22.11.2013 Aufrufe

Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

52<br />

Dorota Sośnicka<br />

ein Mensch, der „sich schon seit unvordenklichen Zeiten in die Überzeugung<br />

eingelebt hatte, daß des Menschen Heil oder Unheil nicht von außen, sondern von<br />

innen kommt“ (I 355). Daher auch nimmt in Spittelers Roman die Darstellung<br />

von Viktors Psyche so viel Raum ein und daher wird sein Innenleben ausdrücklich<br />

thematisiert, so z. B. an jener Stelle, als Viktor Frau Steinbach gegenüber<br />

sein einem Außenstehenden vielleicht irrational vorkommendes Verhalten folgendermaßen<br />

zu erklären sucht:<br />

Er lächelte: „Was soll Wahnsinn sein, bitte was? Daß ich innere Erlebnisse so hoch<br />

werte wie äußere? oder vielmehr unendlich höher? Oder daß ich mich von ihnen<br />

bestimmen lasse? – Und das Gewissen? und Gott? Ist es etwa auch Wahnsinn,<br />

wenn einer sich von seinem Gewissen oder von seinem Gott in seinen Handlungen<br />

beeinflussen läßt? [...] Der einzige Unterschied ist der, daß die andern sich mit<br />

undeutlichen Erscheinungen begnügen, während ich sie klar sehen muß, wie der<br />

Maler Mariens Himmelfahrt. ‘Finger Gottes’, ‘Auge Gottes’, ‘Stimme der Natur’,<br />

‘Wink des Schicksals’ – was tue ich mit diesem anatomischen Museum? Ich will<br />

immer das ganze Gesicht sehen.“ (I 244)<br />

Gerade an dieser Stelle des Romans wird ersichtlich, was Carl Spitteler eigentlich<br />

vorschwebte, als er sein Erstlingsepos Prometheus und Epimetheus und Jahre<br />

danach den Roman Imago vorlegte: Er wollte nämlich – statt sich mit jenem<br />

„anatomischen Museum“, d. h. mit mythischen und religiösen Erklärungsversuchen<br />

zu begnügen – „das ganze Gesicht sehen“ und die Innerlichkeit des Menschen<br />

in ihren verschiedensten, auch den diskrepantesten Aspekten erfassen.<br />

Damit gelangte er nicht nur zu Ergebnissen, die sich mit der psychoanalytischen<br />

Forschung decken, sondern gestaltete zugleich einen in der Deutschschweizer<br />

Literatur neuen „Typus des Roman-‘Helden’, der sich durch die Widersprüchlichkeit<br />

seines Denkens, Fühlens und Handelns immer mehr von der ursprünglichen<br />

Bedeutung dieser Bezeichnung entfernt“ 36 und zu einem modernen Anti-Helden<br />

wird.<br />

An dem Protagonisten seines Romans demonstriert Spitteler erneut den für<br />

die Moderne so charakteristischen Konflikt zwischen dem visionären Einzelgänger<br />

und der Masse, zwischen Künstler und Gesellschaft. Für die Bewohner<br />

seines Heimatstädtchens, die sich emsig „ein behagliches Plätzlein im Staat erarbeitet<br />

hatten“ (I 262), ist Viktor geradezu ein Gräuel: „mit seinen vierunddreißig<br />

36<br />

Scharpf: Carl Spitteler (1845–<strong>19</strong>24) und die Anfänge der modernen Erzählkunst in der<br />

Schweiz, S. 185.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!