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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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114<br />

Valéria Lengyel<br />

betrifft die realitätsfernen Vorstellungen des Vaters auf der einen Seite und Wissenschaftlichkeit<br />

selbst auf der anderen.<br />

Aus dieser Mutter wird allerdings später die Kulturwissenschaftlerin, die<br />

als Erste mit einem feministischen Thema promovierte: „Als die Wende kam,<br />

gründete sie einen unabhängigen Frauenverband.“ (ME 263) Da Annja keine<br />

feministischen Ansichten hat und über das weitere Schicksal und die Karriere<br />

Barbaras distanziert erzählt, wird Feminismus nicht als eine erstrebenswerte<br />

Verhaltensweise dargestellt. Der feministischen Kulturwissenschaftlerin wirft<br />

Annja ebenfalls Lebensferne und Besessenheit vor, wie Barbara einst ihrem<br />

Mann.<br />

Dennoch ist Barbara die einzige Figur, die sich in ihrem Leben verändern<br />

kann und sich mit den jeweiligen Umständen nicht abfindet. Klaus’ Verhalten<br />

betrachtet sie außerdem als ein stilles Einverständnis mit den offensichtlich<br />

verlogenen Umständen in der DDR. Die Figur der ihre Kritik offen bekennenden<br />

Mutter erscheint im Vergleich mit anderen Texten der Nachwendeliteratur interessant.<br />

Thomas Brussig hat die DDR in Helden wie wir als eine sorgende Mutter<br />

dargestellt, von deren Allgegenwärtigkeit der Sohn flieht. In der Emanzipation<br />

des Sohnes erscheint diese „Übermutter“ 15 als Last der Vergangenheit und wird<br />

der Lächerlichkeit ausgesetzt. In Moskauer Eis dagegen werden Mütter als positive<br />

und „vertrauenswürdige“ (ME 253) Figuren dargestellt. Die zwei Romane<br />

sind verschiedene Positionen dazu, in welcher Beziehung eine Mutterfigur in<br />

literarischen Texten – als Symbol des Lebens – zur DDR stehen kann.<br />

Im Gegensatz zur einzig erfolgreichen Karriere Barbaras sind die anderen<br />

Figuren in Alltagsschwierigkeiten verwickelt, auch ihre Tochter Annja gehört<br />

zur Generation, die in den Sechzigern geboren wurde, deren Sozialisation also<br />

noch in den sozialistischen Jahren erfolgte und deren erste Berufserlebnisse<br />

wahrscheinlich aus dieser Zeit stammen. Von Annjas derzeitiger Situation wird<br />

ein trostloses Bild vermittelt. Sie ist eine allein stehende, arbeits- und mittellose<br />

Eisverkäuferin, die die Verhältnisse der Neunziger im Großen und Ganzen zwar<br />

lakonisch annimmt, aber manchmal vor Erregung über die neuen Missstände<br />

doch außer sich gerät und zum nostalgischen Rückblick auf die DDR-Zeit neigt.<br />

Dieser Rückblick liegt der Erzählsituation zugrunde, aus der die erzählte Zeit<br />

immer wieder in die DDR-Vergangenheit entrückt wird. Trotz der vielseitigen<br />

15<br />

Vgl. dazu: Achim Geisenhanslüke: Abschied von der DDR. In: Arnold (Hg.): DDR-Literatur<br />

der neunziger Jahre, S. 85.

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