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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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Zukunftstechnologien für die Nachwendejahre … 111<br />

Im Prinzip konnte man alles einfrieren, Muttermilch, Tote, Erbsen, Bohnen, Spargel,<br />

die ganze DDR-Landwirtschaft, Fleischwirtschaft, Marmor, Stahl und Eisen,<br />

Akten, überhaupt hätte man die ganze ehemalige DDR mit einer Kühlzelle überbauen<br />

und sie konservieren können. (ME 29)<br />

Die Ironie dieser Textstelle kommt durch das Verb ‘einfrieren’ zum Ausdruck,<br />

das wegen der verschiedenen Objekte mal in konkreter, mal in übertragener Bedeutung<br />

zu verstehen ist. Das ‘Einfrieren’ der Landwirtschaft oder der Akten<br />

könnte für das Stocken der wirtschaftlichen Entwicklung bzw. für die Verhinderung<br />

des Informationsaustausches stehen. So werden die Verhältnisse des sozialistischen<br />

Staates in diesem Bild des ‘Einfrierens’ begriffen, das mit anderen<br />

Metaphern – wie z. B. mit ‘Moskauer Eis’ – nicht zuletzt den Bezug zum Kalten<br />

Krieg 11 herstellt.<br />

Während Annja nach den Gründen für Klaus’ Zustand forscht, wird ein<br />

vielseitiges Bild der DDR und der Geschichte der Familie Kobe sichtbar. Über<br />

drei Generationen hinweg werden Ereignisse von <strong>19</strong>47 bis zur Erzählergegenwart,<br />

dem Jahr <strong>19</strong>95 dargestellt. Wie der Vater Klaus war auch der Großvater<br />

Paul Kobe Kälteingenieur. Er verwaltete das Kälteinstitut bis <strong>19</strong>61. Bis zur<br />

Abwicklung <strong>19</strong>91 wird sein Sohn der Institutsleiter. Der Großvater beginnt<br />

in den fünfziger Jahren den Ausbau der Kühlkette, was für den Aufbau des<br />

Sozialismus stehen könnte. Paul Kobe scheint weniger ehrlich und starrsinnig als<br />

sein Sohn zu sein. Um sich, die Familie und das Kälteinstitut zu retten, zieht er<br />

als Kriecher Nutzen aus den jeweiligen Verhältnissen. Anhand seines Beispiels<br />

wird dargestellt, wie sich Menschen den jeweils aktuellen politischen Systemen<br />

anpassen und Mitläufer werden. Nur dadurch sollte in dem jeweiligen System<br />

eine Karriere möglich sein, was auch der Hausarzt beklagt:<br />

Ja, ja, Haltungsschäden, das kommt davon, daß man sich in diesem Land immer<br />

so verkrümmen muß, um aufrecht zu gehen 12 . (ME 200)<br />

11<br />

An dieser Stelle soll auf den Bezug der Hauptmetapher in Moskauer Eis zu der historischen<br />

Metapher ‘Tauwetter’ hingewiesen werden. Dieser Begriff wurde im Anschluss an Ilja Ehrenburgs<br />

Roman für die Periode der Entspannung nach der Chruschtschow-Rede <strong>19</strong>56 geprägt. Zum<br />

Begriff ‘Tauwetter’ vgl. z. B.: Wolfgang Templin: Tauwetter: Die Ereignisse des Jahres <strong>19</strong>56 und<br />

die demokratische Opposition im Sowjetblock. In: Dialog. Deutsch-Polnisches Magazin <strong>Nr</strong>. 76<br />

vom 01.01.2007. Verfügbar über: http://www.wtemplin.de/texte/Zeitungsartikel/ Tauwetter.htm<br />

(Zugriff am 21.09.2009).<br />

12<br />

Zum Stichwort ‘aufrechter Gang’ vgl. Stefan Heyms Rede am 4.11.<strong>19</strong>89, der diesen Gang eine<br />

der wichtigsten Errungenschaften der Wende nennt. Siehe dazu: Hannes Bahrmann, Christoph<br />

Links: Chronik der Wende. Berlin 3 2000.

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