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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Dorota Sośnicka<br />

sondern insbesondere auf den Roman Die Leiden des jungen Werther. Der<br />

Zusammenprall der beiden Texte verdeutlicht somit einerseits die Ähnlichkeiten<br />

zwischen den Erlebnissen – den Liebesleiden und den gesellschaftlichen Konflikten<br />

– von Werther und Viktor, andererseits jedoch lässt er Viktor – dank der<br />

angewandten Erzähltechnik – in etwas parodistischem Licht erscheinen.<br />

All die genannten Elemente, d. h. die stark ausgeprägte Intertextualität und<br />

Autoironie sowie die Verwendung von innovativen Erzählformen bei der Dominanz<br />

des indirekten inneren Monologs und insbesondere der für modernes Erzählen<br />

so charakteristischen erlebten Rede; und darüber hinaus die Schilderung eines<br />

von der Gesellschaft entfremdeten Menschen bei gleichzeitiger Darstellung der<br />

Vielfältigkeit und Kompliziertheit seiner Innerlichkeit zeigen also, dass Spittelers<br />

Roman weit über den Rahmen des realistischen Erzählens hinausgeht. Sowohl<br />

die Problematik als auch die Erzählform des Romans erlauben somit, Spitteler<br />

als einen durchaus modernen Schriftsteller zu betrachten, der bewusst Themen<br />

und Formen der europäischen Moderne aufnahm und diese weiterentwickelte.<br />

Denn die Aufsplitterung der Psyche Viktors in ihre unterschiedlichen Schichten<br />

und Aspekte, die dabei in einen (inneren) Dialog miteinander treten, stellt eine<br />

andere Art der Gestaltung des inneren Monologs dar als es in Arthur Schnitzlers<br />

berühmter Novelle Leutnant Gustl (<strong>19</strong>01) der Fall ist. Daher kann Spitteler durchaus<br />

als ein Bahnbrecher des modernen Erzählens in der Deutschweizer Literatur<br />

gelten. Doch in den meisten Darstellungen seines Schaffens, insbesondere wenn<br />

sie von Schweizer Literaturwissenschaftlern stammen, dominiert immer noch<br />

das Bild eines pathetischen, heroischen Dichters – ein Bild, das in jener Zeit<br />

kreiert wurde, als die Ideologie der ‘Geistigen Landesverteidigung’ nach ihrem<br />

würdigen Vertreter verlangte und diesen in dem Autor großer mythologischer<br />

Epen gefunden hat. Hier vermutlich liegt die Wurzel der übermäßigen Ideologisierung<br />

der Werke Carl Spittelers, welche letztendlich bei den heutigen Lesern<br />

und Literaturwissenschaftlern zu einem Desinteresse an diesen Texten führte.<br />

Eine genauere stilistische Analyse der Texte wird uns indes einen Schriftsteller<br />

zeigen, der mit seinen Werken an die neuen Trends der europäischen Moderne<br />

bewusst anknüpfte, auf diese Weise die um die Jahrhundertwende in der Schweiz<br />

dominierende realistische Poetik überwindend. Und auch einen Autor, der durchaus<br />

dazu fähig war, seine jugendliche Überschwänglichkeit mit Augenzwinkern<br />

und mit einem leichten Schmunzeln zu betrachten.

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