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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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40<br />

Dorota Sośnicka<br />

den Mächten wachzurütteln. In dieser Rede, die noch im selben Monat von der<br />

„Neuen Zürcher Zeitung“ im Wortlaut veröffentlicht und bald in französischer,<br />

italienischer und rätoromanischer Übersetzung verbreitet wurde, erscheint der<br />

Schriftsteller als ein überzeugter Demokrat, der im Namen des Friedens und<br />

der Freiheit, der Republik und Demokratie, sich an seine Landsleute wandte, um<br />

ihnen das nach seiner Meinung inmitten des Weltkriegs einzig mögliche Projekt<br />

eines ‘Schweizer Standpunktes’ darzulegen. Angesichts der Meinungsverschiedenheiten<br />

zwischen der deutschen und der romanischen Schweiz warnte also<br />

Spitteler vor Parteinahme für oder gegen Frankreich und Deutschland, was die<br />

Eidgenossenschaft von innen zu zerreißen drohte. Stattdessen entwarf er das Bild<br />

einer Willensnation, die ein einig Volk von Brüdern sein sollte, und verlangte<br />

im Hinblick auf das Kriegsgeschehen Zurückhaltung im Sinne der Neutralität.<br />

Er warnte die Schweizer auch davor, sich nur mit dem Schicksal ihrer großen<br />

Nachbarn zu identifizieren und die anderen Völker durch die Verzerrungen der<br />

deutschen Kriegspresse zu beurteilen. In diesem Zusammenhang verwies der<br />

Weltbürger Spitteler u. a. darauf, dass der deutsche Angriff auf Belgien in der<br />

Schweiz kaum wahrgenommen wurde. Anhand mehrerer Beispiele ermahnte<br />

also Spitteler seine Landsleute dazu, allen Nationen gegenüber aufgeschlossen<br />

und gerecht zu sein und die Welt aufgeklärt zu betrachten. Vor allem aber legte<br />

er ihnen ans Herz, sich keineswegs einzubilden, besser als die anderen zu sein<br />

und ihnen als Vorbild dienen zu können. Abschließend appellierte er also an<br />

die Schweizer, im blutigen Kriegsgeschehen mit „Bescheidenheit“ die „richtige“<br />

– d. h. neutrale – „Haltung zu bewahren“ 7 .<br />

Diese Rede Spittelers, die angesichts des Weltkriegs die vielschichtigen<br />

innen- und außenpolitischen Konflikte des Landes zum Verschwinden bringen<br />

sollte und die später zu den bedeutendsten politischen Reden in der Schweiz<br />

gezählt wurde, rief anfänglich in der Deutschschweiz vorsichtige Zurückhaltung<br />

und gar scharfe Ablehnung hervor, in der Romandie dagegen zahlreiche Sympathiebezeugungen.<br />

Auch im Ausland wurde sie unterschiedlich aufgenommen: Sie<br />

erntete Beifall unter den Völkern der Koalition gegen Deutschland, in Deutschland<br />

aber wurde Spittelers Ruf schlagartig zerstört, weil man nicht verstehen<br />

wollte, dass ein deutschschreibender Schriftsteller, den man doch selbstverständlich<br />

zur eigenen Kulturgemeinschaft rechnete, nun plötzlich einen ‘sonderbaren’<br />

Schweizer Standpunkt vertrat, statt die deutsche Kultur und das deutsche Volk zu<br />

7<br />

Spitteler: Unser Schweizer Standpunkt, S. 594.

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