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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Der Schweizer Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler … 51<br />

Freundin, Frau Steinbach, hören, die seine Phantasien mit folgenden Worten<br />

kommentiert:<br />

[...] was sind das für Sachen: ‘Theuda’, ‘Pseuda’, ‘Imago’, drei Personen mit einem<br />

einzigen Gesicht! Die eine existiert nicht, die andere ist tot, die dritte ist ‘nicht<br />

vorhanden’, und jene, die nicht existiert, ist krank! Wenn nur das Herz nicht Mus<br />

macht! [...] Schrecken aber erfaßt mich bei dem Gedanken, was Sie leiden werden,<br />

wenn Sie mit Ihrer schönen Phantasiewelt (verzeihen Sie einer Frau den Romanausdruck)<br />

an die harte Wirklichkeit stoßen (o weh, aber ich finde kein anderes<br />

Wort); [...] verlassen Sie so schnell wie möglich diesen gefährlichen Boden, und<br />

singen Sie Ihr herrliches Duett mit Imago weiter, aber in sicherer Ferne. Imago<br />

wird mit der Zeit genesen und ihre Stimme wiederfinden, darum ist mir nicht<br />

bange. (I 258f.)<br />

Letztendlich erzielt dieser Rat seine Wirkung, so dass Viktor (sic!) die seiner<br />

Liebe unwürdige ‘Pseuda’ und das Städtchen verlässt und die traurige Wirklichkeit<br />

besiegt, indem er erneut in seinem Inneren seine treue und den höheren<br />

Idealen huldigende ‘Imago’ erschafft, d. h., ein aus seinem Unbewusstsein stammendes,<br />

verklärtes Bild der Geliebten.<br />

Auf der Basis dieses Romans, in dem eine Frau in drei Gestalten erscheint<br />

– als Theuda, Pseuda und Imago –, hat Carl Gustav Jung das meist unbewusste<br />

Vorstellungsbild von einer für den Erlebenden wichtigen Person beschrieben,<br />

das auch nach der realen Begegnung mit dieser Person in der Psyche fortlebt und<br />

dabei die Wahrnehmung späterer Beziehungen entscheidend mitprägt. Dieses<br />

Vorstellungsbild nannte Jung in Anlehnung an Spittelers Roman eben ‘Imago’,<br />

was aus dem Lateinischen ‘das Bild’ bedeutet. Auf Jungs Vorschlag übernahm<br />

dann auch Sigmund Freud, der der ‘Phantasie’ ebenfalls eine entscheidende Rolle<br />

für die Konstitution der menschlichen Psyche zugeschrieben hat, den Romantitel<br />

für den Namen seiner „Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die<br />

Geisteswissenschaften“.<br />

Als sich Carl Spitteler dazu entschied, seine unglückliche, jugendliche<br />

Liebe literarisch zu verarbeiten, war er sich zweifelsohne der Rolle der Imago<br />

in seinem Leben bewusst. Doch nach all den verflossenen Jahren war er auch<br />

schon imstande, sich selbst aus Distanz zu betrachten. In seinem Roman entwarf<br />

er also das (selbst-)ironische Bild eines ziemlich pathetischen und überempfindlichen<br />

Dichters, der zwar noch nichts geschrieben hat, doch von seiner Berufung,<br />

Großes und Überzeitliches zu schaffen, fest überzeugt ist. Viktor erscheint als

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