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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Der Schweizer Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler … 53<br />

Jahren! ohne Beruf und Stand, ohne Namen und Wohnsitz, ohne Verdienst und<br />

Werke, nichts“. Die Konfrontation des sensiblen Künstlers mit dem pragmatisch<br />

denkenden und handelnden kleinstädtischen Milieu bot also dem Autor die<br />

Gelegenheit, an der schweizerischen Gesellschaft eine scharfe Kritik zu üben.<br />

Unbarmherzig geißelt er in seinem Roman die spießige, rau-robuste Mentalität,<br />

den schweizerischen Nörglergeist sowie die helvetischen patriotischen Konventionen<br />

und verspottet boshaft den provinziellen Kulturbegriff. Viktors Kritik an<br />

dem schweizerischen ‘Seldwylergeist’ ist dabei um so überzeugender, als er – so<br />

wie der Autor selbst – nach längerer Abwesenheit aus dem Ausland zurückkommt<br />

und bei der Betrachtung der schweizerischen Verhältnisse nicht mehr im engen<br />

Gesichtsfeld seiner Heimat befangen bleibt. Diese Optik eines Außenstehenden<br />

ermöglicht ihm also, die herrschenden Verhältnisse vertieft zu vergleichen und<br />

zu diskutieren. Nicht ohne Recht verweisen somit mehrere Literaturforscher<br />

darauf, dass eine ähnlich radikale Kritik der seldwylerisch-kleinbürgerlichen<br />

Mentalität erst zwei Generationen später Max Frisch mit seinem berühmten<br />

Roman Stiller (<strong>19</strong>54) fortgeschrieben hat. Spitteler selbst kommentierte seinen<br />

Roman mit den Worten „Tasso unter den Demokraten“ 37 , womit er nicht nur die<br />

pragmatisch denkende und patriotisch verstiegene schweizerische Gesellschaft<br />

ironisierte, sondern auch die übertriebene Exaltiertheit seines Protagonisten.<br />

Denn sein Roman Imago bedeutet nicht nur eine bissige Kritik am helvetischen<br />

‘Seldwylergeist’, sondern kann auch als eine Selbstparodie des Autors gelesen<br />

werden, was allerdings von den meisten Interpreten völlig übersehen wird. Indes<br />

ist in dem Roman die Autoironie des Autors deutlich spürbar, und abzulesen ist<br />

sie nicht nur an zahlreichen Äußerungen Viktors, sondern sie entsteht insbesondere<br />

durch die Anwendung einer durchaus innovativen Erzählform. Im Roman<br />

dominieren nämlich indirekte innere Monologe des Protagonisten, in denen die<br />

verschiedenen Aspekte von Viktors Innerlichkeit in einem Streitgespräch miteinander<br />

verbleiben und sich gegenseitig verspotten. Gelegentlich kommt zu<br />

Wort auch ein auktorialer Erzähler, der die Gedanken und Handlungen des Protagonisten<br />

ironisch kommentiert, ähnlich wie die anderen Romanfiguren. Diese<br />

Verfahrensweise verleiht also dem Ganzen nicht selten ein recht humoristisches<br />

und parodistisches Gepräge. Wichtig ist schließlich die deutlich ausgearbeitete<br />

Intertextualität von Spittelers Roman, der nicht nur auf Goethes Tasso anspielt,<br />

37<br />

Carl Spitteler: Die Mädchenfeinde; Conrad, der Leutnant; Imago. In: ders.: Gesammelte<br />

Werke. Bd. 4. Zürich <strong>19</strong>45, S. 488.

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