Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
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Die enthaltsame Liebe … 33<br />
Ich rührte nun ihre Hand nicht an, ich ließ sie in dem Hause gehen und lebte wie<br />
ein Bruder neben ihr. (MU 173)<br />
Langsam wird das durch Erniedrigungen und Verachtung gestörte Gefühlsleben<br />
der Frau wieder aufgebaut. Die ihr erwiesene Ehrfurcht und Verehrung bewirkt<br />
bald,<br />
dass die Pflanze des Vertrauens wuchs, − und daneben auch noch eine andere – [...]<br />
und so ging ihr die Seele verloren, bis sie sonst nirgends war als in mir (MU 174).<br />
Voller Demut und Hingabe folgt sie ihrem Mann in die Liebe, um mit ihm, dem<br />
biblischen Spruch gemäß, ein Fleisch zu werden:<br />
Oft war es mir, als sei ihr Leib meiner, als sei ihr Herz und ihr Blut das meinige<br />
und als sei sie mir statt aller Wesen in der Welt. (MU 173)<br />
Der Zeitverlauf vermag nichts an dem Verhalten der Frau zu ändern, die nach<br />
wie vor „demütig wie eine Braut und aufmerksam wie eine Magd“ (MU 174) ist,<br />
doch dieses Wesen – so Joachim Müller – muss zwangsläufig zu ihrem Schicksal<br />
werden. 23<br />
Der Stimme seiner noch nicht ganz überwundenen schwärmerischen Natur<br />
folgend, unternimmt der Obrist weite Wanderungen, auf denen ihn auch seine<br />
Frau begleitet. Wildheit und Unzugänglichkeit der seinen Wohnsitz umgebenden<br />
hohen Schneeberge schrecken den Mann nicht ab. Im Gegenteil: „Alles dieses zu<br />
durchforschen, lockte mich die Lust [...].“ (MU 174) Diesen unstillbaren Drang<br />
des Obristen in immer höher gelegene Gebiete büßt seine Frau auf einer Wanderung<br />
mit eigenem Leben. Auf dem Rückweg nach Hause verirren sich die Ehegatten<br />
und gelangen an den Rand einer tiefen Kluft, die sich nur auf einer Holzriese<br />
überbrücken lässt. Somit ist das Schicksal der Frau besiegelt: „Es musste wohl so<br />
sein, damit sich alles erfüllte“ (MU 175). Kurz vor dem Ziel stürzt sie in stiller<br />
Aufopferung – wahrscheinlich, um ihren Mann nicht in Gefahr zu bringen, – in<br />
den Abgrund. Der Tod der Frau hat den Obristen schwer getroffen.<br />
Wie viele Afterdinge, dachte ich, wird die Welt nun noch auf meine Augen laden,<br />
nur sie allein, sie allein nicht mehr. (MU 180)<br />
23<br />
Vgl. Joachim Müller: Adalbert Stifter. Weltbild und Dichtung. Halle an der Saale <strong>19</strong>56,<br />
S. 130.