Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19
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Zukunftstechnologien für die Nachwendejahre … 121<br />
sie in der Eiskremproduktion im Backwarenkombinat und nach der Wende in<br />
der Firma „Väterchen Frost“, deren Auto sie eines Tages absichtlich gegen einen<br />
Baum fährt, weil sie die Qualität des Eises nicht mehr ertragen konnte. Kritik am<br />
Kapitalismus äußert sich ebenfalls in ihrem Verhalten, an das sich die Stammgäste<br />
der Lieblingsgaststätte Annjas erinnern:<br />
Sie regte sich über den Ausverkauf der Gegend und insbesondere über die rüden<br />
Methoden der Hausbesitzer auf, die die angestammten Mieter der Gegend durch<br />
Luxussanierungen verdrängen würden. (ME 285)<br />
Der eingefrorene Vater, das Moskauer Eis oder die symbolträchtige Kaninchenfelljacke,<br />
die Annja in der Erzählergegenwart in Magdeburg trägt, sind ironisch-sarkastische<br />
Metaphern für die Bindung der Menschen an die sozialistische<br />
Utopie auch in der Nachwendezeit. Der Sarkasmus während der Lektüre entsteht<br />
durch die Bagatellisierung der Ideale, das heißt: die allmähliche Verengung ihrer<br />
Dimensionen, und durch die ernsthafte Bindung der Figuren an diese Ersatzvorstellungen.<br />
Die aufrichtige Begeisterung Annjas für das Moskauer Eis in den<br />
Nachwendejahren enthält aber eben wegen der nun belanglosen Ersatzfunktion<br />
der Eissorte auch nostalgische Elemente und zeugt von schmerzhaftem Verlust.<br />
Dieser Nostalgie steuert die komisch wirkende Bagatellisierung entgegen, durch<br />
die diese Bindung aus der Perspektive der Figuren tragikomische Züge zeigt.<br />
Annja kann sich allerdings, auch wenn sie mit vielen Umständen nach der<br />
Wende nicht einverstanden ist, und sich manchmal empört, in den Neunzigern<br />
doch behaupten. Dem Roman wird am Ende ein Polizeiprotokoll beigelegt, in<br />
dem sich herausstellt, dass Annja nach dem Tod der Oma eine Firma gegründet<br />
hat, die sich auf die Herstellung der Sorte ‘Moskauer Eis’ spezialisiert hat.<br />
Außerdem werden dort die Worte des Freundes von Annja zitiert, nach denen die<br />
„bevorzugten Themen ihrer Diskussionsabende Zukunftstechnologien gewesen<br />
seien“ (ME 285). Dabei geht es um den wissenschaftlichen Versuch, Menschen<br />
einzufrieren, was wahrscheinlich diskutiert wird, weil ja auch Klaus sich selbst<br />
eingefroren hatte. Diese Technologien können aber auch als Metaphern für die<br />
Rettung der Ideale von Annja und Klaus verstanden werden, die mit einer Hoffnung<br />
auf die bessere Zukunft verbunden sind.<br />
Im Hintergrund der ironisch-kritischen Annäherung an die DDR-Zeiten in<br />
Moskauer Eis kommt ein Sarkasmus zum Ausdruck, der von schmerzhaften Brüchen<br />
in der jüngsten Vergangenheit zeugt. Dieser Rückblick auf die Geschichte