Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
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44<br />
Dorota Sośnicka<br />
die Bewertung des Schaffens von Carl Spitteler begann. 20 Neben Gottfried Keller<br />
wurde er zu den hervorragendsten Gestalten der Schweizer Literatur gezählt, zu<br />
einem „nur seiner inneren Stimme gehorchenden heroischen Künstler“ 21 stilisiert<br />
und sogar zum dichterischen „Messias“ 22 erklärt, dessen Werke manche „zu<br />
quasi göttlichen Botschaften“ erhoben haben. Eine derartige „hymnische und<br />
urteilslose Begeisterung“ 23 für Carl Spitteler nahm kurz vor Ausbruch des Zweiten<br />
Weltkriegs noch zu, als nämlich in der Schweiz das Programm der ‘Geistigen<br />
Landesverteidigung’ proklamiert wurde. Diese Konzeption, die <strong>19</strong>39 Gesetzeskraft<br />
erlangte und „mit der die vom deutschen und italienischen Faschismus<br />
ausgehende Propaganda und Demagogie abgewehrt und die Schweizer motiviert<br />
werden sollten, im Kriegsfall ihr Land zu verteidigen“ 24 , benötigte freilich einer<br />
nationalen Identifikationsfigur, welche den schweizerischen Selbstbehauptungsund<br />
Neutralitätswillen inmitten des vom Krieg beherrschten Europas bekräftigen<br />
könnte. Wer eignete sich besser dazu als der einzige Schweizer Literaturnobelpreisträger<br />
und in ganz Europa anerkannte Intellektuelle, der <strong>19</strong>14 – in einem<br />
Moment der höchsten Bedrohung des Landes – für seinen Zusammenhalt und<br />
seine Neutralität eingetreten war? Die Erkürung Spittelers zu der Rolle des<br />
„Retter[s] der Schweiz und Vater[s] des schweizerischen Neutralitätsgedankens“<br />
25 , ja, zu einer „Art Säulenheiliger der Neutralität“, hatte jedoch offensichtlich<br />
eher negative als positive Auswirkungen auf die Rezeption seiner Werke in<br />
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn nach <strong>19</strong>45 – nach der ersten und<br />
letzten Ausgabe seiner Gesammelten Werke zu seinem 100. Geburtstag – geriet<br />
Spittelers Schaffen leider recht schnell in Vergessenheit.<br />
Betrachtet man das Werk Carl Spittelers gebührend, so ist zunächst hervorzuheben,<br />
dass er bereits als Gymnasiast den Entschluss gefasst hatte, Schriftsteller<br />
zu werden. Einen großen Einfluss auf sein späteres Schaffen hatten seine<br />
20<br />
Zum Verlauf dieser Diskussion vgl. den Forschungsbericht in: Scharpf: Carl Spitteler<br />
(1845–<strong>19</strong>24) und die Anfänge der modernen Erzählkunst in der Schweiz, S. 13–68.<br />
21<br />
Ebd., S. 25.<br />
22<br />
Ebd., S. 17.<br />
23<br />
Thomas Roffler: Carl Spitteler – eine literarische Feststellung. Jena <strong>19</strong>26. Zit. nach: ebd.,<br />
S. 33.<br />
24<br />
Klaus-Dieter Schult, in: Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert.<br />
Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Klaus Pezold. Red. Hannelore Prosche.<br />
Berlin <strong>19</strong>91, S. 77.<br />
25<br />
Rede am 14.12.<strong>19</strong>14 von Carl Spitteler „Unser Schweizer Standpunkt“. In: EMSER CHRO-<br />
NIK – Die Online-Zeitung aus Hohenems. Verfügbar über: http://www.emserchronik.at/Einzelansicht.44+M5992af75b95.0.html<br />
(Zugriff am 8.09.2008).