Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
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Der Schweizer Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler … 43<br />
Obwohl aber manche Bewunderer den Autor des Olympischen Frühling neben<br />
Homer, Dante und Ariost 16 setzten, gab es im Nobelpreiskomitee auch kritische<br />
Stimmen, indem man Spittelers „leblose Abstraktionen und Allegorien“ 17 beklagte<br />
oder ihm einen hölzernen Stil, plumpen Humor und unbeholfenen Aufbau<br />
des Riesenwerkes vorwarf. Seine Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis<br />
verdankte der Schweizer Dichter zweifelsohne hauptsächlich den Aktivitäten<br />
des französischen Schriftstellers und transnationalen Pazifisten Romain Rolland<br />
(1866–<strong>19</strong>44), dem Nobelpreisträger von <strong>19</strong>15, der schon während des Ersten Weltkriegs<br />
zu seinem Erstaunen feststellen musste, dass Carl Spitteler in Deutschland<br />
kaum bekannt war. Er selber war indes – wie er in seinen Tagebüchern Das<br />
Gewissen Europas (<strong>19</strong>17) notierte –<br />
höchst verwundert über die Größe seines Geistes und seiner Kunst. Das ist in der<br />
Welt der Lebenden die ursprünglichste und kraftvollste Quelle, der ich in der Literatur<br />
begegnet bin. 18<br />
Auch in der Hommage Carl Spitteler in Memoriam <strong>19</strong> , die anlässlich des Todes<br />
des Schweizer Dichters am 29. Dezember <strong>19</strong>24 gleich im folgenden Jahr herausgebracht<br />
wurde, stellte Rolland fest, dass Spitteler nicht nur der größte Schweizer<br />
Schriftsteller gewesen sei, sondern nach Goethe überhaupt der größte deutschsprachige<br />
Dichter und nach Miltons Tod der einzige Meister der epischen Form.<br />
Diese hymnische Bewertung des Schweizer Autors steht jedoch in krassem<br />
Gegensatz zu seinem Bekanntheitsgrad. Denn auch bei seinen Landsleuten ist<br />
Spitteler bis heute weniger als Schriftsteller bekannt als vor allem – ironischerweise<br />
– als der Autor seiner einzigen und doch so berühmten politischen Rede<br />
aus dem Jahre <strong>19</strong>14.<br />
Diese paradoxe Situation ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass<br />
nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in der Schweiz eine rege Diskussion über<br />
„Prometheus der Dulder“ und „Imago“. Nobelpreis für Literatur <strong>Nr</strong>. <strong>19</strong>. Zürich o. J., S. 15–20,<br />
hier S. 18 f.<br />
16<br />
Vgl. Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises an Carl Spitteler von Dr. Kjell<br />
Strömberg, ehemaligem Kulturattaché an der Schwedischen Botschaft in Paris. In: Spitteler:<br />
„Prometheus der Dulder“ und „Imago“, S. 7–14, hier S. 9.<br />
17<br />
Zit. nach: Keel: Literatur-Nobelpreis und seine Macher, S. 6.<br />
18<br />
Zit. nach: Fromm: Carl Spitteler: Prometheus der Dulder.<br />
<strong>19</strong><br />
Carl Spitteler in Memoriam. Jena <strong>19</strong>25.