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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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110<br />

Valéria Lengyel<br />

DIE EINGEFRORENEN IDEALE – DDR-KRITIK<br />

Während Annja ihre Oma pflegt, versucht sie mindestens eine Erklärung für<br />

den Zustand ihres Vaters zu finden. Sie vergegenwärtigt ihre Erinnerungen an<br />

ihn und forscht nach den Umständen der Institutsabwicklung. In ihren Lebenserinnerungen<br />

stellt sich allmählich heraus, dass Vater und Tochter eine sehr enge<br />

Beziehung hatten. Nachdem die Mutter ausgezogen war, lebten sie nur noch zu<br />

zweit. Außerdem hat Annja ähnliche Charakterzüge wie ihr Vater: Beide sind<br />

starrsinnige Eigenbrötler mit einem Hang zu Utopien. Klaus Kobe hat sein ganzes<br />

Leben der Entwicklung der Tiefkühltechnik und der Leitung des Kühlinstituts<br />

gewidmet. Er kannte keinen Feierabend und betreute Tiefkühlversuche zur<br />

Entwicklung der Methoden auch zu Hause. „Wir waren doch seine Versuchskaninchen“<br />

10 , sagt Annja über sich und ihre Mutter. Mit seiner Arbeit wollte Klaus<br />

die Aufgaben der „sozialistischen Arbeiterfrauen“ (ME 95) erleichtern und die<br />

Kühlkette landesweit ausbauen lassen. So kann die Vaterfigur durchaus als Vertreter<br />

eines wohl utopischen Denkens betrachtet werden, das sich speziell auf<br />

seinen Bereich des Tiefkühlingenieurwesens richtet. Seine Utopie ist dabei vielleicht<br />

weniger politisch und setzt dennoch den Wert des Gemeinschaftsgefühls<br />

und des hingebungsvollen Arbeiters an eine wichtige Position. Durch die Darstellung<br />

seines Schicksals ist nachvollziehbar, wie die Kluft zwischen den sozialistischen<br />

Idealen und der tatsächlichen politisch-wirtschaftlichen Wirklichkeit<br />

immer tiefer wird. Mit der wirtschaftlichen Rezession der siebziger Jahre<br />

muss er nämlich seine Tätigkeit vom Tiefkühlen verschiedener Produkte und<br />

von vielfältigen Methodenexperimenten einschränken. Nach einigen Eisexperimenten<br />

entdeckt er das Rezept für das Moskauer Eis und beschäftigt sich weiterhin<br />

mit Eisherstellung. Nach der Wende wird allerdings das Tiefkühlinstitut<br />

geschlossen und Annja findet ihren Vater eingefroren in seiner Lieblingstiefkühltruhe.<br />

Dennoch ist er wahrscheinlich nicht tot. Annja vermutet, dass er auf<br />

bessere Zeiten hofft, was auf der Ebene der Metaphorik die Verwirklichung der<br />

Ideale in der Zukunft bedeuten könnte.<br />

Die Metapher des Tiefkühlens zeigt aber nicht nur das Scheitern sozialistischer<br />

Ideale, sondern deutet auch auf andere Missstände der DDR hin:<br />

10<br />

Annett Gröschner: Moskauer Eis. Berlin 2 2000, S. 88. Im Folgenden zitiert als ME mit der<br />

Seitenzahl.

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