Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
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Dorota Sośnicka<br />
ein Mensch, der „sich schon seit unvordenklichen Zeiten in die Überzeugung<br />
eingelebt hatte, daß des Menschen Heil oder Unheil nicht von außen, sondern von<br />
innen kommt“ (I 355). Daher auch nimmt in Spittelers Roman die Darstellung<br />
von Viktors Psyche so viel Raum ein und daher wird sein Innenleben ausdrücklich<br />
thematisiert, so z. B. an jener Stelle, als Viktor Frau Steinbach gegenüber<br />
sein einem Außenstehenden vielleicht irrational vorkommendes Verhalten folgendermaßen<br />
zu erklären sucht:<br />
Er lächelte: „Was soll Wahnsinn sein, bitte was? Daß ich innere Erlebnisse so hoch<br />
werte wie äußere? oder vielmehr unendlich höher? Oder daß ich mich von ihnen<br />
bestimmen lasse? – Und das Gewissen? und Gott? Ist es etwa auch Wahnsinn,<br />
wenn einer sich von seinem Gewissen oder von seinem Gott in seinen Handlungen<br />
beeinflussen läßt? [...] Der einzige Unterschied ist der, daß die andern sich mit<br />
undeutlichen Erscheinungen begnügen, während ich sie klar sehen muß, wie der<br />
Maler Mariens Himmelfahrt. ‘Finger Gottes’, ‘Auge Gottes’, ‘Stimme der Natur’,<br />
‘Wink des Schicksals’ – was tue ich mit diesem anatomischen Museum? Ich will<br />
immer das ganze Gesicht sehen.“ (I 244)<br />
Gerade an dieser Stelle des Romans wird ersichtlich, was Carl Spitteler eigentlich<br />
vorschwebte, als er sein Erstlingsepos Prometheus und Epimetheus und Jahre<br />
danach den Roman Imago vorlegte: Er wollte nämlich – statt sich mit jenem<br />
„anatomischen Museum“, d. h. mit mythischen und religiösen Erklärungsversuchen<br />
zu begnügen – „das ganze Gesicht sehen“ und die Innerlichkeit des Menschen<br />
in ihren verschiedensten, auch den diskrepantesten Aspekten erfassen.<br />
Damit gelangte er nicht nur zu Ergebnissen, die sich mit der psychoanalytischen<br />
Forschung decken, sondern gestaltete zugleich einen in der Deutschschweizer<br />
Literatur neuen „Typus des Roman-‘Helden’, der sich durch die Widersprüchlichkeit<br />
seines Denkens, Fühlens und Handelns immer mehr von der ursprünglichen<br />
Bedeutung dieser Bezeichnung entfernt“ 36 und zu einem modernen Anti-Helden<br />
wird.<br />
An dem Protagonisten seines Romans demonstriert Spitteler erneut den für<br />
die Moderne so charakteristischen Konflikt zwischen dem visionären Einzelgänger<br />
und der Masse, zwischen Künstler und Gesellschaft. Für die Bewohner<br />
seines Heimatstädtchens, die sich emsig „ein behagliches Plätzlein im Staat erarbeitet<br />
hatten“ (I 262), ist Viktor geradezu ein Gräuel: „mit seinen vierunddreißig<br />
36<br />
Scharpf: Carl Spitteler (1845–<strong>19</strong>24) und die Anfänge der modernen Erzählkunst in der<br />
Schweiz, S. 185.