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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Rezensionen und Berichte 223<br />

Zeit hinausführt, gelangen die Pilger zum wahren Goldenen Vlies, dem sie als<br />

gänzlich Verwandelte gegenübertreten. Das Goldene Vlies erweist sich nun als<br />

etwas Überirdisches, das von jeder dinglichen Magie befreit ist: die Gnade, das<br />

„Haus zu dem Goldenen Vlies“, das die „heile Ordnung“ enthält. Ist das Schreiben<br />

hier als Gottesdienst, als Erinnerungsarbeit, als Spuren-Verwischen, als<br />

Maskierung zu verstehen?, fragt Hilzinger. In der Erklärung Langgässers ihrer<br />

Tochter Cordelia gegenüber, dieser Roman sei „ein Versuch, die verschiedenen<br />

deutschen Häresien, die typisch deutschen Sünden in verschiedenen Schicksalen<br />

darzustellen“, sieht die Biografin das ins Unkenntliche verallgemeinerte<br />

Bekenntnis der Schuld, ihre eigene Tochter nicht bewahrt haben zu können vor<br />

Verfolgung, Deportation und Konzentrationslager.<br />

Immer wieder in der Lebensgeschichte Langgässers ist ihre Beziehung<br />

zur Tochter Cordelia erörtert worden – und auch Hilzinger wendet sich diesem<br />

beklemmenden Kapitel besonders zu. Weil sonst ein Judenstern an der Haustür<br />

kleben würde, musste Cordelia damals aus dem Haus. In ihren damaligen Briefen<br />

beschönigte die Dichterin die Situation. Langgässer erfuhr <strong>19</strong>46, dass ihre<br />

Tochter überlebt hatte, aber erst drei Jahre später sahen sie sich wieder. Beide<br />

Biographien – die der Mutter wie der Tochter – korrigieren sich gegenseitig. Die<br />

rückblickende Perspektive Cordelias wirft doch ein anderes Licht auf Langgässer.<br />

Die Berichte der Tochter nutzte dann die Schriftstellerin für ihre literarische<br />

Arbeit. Versuchte sie als Schreibende eine emphatische Annäherung an deren<br />

Leid? Wollte sie als Schuldige Buße tun und Vergebung erlangen? Aber warum<br />

verschwieg sie, dass es sich um die Notizen der eigenen Tochter handelt?<br />

Hier spricht Hilzinger deutliche Worte. Schon die uneheliche Schwangerschaft<br />

und die jüdische Herkunft waren für die junge Langgässer Makel, die man<br />

am Besten wohl verschwieg. In der weiblichen Familienlinie – bei der Mutter<br />

der Dichterin wie auch bei ihr selbst – wiederholte sich nicht nur die uneheliche<br />

Schwangerschaft, sondern auch das „Muster“ der Rettung der durch einen Makel<br />

„entwerteten“ Frau durch einen Mann, Wilhelm Hoffmann, der sie „trotzdem“<br />

liebt. Ihrem Selbstverständnis als Frau und Katholikin entsprechend ersehnte<br />

sich Langgässer einen „priesterlichen“ Mann, der sie, die „gefallene Natur“,<br />

erlöst. Dagegen begriff Cordelia, dass sie einer anderen Gemeinschaft, der ihrer<br />

jüdischen Mithäftlinge, zugehörte. Sie fand ihre Identität als Überlebende der<br />

Shoa, als Jüdin – nicht im religiösen Sinne, sondern in ihrer Zugehörigkeit zu<br />

einer Leidensgemeinschaft. Jahrzehnte nach dem Tod der Mutter schrieb Cordelia<br />

Edvardson ihre Geschichte auf, in dem Roman Gebranntes Kind sucht das

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