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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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28<br />

Barbara Wróblewska<br />

Lasset nun die Zeit fließen, und es werden Hüllen nach Hüllen darauf kommen. Die<br />

Seele hat einen Schreck erhalten und wird sich ermannen. (MU 161)<br />

Mit Hilfe der göttlichen Gnade soll der Doktor die schändliche Tat überwinden<br />

und in Zukunft „weiser und stärker“ (MU 153) werden. Um den Prozess<br />

der „Selbsterziehung“ 15 zu kontrollieren, legt der Doktor ein feierliches Versprechen<br />

ab, seine Erfahrungen in einem Tagebuch aufzuzeichnen, und verpflichtet<br />

sich, die versiegelten Eintragungen aufzubewahren und sie nach Ablauf einiger<br />

Jahre wieder zu lesen. Der Zeitabstand nämlich, der zwischen Vergangenem<br />

und Gegenwärtigem liegt, lässt ihn dann mit nüchternem Blick sein „personales<br />

Werden“ 16 betrachten. „In der Aufzeichnung der augenblicklichen Situation“,<br />

so Rudolf Wildbolz, „wird Subjektives vermittels Sprache objektiviert und<br />

dem Zeitstrom entrissen.“ 17 Die Regelhaftigkeit, mit der das Niedergeschriebene<br />

aufgehoben und dann gelesen wird, „erzwingt im Vergegenwärtigungsprozess<br />

der Lektüre Reflexion des gelebten Lebens und damit geklärte Erfahrung, und<br />

zwar diejenige der eigenen, eben erst noch gegenwärtigen Existenz, konstituiert<br />

die Möglichkeit der Selbstkorrektur“ 18 . Bevor sich die Abkehr von der Ichbezogenheit<br />

und der Übergang zur Selbstvervollkommnung vollziehen können, muss<br />

bei dem Doktor zuerst der Hang zur Leidenschaftlichkeit bewältigt werden. Da<br />

Augustinus’ Ungebärdigkeit lediglich in der Relation mit Margarita in Erscheinung<br />

trat, beschließt der Arzt, sich in Zukunft jedes Recht auf Weib und Kinder<br />

abzuerkennen:<br />

Weil es von heute an gewiß ist, daß ich mir kein Weib antrauen und keine Kinder<br />

haben werde [...]. (MU 153)<br />

Die Enthaltung von sinnlichen Freuden wird als Sühne für seine frühere „traurige<br />

Begebenheit“ (MU 152) geleistet. Nur in der sich selbst auferlegten und<br />

streng gehaltenen Enthaltsamkeit kann anschließend bei dem Helden die Transformation<br />

seines Inneren einsetzen. Dabei geht es – so Wolfgang Lukas − um<br />

Herausbildung einer neuen „Verhaltensnorm der Sanftmut“ <strong>19</strong> , deren Mangel bei<br />

15<br />

Theodor Rutt: Adalbert Stifter. Der Erzieher. Wuppertal <strong>19</strong>70, S. 130.<br />

16<br />

Ebd., S. 155.<br />

17<br />

Wildbolz: Adalbert Stifter, S. 64.<br />

18<br />

Ebd.<br />

<strong>19</strong><br />

Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle, S. 375.

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