Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
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Der Schweizer Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler … 47<br />
wird zum König ernannt, doch der Verlust des Seelenglaubens führt dazu, dass<br />
er zwischen dem Guten und dem Bösen, dem Wertvollen und Wertlosen nicht<br />
mehr zu unterscheiden vermag. So erkennt er weder den Wert der Gabe, die<br />
Pandora den Menschen bringt, um das irdische Leid zu mildern, noch kann er die<br />
ihm anvertrauten Gotteskinder – Mythos, Hiero und Messias – vor Behemoth,<br />
dem Repräsentanten des Bösen, schützen. Erst der zu Hilfe gerufene Prometheus<br />
besiegt Behemoth und dessen Diener Leviathan, dem es inzwischen gelungen<br />
ist, Mythos und Hiero zu töten. Prometheus rettet den Messias, doch wiederholt<br />
lehnt er es ab, König zu werden. Er verzichtet auf irdische Ehren, versöhnt sich<br />
mit seinem Bruder und zieht zusammen mit ihm in die Einsamkeit zurück.<br />
In seinem Epos behandelt somit Spitteler den Gegensatz zwischen Außenseiter<br />
und Masse, zwischen dem autonomen Individualisten, der sich keinem<br />
menschlichen Gewissen unterwerfend nur seine Seele und seine Überzeugung<br />
gelten lässt, und jenem durchschnittlichen Menschentyp, der sich nach der<br />
öffentlichen Meinung richtet. In modellhafter Stilisierung veranschaulicht er hier<br />
also zwei entgegengesetzte Lebenshaltungen und zwei unterschiedliche Wertesysteme:<br />
Prometheus wird zur Personifizierung der geistigen, inneren Welt und<br />
der Eigengesetzlichkeit, Epimetheus dagegen verkörpert die materielle Welt und<br />
die Beachtung von gesellschaftlichen Konventionen. Gleichzeitig werden sie zu<br />
Repräsentanten von zwei unterschiedlichen Schaffensmodellen, zu denen sich<br />
der Autor auch in seinen Ästhetischen Schriften äußerte: Epimetheus repräsentiert<br />
jene Schriftsteller, die nach Anerkennung und Ruhm streben, so dass sie<br />
sich immer dem Publikumsgeschmack anzupassen suchen – von Spitteler werden<br />
sie als „literarischer Pöbel“ 29 bezeichnet –, Prometheus dagegen den „literarischen<br />
Adel“, d. h. Künstler, die imstande sind, das Nicht-Verstandenwerden<br />
auszuhalten, und die trotz fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz sich selbst und<br />
den eigenen Idealen treu bleiben, so dass sie eben deswegen epochale Werke zu<br />
schaffen vermögen.<br />
Der größte künstlerische Wert des Erstlingswerkes von Carl Spitteler liegt<br />
zweifelsohne in dem hohen „Grad an Anschaulichkeit“ 30 , die trotz des abstrakten<br />
Gehalts durch eine ungewöhnliche und auch von Keller gerühmte „Bildhaftigkeit<br />
der Ausdrucksweise“ entsteht. Dadurch, dass sich in dem Epos um mytho-<br />
29<br />
Carl Spitteler: Ästhetische Schriften. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 7. Zürich <strong>19</strong>47,<br />
S. 51.<br />
30<br />
Dominik Müller in: Schweizer Literaturgeschichte. Hg. v. Peter Rusterholz u. Andreas Solbach.<br />
Stuttgart, Weimar 2007, S. 149.