die einschlägigen Literaturgeschichten sowie diverse literaturwissenschaftliche<br />
Spezialuntersuchungen zum Expressionismus.<br />
9<br />
Zwischen 1890 und <strong>19</strong>13 wuchs Deutschlands Bevölkerung um 36%. 1870 gab es 8 Großstädte,<br />
<strong>19</strong>10 waren es 48. Berlin verdoppelte seine Einwohnerzahl zwischen 1880 und <strong>19</strong>10 auf<br />
2 Millionen Menschen.