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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Valéria Lengyel<br />

binat: das „hieß jetzt Backwunder“ (ME 267). Annja erwähnt die Umbenennung<br />

der Kaufhalle und aufgrund der konsequenten Schreibung in Majuskeln kommentiert<br />

sie bereits die Umbenennung ironisch: „SUPER-Markt“ (ME 267). Mit<br />

den zwei Beispielen –„Backwunder“ mit dem märchenhaften Element „Wunder“<br />

und „SUPER-Markt“ mit der schriftlichen Betonung des Bestimmungswortes<br />

„super“ kann Kritik am Konsumfetischismus ausgedrückt werden.<br />

Aber nicht nur die Gegenstände der DDR-Zeit sind weg, sondern die ganze<br />

Vergangenheit scheint plötzlich verschwunden zu sein. Annja träumt einmal<br />

von einer TV-Show, in der sie die Gesprächspartnerin des Moderators ist. Die<br />

Sprache des Mannes und die Gestaltung des Programms erinnern an die Oberflächlichkeit<br />

solcher Shows. Die Teilnehmerin Annja muss eine Minute in einer<br />

Tiefkühltruhe verbringen, um eine Verwandlung zu erleben. Danach fragt der<br />

Mann sie: „Und Frau Kobe, haben Sie Ihre Geschichte abgelegt?“ (ME 274) Da<br />

eine Minute für Annja nicht ausreichend schien, rät ihr der Reporter:<br />

In diesem Falle, Frau Kobe, sollten Sie es mit fünf Minuten probieren. Fünf Minuten<br />

Schockgefrieren, und die Vergangenheit fällt ab wie eine alte Haut. (ME 274)<br />

Im Rahmen einer fiktionalen sarkastischen Show erfolgt das Ablegen der Vergangenheit,<br />

indem es als ein vom Westen öffentlich geforderter Akt dargestellt<br />

wird, der plötzlich und schmerzhaft geschieht.<br />

Wie schmerzhaft das Verschwinden der Vergangenheit sein kann, zeigt<br />

Annjas Fixierung auf die Vergangenheit, indem der unumgängliche Rückblick<br />

sogar als ein Rettungsversuch der eigenen Vergangenheit betrachtet werden kann.<br />

Die Vergegenwärtigung damaliger Ereignisse beweist in jedem Fall ihr Unbehagen<br />

in der Gegenwart. Ihre Situation bietet kaum einen Anlass zur Freude. Sie<br />

pflegt die im Sterben liegende Großmutter Else in ihrer Wohnung, in der sie auch<br />

den eingefrorenen Klaus in der Tiefkühltruhe versteckt und spricht manchmal<br />

den leblosen Vater an. Die arbeitslose Eisverkäuferin Annja hat kein Geld, um<br />

das Zimmer zu beheizen oder ausreichend Essen für die Oma und sich zu besorgen,<br />

denn sie erhält jetzt kein Arbeitslosengeld und kann wegen der Pflege nicht<br />

arbeiten gehen.<br />

Annja hat nur das Abitur, weil sie wegen öffentlich geäußerter Kritik an der<br />

DDR nicht studieren konnte. Als ihr der Staat zur Versöhnung die Mitarbeit bei<br />

der Stasi anbietet, lehnt sie sofort ab, verlässt ihre Heimatstadt und zieht allein<br />

nach Berlin, wo sie als Eisverkäuferin Moskauer Eis verkauft. Danach arbeitet

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