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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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22<br />

Barbara Wróblewska<br />

der Geschlechterliebe, die bei Stifter ein immer wiederkehrendes Thema seiner<br />

Dichtung darstellt. Nach Joachim Storck ist dieser Hang zur Verschleierung des<br />

Erotischen eine wirklichkeitsbedingte Notwendigkeit:<br />

Das Zeitalter des Biedermeier oder des Vormärz [...] hatte in der Tat besonders viele<br />

Widerstände aufgebaut, mit denen die damals wie zu allen Zeiten sich kundtuende<br />

erotische Spannung zu rechnen hatte. [...] Nicht nur die erotische Praxis, sondern<br />

auch alles fiktive und gelehrte Schreiben hatte sich an diesen Widerständen zu<br />

messen oder innerhalb ihrer Grenzen einzurichten. Diese Wirkungen konnten einschränkend,<br />

aber auch verfeinernd sein. Unter repressiven Bedingungen liest man<br />

aufmerksamer, entschlüsselt sorgfältiger das Angedeutete, ergänzt das Ungesagte.<br />

Und man bemerkt, solchermaßen sensibilisiert, daß bei Stifter am Ende doch mehr<br />

gesagt und enthalten ist, als ein nur oberflächlicher Blick zu enthüllen vermag. 3<br />

Sorgfältiges und zunehmendes Vermeiden jeder Direktheit und Spontaneität mag<br />

einen Grund auch in dem ambivalenten Verhältnis des Dichters zur Erotik haben.<br />

In der Gestaltung der Liebesproblematik zeichnet sich bei Stifter nämlich ein auffälliger<br />

Widerspruch ab. Einerseits wird die Liebe als Einheit von geistigem und<br />

sinnlichem Element, als Zusammenklang von Eros und Agape 4 wahrgenommen,<br />

andererseits erfahren die Helden ihre erotischen Wünsche als etwas „Fremdes<br />

und Feindliches“ 5 . Kein Wunder also, dass bei Stifter, der in seinem Privatleben<br />

selbst unter der unüberbrückbaren Kluft zwischen der Idealliebe und geschlechtlich<br />

orientierten Wirklichkeit gelitten hat, so viele Liebesbeziehungen erst durch<br />

sexuelle Enthaltung eine neue Dimension gewinnen. Und welcher Stellenwert in<br />

Stifters Dichtung der enthaltsamen Liebe zukommt, wird vornehmlich in seiner<br />

Lieblingsnovelle Die Mappe meines Urgroßvaters sichtbar.<br />

Den Kern der Erzählung bildet die Lebensschilderung des jungen Arztes<br />

Augustinus, der nach abgeschlossenem Medizinstudium in seinen Heimatort<br />

zurückkommt, sich im Beruf etabliert und in der Tochter seines Nachbarn eine<br />

künftige Gattin gewinnt. Dem Erwerb persönlichen Glücks muss bei ihm allerdings<br />

noch ein langwieriger Prozess der sittlichen Selbstvervollkommnung vorausgehen.<br />

Als frisch gebackener Absolvent der Heilkunde lässt sich Augustinus<br />

3<br />

Joachim W. Storck: Eros bei Stifter. In: Hartmut Laufhütte u. Karl Möseneder (Hgg.): Adalbert<br />

Stifter: Dichter und Maler, Denkmalpfl eger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk.<br />

Tübingen <strong>19</strong>96, S. 135−156, hier S. 137.<br />

4<br />

Kurt Fischer: Die Pädagogik des Menschenmöglichen. Linz <strong>19</strong>62, S. 300.<br />

5<br />

Wolfgang Lukas: Geschlechterrolle und Erzählerrolle. In: Adalbert Stifter: Dichter und<br />

Maler, Denkmalpfl eger und Schulmann, S. 374−394, hier S. 384.

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