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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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48<br />

Dorota Sośnicka<br />

logische Helden handelt und sich alles in einer märchenhaften Welt abspielt,<br />

wo Engel und Teufel agieren und Tiere und Pflanzen sprechen können, ist der<br />

Leser um so mehr geneigt, das Dargestellte allegorisch aufzufassen – als ein<br />

Bild tief verborgener innerer Prozesse. Schon mit seinem Erstlingswerk zielte<br />

also Spitteler offensichtlich darauf, mit den geltenden literarischen Gepflogenheiten<br />

zu brechen, denn stilistisch lag das Werk abseits der allgemeinen Strömung<br />

des bürgerlichen bzw. poetischen Realismus. Indem er ein Werk vorlegte,<br />

das den Konflikt zwischen zwei entgegengesetzten Weltanschauungen schildert,<br />

stellte er sich in eine radikale Opposition zur Gesellschaft seiner Epoche, die<br />

ihre Idole in Wissenschaft und technischem Fortschritt erblickte, und wurde zum<br />

führenden Vertreter der antikonformistischen Haltung, die übrigens gegen Ende<br />

des <strong>19</strong>. Jahrhunderts zum Ideal vieler europäischer Künstler und Intellektueller<br />

wurde. In einer Zeit, in der man nach neuer Kunst und neuer Moral, nach neuen<br />

Idealen und dem ‘Neuen Menschen’ verlangte, kreierte also Spitteler das Bild<br />

eines schöpferischen und autonomen, selbstverantworteten und innengeleiteten<br />

Individualisten, so dass sein Freund, Josef Victor Widmann, nach der Lektüre<br />

von Prometheus und Epimetheus in Spitteler den Schöpfer einer neuen Religion<br />

zu erblicken glaubte. Auch der Autor selbst legte als zentralen Gehalt seines<br />

Werkes den „Konflikt und Sieg zwischen der neuen Gottheit und dem historisch<br />

Heiligen“ 31 dar.<br />

Das Epos stieß zwar bei den Zeitgenossen des Dichters auf kein besonderes<br />

Interesse, wurde jedoch zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die um<br />

die Jahrhundertwende sich herausbildende Psychoanalyse, insbesondere für<br />

Carl Gustav Jung, der den Reichtum der darin enthaltenen Gedanken und Anregungen<br />

lobte. In seinen berühmten Psychologischen Typen (<strong>19</strong>21) stützte er sich<br />

auf das Epos Spittelers, um den Gegensatz zwischen dem extravertierten und<br />

dem introvertierten Menschentyp darzulegen, d. h. zwischen einem der ‘Seele’<br />

– also der Beziehung zum Unbewussten – und einem der ‘Persona’ – also der<br />

Beziehung zur Außenwelt – verpflichteten Ich. 32 Auch der <strong>19</strong>06 veröffentlichte<br />

Roman Spittelers Imago hatte einen großen Einfluss auf die Herausbildung der<br />

psychoanalytischen Theorie von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Es wäre<br />

jedoch ein Fehler, in Spitteler einen von der Psychoanalyse inspirierten Autor<br />

zu sehen, der gegenüber er eine durchaus skeptische Haltung einnahm. Die von<br />

31<br />

Spitteler an Gottfried Keller im Brief vom November 1881. Zit. nach: Theison: Totalität des<br />

Mangels, S. 97.<br />

32<br />

Vgl. Carl Gustav Jung: Psychologische Typen. Zürich <strong>19</strong>21, S. 227–361.

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